Von Generation zu Generation: die Folgen früherer Zwangsmassnahmen

16.09.2022 Ein Forschungsteam hat untersucht, wie sich frühere fürsorgerische Zwangsmassnahmen auf Töchter und Söhne Betroffener auswirkten. Die Ergebnisse zeigen, dass die Nachkommen belastende bis schädigende Kindheiten erlebt haben und wie sie daran arbeiten, damit keine Drittgeneration Betroffener entsteht.

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©iStock, onebluenight

Bis in die 1980er-Jahre wurden in der Schweiz zahllose Kinder und Jugendliche auf Bauernhöfen als billige ArbeitskräŠe verdingt, auf behördliche Anweisung in Erziehungsanstalten, geschlossenen Einrichtungen oder in Pflegefamilien untergebracht. Wie wir heute aufgrund der gesellschaŠlichen, politischen und wissenschaftŠlichen Aufarbeitung wissen (z.B. Hauss et al., 2018; Furrer, 2014; Germann & Odier, 2019; Ziegler et al., 2018), haben viele Betroffene grosses Leid und Unrecht erlitten. Sie erlebten körperliche und psychische Gewalt, wurden misshandelt, ausgebeutet, sexuell missbraucht, waren Medikamentenversuchen oder Zwangsmedikationen ausgesetzt – alle litten unter der Trennung von ihren Eltern und Geschwistern.

Nach den Jahren der Fremdbestimmung war sehr häufig die Volljährigkeit ein abrupter Übergang in die Selbständigkeit der einst fremdplatzierten Menschen: Für ein gelingendes Leben fehlte es den jungen Erwachsenen an finanziellen Ressourcen, Bildungs- und Berufsperspektiven sowie tragfähigen sozialen Beziehungen und Netzwerken. Zu ihren Herkunftsfamilien hatten sie keine oder schwierige Beziehungen, nicht zuletzt wegen der institutionell oder behördlich unterbundenen Kontaktpflege während der Fremdplatzierung.

Mit diesem kindheits- und jugendbiografischen Rucksack begannen die betroffenen Menschen ihr Erwachsenenleben. Manche von ihnen gründeten eine eigene Familie. WissenschaŠliche Publikationen, (auto-)biografische Erzeugnisse und mediale Dokumentationen der vergangenen Jahre vermochten Einblick in die Rationalitäten, Mechanismen und Erlebensweisen dieser sogenannten fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen geben.

Dieser breite Diskurs entfaltete sich insbesondere nach der offiziellen Entschuldigung der Schweizer Bundesregierung im Jahre 2013. Der Bundesrat setzte unter der Leitung des Bundesamtes für Justiz einen multiperspektivischen «runden Tisch»  ein, der in anspruchsvollen Diskussionen die breite Aufarbeitung vorbereitete. Diese wurde 2014 in einem neuen Bundesgesetz definiert.

Nachdem bereits in den Jahren zuvor einzelne Wissenschaftler*innen mit ihren Arbeiten auf die historischen Missstände hingewiesen hatten, konnte die Geschichte der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen ab 2014 mit zwei grossen Forschungsprogrammen bearbeitet werden: der Unabhängigen Expertenkommission (UEK) «Administrative Versorgungen» und dem Nationalen Forschungsprogramm (NFP) 76 «Fürsorge und Zwang». Der vorliegende Artikel gibt Einblick in die Ergebnisse des NFP-Projekts «Von Generation zu Generation: Familiennarrative zu Fürsorge und Zwang». Das Forschungsteam hat sich im Projekt mit den transgenerationalen Folgen der geschilderten biografischen Eingriffe auf die Nachkommen Betroffener auseinandergesetzt.

