Mit Unternehmergeist das Gesundheitswesen entlasten

15.09.2022 Manche Patient*innen nehmen ihre Alltagssorgen mit in die Arztpraxis und überfordern damit ihre Ärzt*innen. Diese Problematik kann entschärft werden, wenn Sozialarbeiter*innen eng mit Ärzt*innen zusammenarbeiten. Ein Forscherteam der Berner Fachhochschule BFH hat vier Fälle einer solchen Zusammenarbeit untersucht und eindrückliche Resultate zu Tage gefördert.

Frau führt ein Beratungsgespräch
Sozialberaterin Dunja Vetter von «Caritas beider Basel» unterhält sich mit einer Patientin: Das Hilfswerk war eine von vier Institutionen, welche die BFH im Rahmen des Projekts «Soziale Arbeit in der Arztpraxis» wissenschaftlich begleitete. Bild: zvg

Marta H. ist verzweifelt. Sie hat vor ein paar Monaten ihre Arbeitsstelle verloren und noch keine neue gefunden. Das Geld ist knapp, die Situation belastet sie sehr. Sie fürchtet, dass sie ihre Krankenkassenprämien nicht mehr bezahlen kann. Gibt es die Möglichkeit einer Vergünstigung? Und an welche Stelle soll sie sich wenden? Mit diesen Fragen gelangt sie an ihre Hausärztin. Kurz zuvor musste diese schon Hans M. beruhigen, der mit seiner AHV nur knapp über die Runden kommt. Er müsse unbedingt Ergänzungsleistungen beantragen. Bloss: Wo und wie soll er das tun? Die Ärztin versuchte, ihn aufzuklären, aber so richtig beruhigen konnte sie ihn nicht. Über seinen schmerzenden Rücken hatten sie da noch gar nicht gesprochen.

Hausarztpraxen als Anlaufstelle für Sorgen aller Art

Solche und ähnliche Situationen gehören zum Alltag in Schweizer Arztpraxen. Manche Patient*innen wissen nicht, an wen sie sich mit ihren Alltagssorgen wenden sollen und fragen in der Not ihre Ärztin oder ihren Arzt. In der Praxis lässt sich die Scham leichter überwinden, denn insbesondere Hausärzt*innen sind für viele wichtige Vertrauenspersonen. «Sie kommen immer wieder mit dem gleichen Anwaltsbrief oder mit einem Brief vom Vermieter. Mit allen Anliegen kommen sie zu mir und erwarten einen Ratschlag oder eine Lösung», erzählt ein anderer Arzt. «Dann kann ich nicht sagen: Das ist nicht mein Job, gehen Sie weg. Die Leute fühlen sich sonst vor den Kopf gestossen. Aber ich habe einfach keine Zeit dafür.»

Soziale Arbeit in der Arztpraxis kann Abhilfe schaffen

«Die Verhältnisse, in denen wir leben, können uns krank machen», sagt René Rüegg, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Departement Soziale Arbeit der BFH. «Krankheit kann zum Verlust des Arbeitsplatzes führen, was das Armutsrisiko erhöht. Und die Armut beeinträchtigt dann wiederum unsere Gesundheit.» Weil soziale Gegebenheiten so vielfältig mit der Gesundheit verknüpft seien, müsse man sie in der medizinischen Grundversorgung unbedingt berücksichtigen, ergänzt René Rüegg.

Soziale Arbeit kann hier vielfältig eingesetzt werden: Sie unterstützt Patient*innen bei der Orientierung im Gesundheitswesen, fördert ihre soziale Integration und psychische Gesundheit und entlastet das medizinische Personal.

Ein noch wenig verbreitetes Modell

Das Problem: Hierzulande sind Sozialdienste zwar fester Bestandteil von Spitälern und psychiatrischen Kliniken. Aber während sich das Prinzip «Soziale Arbeit in der Arztpraxis» in anderen Ländern bereits mehr oder weniger etabliert hat (zum Beispiel die «Maisons Médicales» in Belgien), gibt es in der Schweiz nur wenige solche Angebote. René Rüegg sieht hier Potenzial und startete mit seinem Team vor zwei Jahren ein von Innosuisse gefördertes Forschungsprojekt (siehe Box). Das Ziel: Bestehende Angebote wissenschaftlich begleiten, unterstützen und gegenseitig vernetzen.

