Advanced Practice: Die Handlungsfelder der Absolvent*innen

27.09.2022 Gesundheitsfachpersonen mit Advanced-Practice-Rollen finden zunehmend ihren Platz in der Schweizer Gesundheitsversorgung. Mit ihrem fundierten Fachwissen können sie selbstständig eine hohe Verantwortung in verschiedenen Fachbereichen übernehmen. Eine Übersicht zu den Handlungsfeldern.

Mit ihrer akademischen Ausbildung auf Master- oder Doktoratsniveau verfügen Advanced Practitioners meist über Kompetenzen in spezialisierten Bereichen. In ihren Handlungsfeldern werden entsprechend differenzierte Problemlösefertigkeiten gefordert (nqf.ch-HS, 2011; Parlament et al., 2008). Im «Europäischen Qualifikationsrahmen» (EQR) (Parlament et al., 2008), der als Grundlage für den «Nationalen Qualifikationsrahmen für Berufsbildung» (V-NQR-BB, 2014) und den nationalen Hochschulrahmen (NQR-HS) (nqf.ch-HS, 2011) genutzt wurde, wird die Kompetenz im Sinne der Übernahme von Verantwortung und Selbstständigkeit beschrieben. Auf Masterstufe bedeutet dies «Leitung und Gestaltung komplexer, unvorhersehbarer Arbeits- oder
Lernkontexte, die neue strategische Ansätze erfordern; Übernahme von Verantwortung für Beiträge zum Fachwissen und zur Berufspraxis und/oder für die Überprüfung der strategischen Leistung von Teams» (Parlament et al., 2008). Zusätzlich wurden von den Berufskonferenzen der «Fachkonferenz Gesundheit» für die jeweiligen Master-Studiengänge Abschlusskompetenzen formuliert.

Advanced Practice Nurse (APN)

Advanced Practice Nurses zeichnen sich folgendermassen aus: Sie haben die Fähigkeit, komplette Pflegeepisoden und komplexe Gesundheitsprobleme zu managen, eine breite Autonomie, ein Fallmanagement auf fortgeschrittenem Niveau sowie fortgeschrittene Fähigkeiten in den Bereichen Beurteilung, Urteilsvermögen, Entscheidungsfindung und diagnostische Argumentationsfähigkeit (Schober et al., 2020). Dies hauptsächlich in der Betreuung von chronisch und mehrfacherkrankten Personen in der Grundversorgung sowie auch im stationären spezialisierten Bereich.

Ilona Hänni, Advanced Practice Nurse, Viszeralchirurgie


Die Betreuung von Patient*innen nach einem komplexen chirurgischen Eingriff verlangt Fachexpertise von allen Beteiligten in der Betreuung. Eigenverantwortlich übernimmt Ilona Hänni als APN auf der Viszeralchirurgie Aufgaben in der klinischen Einschätzung und Beurteilung, der Diagnosestellung, der Überwachung des Gesundheitszustandes sowie der optimalen Gestaltung und Überprüfung des Therapie- und Behandlungsplans. Nebst dem täglichen Coaching der Pflegefachpersonen führt sie interne Fachweiterbildungen durch, um die Pflegequalität und Patient*innensicherheit zu gewährleisten.

 

Advanced Practice Midwife (APM)

Mit ihrem Positionspapier zur Advanced Midwifery Practice im schweizerischen Kontext (Ammann-Fiechter et al., 2021) hat die Berufskonferenz Hebamme der «Fachkonferenz Gesundheit» jüngst einen Meilenstein in der Entwicklung des Berufsfelds von Advanced Practice Midwifes (APM) gelegt. Im Positionspapier wird die Dringlichkeit der Entwicklung und Etablierung spezialisierter Hebammenrollen zur Erhaltung einer hohen Versorgungsqualität in einer zunehmend komplexen geburtshilflichen Versorgung beschrieben. Ebenso formulieren die Autor*innen eine Definition einer APM, die explizit fundiertes Fachwissen in einem bestimmten Praxisbereich, Forschungskompetenz, Frauen- und Familienzentrierung in komplexen klinischen Situationen und ein hohes Mass an Autonomie und Verantwortung in der Behandlung umfasst.

Lena Sutter, Advanced Practice Midwife, Frauenklinik des Inselspitals Bern


Lena Sutter arbeitet als APM im spezialisierten Bereich der perinatalen psychischen Gesundheit. Sie erarbeitete und implementierte ein systematisches Screening auf psychische Belastung aller Frauen der klinikinternen Schwangerenvorsorge. Seit 2021 wird das Angebot von der APM in Zusammenarbeit mit der Psychiaterin der Universitären Psychiatrischen Dienste (UPD) interprofessionell geleitet. Bei Auffälligkeiten im Screening führt die APM eine Beratung und ein erweitertes Screening durch um bei Bedarf weitere Behandlungsoptionen in Zusammenarbeit mit den UPD zu initiieren. Ebenso zieht die stationäre Psychiatrie Lena Sutter konsiliarisch bei, wenn beispielsweise Fragen des Stillmanagements bei Frauen mit einer postpartalen Psychose geklärt werden müssen.