Studie zu den Folgen für die nächste Generation

Was bedeutet es, wenn Menschen Eltern werden, die als Kinder oder Jugendliche derartige Gewalterfahrungen gemacht haben? Über drei Jahre hinweg befasste sich das Forschungsprojekt der BFH mit der Frage: Wie wirkten sich die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen auf die Nachkommen aus, das heisst auf die Töchter und Söhne direkt betroffener Menschen? Dazu wurden 27 biografisch-narrative Interviews geführt. Zwischen der jüngsten und der ältesten befragten Person liegen 50 Lebensjahre, zwischen dem kürzesten und dem längsten Interview sieben Stunden. Was alle interviewten Personen aber verbindet, ist, dass sie ohne Ausnahme auf die eine oder andere Weise als Kind unter der Biografie ihrer Eltern gelitten haben. Es sind somit die belasteten Erzählungen, die den Weg zu uns gefunden haben. 

Ergebnisse Teil 1: familiale Belastungslagen 

Tabuisierungen, Zugehörigkeitskonflikte, Gewalt und Fremdplatzierung sind die deutlichsten Folgen, von denen die befragten Nachkommen von Menschen berichten, die von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen betroffen waren (Abraham & Steiner, 2022; Gautschi, 2022; Gautschi & Abraham, 2022; Schalk, 2021). Die Nachkommen erlebten Kindheiten, die von verschwiegenen, aber dennoch omnipräsenten Vergangenheiten der Eltern oder ausgeprägtem Mitleid für die Eltern (Rollenumkehr) geprägt waren. Erzählt wurde von häuslicher Gewalt zwischen den Eheleuten und gegenüber den Kindern beziehungsweise von unterlassener Hilfe während der erlebten Gewalt. Die Betroffenen erlebten entweder zu viel Nähe (Übergriffe) oder zu wenig Nähe (Vernachlässigung) sowie erneute Fremdplatzierungen mit körperlichen und bildungsbezogenen Abwertungserfahrungen.

Ergebnisse Teil 2: verändernde Handlungen der Nachkommen

Die interviewten Töchter und Söhne beschrieben in den Interviews nicht nur die Belastungen in der Familie, die sie mit den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen ihrer Eltern in Verbindung setzten. Sie erzählten auch von ihren Bemühungen, diese Belastungslagen zu verändern, sei dies im Kindes- und Jugendalter oder später als Erwachsene.

Die links aufgeführten Handlungstypen stellen eine Übersicht dieser Handlungen der Nachkommen dar. Zu beachten ist, dass nicht alle Handlungstypen gleichermassen auf alle interviewten Personen zutreffen – auch Handlungskombinationen sind möglich. Die verschiedenen Handlungstypen verdeutlichen, wie Nachkommen mit den familialen Belastungslagen umgehen, die aus ihrer Sicht in den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen ihren Ursprung haben. Mit ihren Handlungen nehmen sie Einfluss auf die transgenerationale Weitergabe und verändern sie für sich selbst oder wiederum für ihre Kinder.

Solche verändernde Handlungen werden unter dem Konzept der Agency gefasst: Die Autoren Emirbayer und Mische (1998) gehen davon aus, dass sich Menschen in ihren Handlungen an der Vergangenheit (wiederholende Handlungsmuster), Gegenwart (Anpassung) und Zukunft (vorausschauende Gestaltung) ausrichten. Die Handlungen der Nachkommen, wie sie in rechts beschrieben sind, orientieren sich somit in komplexer Weise an der Vergangenheit (Fremdplatzierung der Eltern, eigene Kindheit mit den biografisch belasteten Eltern), an der Gegenwart (heutige Beziehung zu den Eltern und eigene transgenerationale Prägungen) und an der Zukunft (Familiengründung oder Erziehung, Überwindung transgenerationaler Risiken).

Um dies zu veranschaulichen, schliessen wir mit Daphnes Worten: «Ich wollte beweisen, dass ich es besser machen werde. Ich habe studiert, ich habe einen guten Beruf, ich habe ziemlich ausgewogene Kinder. Ich versuche, eine normale Familie zu haben. Ich will nicht, dass meine Kinder das [die belastende Vergangenheit des Vaters] tragen müssen. Ich will das nicht.»