Die Gesundheitskosten senken und die Zufriedenheit erhöhen

«Ist Sozialarbeit ein fester Bestandteil der medizinischen Grundversorgung, stärkt das die Krankheitsprävention in der Bevölkerung. Auf längere Sicht können so die Kosten des Gesundheitswesens gesenkt werden», hält René Rüegg fest.

Die Resultate des Projekts sind denn auch ermutigend: Bemerkenswert sei insbesondere die hohe Zufriedenheit aller Beteiligten, sagt René Rüegg. Sowohl Patient*innen wie Marta H. und Hans M. als auch die Ärzteschaft würden enorm profitieren. Demnach verfügen die Patient*innen dank der sozialen Arbeit in der Arztpraxis über eine bessere psychische Gesundheit und eine grössere Selbstständigkeit. Ärzt*innen werden emotional entlastet und können sich in den Sprechstunden auf die medizinische Arbeit konzentrieren.

«Den Macher-Geist gespürt»

«Unsere Aufgabe als Fachhochschule ist es, mit innovativen Projekten die Gesellschaft voranzubringen», sagt René Rüegg. Das Projekt «Soziale Arbeit in der Arztpraxis» habe gezeigt, dass eine Zusammenarbeit zwischen Ärzt*innen und Sozialarbeiter*innen gut und mit vernünftigem Aufwand möglich sei, fügt er hinzu. Das gelte sowohl für Modelle, in denen alle unter einem Dach vereint sind, als auch für die Zusammenarbeit zweier Institutionen. Besonders beeindruckt sei er ausserdem von der Energie und der Ausdauer der beteiligten Ärzt*innen und Sozialarbeiter*innen gewesen: «Ich habe einen Macher-Geist gespürt, den unbedingten Willen, etwas zu bewegen.»

Steht nun also weiteren solchen Angeboten nichts mehr im Weg? Leider nicht ganz. «Wir haben mit unserem Forschungsprojekt einen Innovationsprozess angestossen», erklärt René Rüegg. «Damit sich solche Angebote etablieren können, braucht es noch einige Veränderungen, etwa was die Finanzierung oder die Ausbildung betrifft. Wir von der BFH sind bereit, diesen Weg weiterhin zu begleiten.»

Vier Institutionen, zwei Modelle

Eine ganzheitliche und patientenorientierte Grundversorgung ist eine wichtige Forderung der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Auch die Schweizer Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) machte sich bereits 2012 in einem Grundlagenpapier dafür stark. Im Rahmen des Projekts «Soziale Arbeit in der Arztpraxis» untersuchten BFH-Forscher*innen einerseits die fachlichen und organisatorischen Grundlagen solcher Angebote. Andererseits gingen sie der Frage nach, wie sehr Patient*innen und Ärzt*innen von den Angeboten profitieren. Beteiligt an dem Projekt waren vier Institutionen. Dazu zählten Gemeinschaftspraxen wie der Gesundheitspunkt Oberägeri (ZG), welche Sozialarbeiter*innen direkt im Haus beschäftigen. Zum anderen untersuchten die Forscher*innen auch soziale Institutionen wie das Sozialberatungsbüro «SoBü Bärn» (BE), an die Arztpraxen Patient*innen überweisen können.

Zur Person

Porträt von René Rüegg
René Rüegg: «Ist Sozialarbeit ein fester Bestandteil der medizinischen Grundversorgung, stärkt das die Krankheitsprävention in der Bevölkerung und senkt die Gesundheitskosten.»

René Rüegg arbeitet seit 2016 am Institut für Organisation und Sozialmanagement der Berner Fachhochschule BFH. Er ist ausgebildeter Sozialarbeiter FH und hat an der Universität Zürich Soziologie und Ethnologie studiert. 2022 schloss er seine Promotion in Public Health an der Graduate School for Health Sciences (GHS) der Universität Bern ab. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Soziale Arbeit im Gesundheitswesen, Qualität sozialer Dienstleistungen, Evaluationen und Reportings.