Advanced Practice Physiotherapy (APP)

Advanced-Physiotherapy-Practitioner-Rollen sind seit einigen Jahren vor allem in englischsprachigen Ländern weit verbreitet (Caffrey et al., 2019; Tawiah et al., 2021). In Grossbritannien beispielsweise führte die frühzeitige Behandlung durch APP zu erheblichen Verbesserungen der Gesundheit, sodass viele Patient*innen keine orthopädische Chirurgie aufsuchen mussten. Infolgedessen wurden APP für das Lesen von Bildgebungsdaten, das Verschreiben und die Verabreichung von Medikamenten ausgebildet und zugelassen. Auch in der Schweiz können durch APP Engpässe in der medizinischen Versorgung im Akutspital vermindert werden (Oesch et al., 2019). In ihrem Positionspapier beschreibt Physioswiss, wie APP bei komplexen Patient*innensituationen gewinnbringend eingesetzt werden können, um so den demografischen Herausforderungen zu begegnen (Physioswiss, 2018).

Seraina Liechti, Advanced Physiotherapy Practitioner


Seraina Liechti ist in einer Hausarztpraxis in Zweisimmen als APP tätig und übernimmt Aufgaben ausserhalb der klassischen Physiotherapie. Dabei triagiert sie beim Erstkontakt Patient*innen mit muskuloskelettalen Beschwerden. Sie entscheidet nach der Befundaufnahme über das weitere Prozedere wie beispielsweise ambulante Physiotherapie, bildgebende Diagnostik oder Verordnung von Schmerzmedikation. Die Evaluation dieser APP-Rolle im Rahmen eines Pilotprojekts hat gezeigt, dass die beteiligten Fachpersonen und Patient*innen dieses Modell vor dem Hintergrund des Hauspraxismangels als zukunftsorientiert erachten.

Advanced Practice Dietitian (APD)

Während im Ausland Advanced-Practice-Dietitian-Rollen bereits vielzählig implementiert wurden, etablieren sie sich in der Schweiz erst noch. Diese Entwicklung ist auch den noch jungen Master-Studiengängen in Ernährung und Diätetik geschuldet, die auf solche Rollen vorbereiten. Der Schweizerische Verband der Ernährungsberater*innen SVDE hat eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die sich mit APD-Rollen im klinischen Bereich beschäftigt. Durch die Handlungsfelder von APD sollen Schnittstellen im stationären wie auch im ambulanten Bereich optimiert werden. Zu den Aufgabengebieten der APD zählen u.a. spezialisierte ernährungstherapeutische
Patient*innenbetreuung mit Fallverantwortung, Leitlinienentwicklung und Forschungstätigkeiten (Bürki & Zimmermann, 2019).

Gioia Vinci, Therapieexpertin Ernährung Intensivmedizin APD, Klinik Hirslanden, Zürich


Für die Arbeit als APD auf der Intensivstation werden spezialisierte Fachkenntnisse, ethische Entscheidungsfindung, eine hohe Kommunikationsfähigkeit und interprofessionelle Zusammenarbeit benötigt. Gioia Vinci führt nach einem ausführlichen Ernährungsassessment der Patient*innen auf der Intensivstation eine an die Krankheitssituation angepasste, individuelle Ernährungstherapie durch, nimmt an Rapporten und Visiten teil und ist somit ein Bestandteil des Intensivbehandlungsteams. Zudem sichert sie eine kontinuierliche Ernährungstherapie
während der gesamten Hospitalisation und führt Intervisionen sowie Weiterbildungen durch. Da die Rolle und somit auch das Kompetenzprofil neu ist, wird sie stetig angepasst und, angelehnt an Modelle aus dem Ausland, weiterentwickelt.

Absolvent*innen in Pionierrollen

Die Beispiele zeigen die jeweiligen Handlungsfelder im spezialisierten Bereich, der von Gesundheitsfachpersonen mit Advanced-Practice-Rollen neben dem fundierten Fachwissen eine hohe Verantwortung und Selbstständigkeit erfordert. Das Kompetenzniveau auf Masterstufe zeichnet sich durch die Leitung und Gestaltung komplexer, unvorhersehbarer Arbeitskontexte (Parlament et al., 2008) oder durch das Anwenden von Problemlösungsfähigkeiten innerhalb multidisziplinärer Kontexte (nqf.ch-HS, 2011) aus. Aufgrund der teilweise noch jungen Advanced-Practice-Rollen liegt der Fokus auf der Klärung der jeweiligen Rollenidentitäten und deren nachhaltiger sowie aufgabenorientierter und kompetenzbasierter Implementation. Die Handlungsfelder zeigen auch Abgrenzungen zu Rollen, welche nach der Berufsbefähigung auf Ebene Bachelor oder Höherer Berufsbildung stattfinden. Diese verfügen über Kompetenzen, die durch das Formulieren und Untermauern von Argumenten und das Lösen von Problemen in ihrem Studienbereich demonstriert werden (nqf.ch-HS 2011) bzw. zum reibungslosen Ablauf der eigenen Arbeitsprozesse und zu strategischen Ergebnissen im Betrieb führen (V-NQRBB 2014). Die Absolvent*innen der Berner Fachhochschule übernehmen vielmals Pionierrollen in den jeweiligen Organisationen. So müssen sich auch die Organisationen entsprechend weiterentwickeln, um für Advanced-Practice-Rollen bereit zu sein.

Fokus Gesundheit zum Thema Advanced Practice

Erweiterte Rollen in der Gesundheitsversorgung: Was braucht's und was bringt's?


Am Symposium Fokus Gesundheit sprechen wir mit Menschen aus der Praxis, Gesundheitspolitiker*innen wie auch Behördemitgliedern über die Advanced-Practice-Rollen: Was bringen sie und was braucht es für ihre Implementierung?

01.12.2022, 17.30–19.30 Uhr – National Bern (Theatersaal), Hirschengraben 24, 3011 Bern

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Gesundheitsmagazin «frequenz»

Dieser Beitrag ist Teil der September-Ausgabe 2022 unseres Magazins «frequenz».

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