Fazit

In diesem Sinne zeigen die vorliegenden Ergebnisse zum einen die transgenerationalen Belastungslagen, die die interviewten Nachkommen erlebten. Diese setzten sie in einen Zusammenhang mit den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. Zum anderen verdeutlichen die Ergebnisse aber auch die bemerkenswerten Versuche der Nachkommen, mit ihren Handlungen die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verbinden und eine betroffene Drittgeneration zu verhindern.

Literatur

– Abraham, Andrea & Steiner, Cynthia. (2022). Zugehörigkeit zu biografisch belasteten Vätern als ausgeprägte familiale Ambivalenzerfahrung: eine qualitative Studie zur Perspektive betroffener Töchter. neue praxis, im Druck.
– Emirbayer, Mustafa & Mische, Ann. (1998). What Is Agency?. American Journal of Sociology 103(4), S. 962–1023.
– Furrer, Markus. (Hrsg.). (2014). Fürsorge und Zwang: Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz 1850–1980. Entre assistance et contrainte: les placements des enfants et des jeunes en Suisse 1850–1980. Basel: Schwabe.
– Gautschi, Nadine. (2022). Wie Nachkommen das Schweigen ihrer Eltern erleben: eine qualitative Studie im Kontext fürsorgerischer Zwangsmassnahmen in der Schweiz. Soziale Welt, 73(3): im Druck.
– Gautschi, Nadine & Abraham, Andrea. (2022). Sprechen, Schweigen, (Um)deuten – Wie die politisch-gesellschaftliche Aufarbeitung fürsorgerischer Zwangsmassnahmen in der Schweiz den Umgang mit der elterlichen Geschichte verändert: Eine qualitative Studie mit Nachkommen Betroffener. GISo Zeitschrift für Sozialisationsforschung, 3(1).
– Germann, Urs & Odier, Lorraine. (2019). Organisierte Willkür. Administrative Versorgungen in der Schweiz 1930–1981. Schlussbericht. Zürich: Chronos.
– Hauss, Gisela, Gabriel, Thomas & Lengwiler, Martin. (Hrsg.). (2018). Fremdplatziert. Heimerziehung in der Schweiz, 1940–1990. Zürich: Chronos.
– Raithelhuber, Eberhard & Schröer, Wolfgang. (2018). Agency. In Hans-Uwe Otto, Hans Thiersch, Rainer Treptow & Holger Ziegler (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit. (6. überarb. Aufl., S. 49–58). Reinhardt.
– Schalk, Tobias. (2021). Kindheit mit von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen direktbetroffenen Eltern. Eine rekonstruktive Analyse mittels Grounded Theory bezüglich des Phänomens der Rollenumkehr. Bachelor-Thesis. Bern: BFH Soziale Arbeit.
– Ziegler, Béatrice, Hauss, Gisela & Lengwiler, Martin. (Hrsg.). (2018). Zwischen Erinnerung und Aufarbeitung. Fürsorgerische Zwangsmassnahmen an Minderjährigen in der Schweiz im 20. Jahrhundert. Zürich: Chronos.

Dieser Artikel ist im September 2022 im Fachmagazins «impuls» erschienen.

Fallbeispiel Daphne,

deren Vater in jungen Jahren eine fürsorgerische Zwangsmassnahme erhalten hatte. Daphne stellte sich im Rahmen des Projekts für ein biografisch-narratives Interview zur Verfügung und beschreibt die erlebte Belastungslage wie folgt:

