«Architektur ist immer auch eine Bühne»

09.11.2020 Gastreferat von Prof. Dr. Dieter Schnell zur Diplomübergabe Bachelor Architektur.

Liebe Absolventinnen und Absolventen

Aus Sizilien bringe ich eine Aufnahme des vor rund 2’500 Jahren errichteten griechischen Theaters von Syrakus mit. Es soll unserem Nachdenken über Architektur auf dreierlei Weise einen Anstoss geben.

Zunächst zeigt es, dass Architektur nicht zwingend eine Konstruktion aus zusammengefügtem Material sein muss, besteht es doch selbst nicht aus aufeinander geschichteten Steinen, sondern ist aus dem Felsen herausgeschlagen. Das Objekt ist also nicht das Resultat von Hinzufügungen, sondern das, was man vom Felsen hat stehen lassen. Architektur kann demnach auch entstehen, indem man ganz gezielt Material wegnimmt und abträgt. Interessant ist dabei, dass der Bereich, wo die Menschen in das Vorgefundene eingegriffen haben, noch immer genau ablesbar ist, weil sie bei ihrem Werk eigene Formen – hier den Kreis – den Formen der Natur entgegengehalten haben. Das Menschenwerk stellt sich der Natur aber nicht nur entgegen, sondern geht mit ihr eine Verbindung ein, indem die Lage der Anlage ganz gezielt auf die Landschaft und den Ausblick abgestimmt ist.

Zweitens zeigt das Bild eine Bühne. Vor uns steht der Ort, an dem die unterschiedlichsten Theaterstücke gespielt worden sind. Meist weniger direkt, im übertragenen Sinn aber ganz bestimmt, ist Architektur immer eine Bühne. Eine Bühne unseres alltäglichen Lebens, unserer Begegnungen, unseres Handelns und Arbeitens, aber auch unserer Freizeit und unserer Vergnügungen. Diese Funktion, als Bühne zu dienen, macht das Entwerfen von Architektur schwierig. Inwieweit soll diese Bühne bloss den Hintergrund unseres Lebens bilden, wie stark soll sie sich bemerkbar machen oder gar aufdrängen? Eine Bühne zu entwerfen, setzt voraus, dass man sich das zukünftige Leben vorstellen kann. Gleichzeitig gilt es aber auch, das Kommende nicht über Gebühr vorwegzunehmen und einzuschränken und die Menschen damit zu gängeln oder gar zu bevormunden. Die Bühne soll offen sein für die unterschiedlichsten Stücke, soll diese aber gleichzeitig unterstützen und womöglich in ihrer Wirkung stärken.

Die Erfindung des antiken, griechischen Theaters war ein ganz wichtiger Schritt in der kulturellen Entwicklung der Menschen. Wohl aus religiösen Kulthandlungen entstanden, befreiten sich die Stücke von dieser Bindung und thematisierten das menschliche Leben selbst. Das Sprechen und Handeln, das Lieben und Hassen wurde zum Objekt der Betrachtung: Man nahm das eigene Leben nicht mehr einfach hin, sondern befragte und hinterfragte es. Indem das Theater den Menschen den Spiegel vorhielt, zwang es sie zur Selbstreflexion.

Diese Selbstreflexion ist für das Entwerfen von Architektur zwingend. Ohne Selbstreflexion wiederholen unsere Bauwerke nur das, was wir ohnehin schon haben. Nur ein stetes Hinterfragen unserer Lebenszusammenhänge lässt die daraus resultierende Architektur zu dem werden, was wir wirklich brauchen: Eine anregende und damit lebenswerte bauliche Umwelt. Wie sagte es doch der Schweizer Philosoph Ludwig Hasler in seinem Buch «Des Pudels Fell»: «Nicht bloss abchecken, wie viele Quadratmeter so ein Idiot zum Schlafen, Essen, Fernsehen braucht? Sondern: Was braucht so ein Idiot, um vielleicht keiner mehr zu sein?»

Ich wünsche den jungen Architektinnen und Architekten in ihrem Beruf viel Erfolg.

Prof. Dr. Dieter Schnell
Professor für Kulturtheorie und Denkmalpflege
Leiter MAS Denkmalpflege und Umnutzung

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