«Was sehr verstörend ist: Als ich klein war, dachte ich, dass es überall so ist. Dass die Gewalt normal ist. Ich musste unbedingt die besten Schulnoten machen, sonst wurde ich bestraft. Jeden Tag herrschte eine Hyper-Wachsamkeit: Jeden Tag schaute ich, wie es ihm [Vater] heute geht: Welche Laune hat er? Ist sie sich am Verändern? Man versucht zu entschlüsseln, wie es ihm geht. Man bewegt sich nur, wenn man sieht, dass man sich bewegen kann. Kurzum: Alles ist um ihn herum ausgerichtet. Meine Mutter … sogar, wenn er gar nicht da war … aber ich erinnere mich kaum daran, dass sich meine Mutter wirklich um uns gekümmert hat. Er nahm so viel Raum ein, wir haben … alles war an ihm ausgerichtet. Ich erinnere mich, dass er meine Mutter sehr, sehr oft schlug. Ich erinnere mich, dass ich Angst hatte wegen meinen Schulnoten. Ich hatte 8 von 10 Punkten erreicht. Ich hatte solche Angst, mit diesen Punkten nach Hause zu gehen, dass ich draussen in der Hundehütte übernachtete. Ich blieb also draussen, und niemand kam mich suchen. Ich dachte, dass man mich suchen kommen würde, aber niemand ist gekommen. Ich bin zurückgekehrt, wie wenn nichts wäre. Danach wurde ich für diese Note bestraft. Ich musste es abschreiben. Es waren 2 Punkte weniger als 10 Punkte, also musste ich es 20-mal abschreiben. […] Ich erinnere mich, dass er mich damals so stark an den Haaren gezogen hat, dass es ein Geräusch machte, wie wenn man ein Tuch auseinanderreisst. Das macht ‹crrr›. Ich erinnere mich an ein Loch. Ich hatte wirklich ein Loch auf dem Kopf und Haare überall. Überall. Ich hatte lange Haare, man sah es also gut. […] Ab diesem Moment hat er mich sich immer öfter vorgenommen. Er ist jeweils ausgerastet, kann man sagen. […] Ich möchte noch kurz erzählen, wie das endete. Wir gingen mit meiner Mutter jeweils oft zur Polizei, um die blauen Flecken zu zeigen. Aber zu jener Zeit, in den 1980ern und 1990ern, unternahm man gegen die häusliche Gewalt nichts Spezielles. […] Wir kehrten jeweils nach Hause zurück und meine Mutter fragte: ‹Was wollt ihr denn? Wo soll ich hin? Was soll ich tun? Ich kann nicht.› Meine Mutter wog nur 45 Kilogramm. Sie war anorektisch. Das alles dauerte, bis ich zehn Jahre alt war. Zeitweise war er [Vater] nicht mehr da. Und dann sagte meine Mutter: ‹Er ist in den Ferien.› Viel später habe ich begriffen, dass er ins Gefängnis musste.»

 

Handlungstypen mit Beschreibung

Bearbeiten

Die Nachkommen bearbeiten die familialen Belastungen therapeutisch und/oder sie regen ihre Eltern zur Biografiearbeit an und unterstützen sie darin.

Bewahren

Die Nachkommen schaffen Möglichkeiten, die Beziehung zu ihren Eltern aufrechtzuerhalten oder den Zusammenhalt in der Familie durch Sorgearbeit zu erreichen.  

Distanzieren

Die Nachkommen ziehen bereits minderjährig aus, brechen den Kontakt zu ihren Eltern ab oder distanzieren sich durch Heirat oder mit einer Reise von ihnen.

Erklären

Die Nachkommen stellen das belastende elterliche Verhalten in einen biografischen Kontext.

Komplettieren

Die Nachkommen recherchieren die Biografie ihrer Eltern, füllen genealogische Leerstellen und ordnen sich selbst in die Familiengeschichte ein.

Kompensieren

Die Nachkommen setzen sich beruflich für Betroffene von Gewalt ein oder engagieren sich im privaten Rahmen dafür, zum Beispiel durch die Adoption eines Kindes.

Verändern

Die Nachkommen bemühen sich selbständig um einen Bildungsaufstieg, fällen dazu strategische Berufs- und Bildungsentscheide oder wollen mit der eigenen Familiengründung die familiale Belastungslage unterbrechen.

Verhindern

Die Fortführung der familialen Belastungslage wird zu verhindern versucht, indem eine Schwangerschaft† abgetrieben wird, konflikthafte Partnerschaften früh aufgelöst werden und belastete Kontakte zwischen der Erst- und Drittgeneration unterbunden werden. 

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Rubrik: Forschung