Was die 4-Tage-Woche mit dem Fachkräftemangel zu tun hat

18.11.2022 Weniger arbeiten bei gleichem Lohn, dafür mehr Motivation und Produktivität? Die Vor- und Nachteile sowie welche Chancen das Modell in der Schweiz hätte, hat unser Absolvent Alain Cardinali in seiner Masterthesis untersucht.

Sie haben in Ihrer Masterthesis gemeinsam mit dem Institut New Work (Prof. Dr. Caroline Straub) untersucht, ob sich eine 4-Tage-Woche in die Schweizer Arbeitswelt implementieren lässt. Das wäre ein Paradigmenwechsel für unsere bisherige Vorstellung von Arbeit – ist die Zeit jetzt reif dafür und warum? 

Zuerst: die Vorteile scheinen die Nachteile bzw. die Risiken bei Weitem zu überwiegen. Ich finde es ein äusserst innovatives und sehr vielversprechendes Arbeitsmodell. In meiner Masterarbeit eruiere ich, unter welchen Voraussetzungen die 4-Tage-Woche in der Schweiz implementierbar wäre. In erster Linie ging es mir aber darum, den Diskurs über das Arbeitsmodell in der Schweiz weiter zu fördern. Und es gibt klare Argumente, die dafür sprechen. Wenn man sich beispielsweise die Unternehmen ansieht, die eine 4-Tage-Woche bereits umgesetzt haben, stellt man fest, dass ein grosser Teil davon aus Branchen stammt, die stark unter einem zunehmenden Fachkräftemangel leiden. So herrscht in der Gastronomie eine grosse Diskrepanz zwischen den bestehenden Arbeitsbedingungen und den Bedürfnissen der Arbeitnehmenden. Die 4-Tage-Woche trägt dem zu grossen Teilen Rechnung und kann deshalb ein starker Hebel für Unternehmen sein, wenn sich der Fachkräftemangel zuspitzt. 

Und was ist mit dem Umdenken? 

Die 4-Tage-Woche steht für einen weitreichenden Wandel, wie wir Arbeit in Zukunft definieren wollen. Mit der Arbeitszeit steht eine Komponente in Frage, die bei all den Modernisierungen rund um die Gestaltung der Arbeitswelt 4.0 kaum debattiert wird. Diese Denkhaltung müssen wir ändern, damit die 4-Tage-Woche als flächendeckendes Arbeitsmodell eine Chance haben kann. Ein solcher Wandel lässt sich allerdings kaum in zwei, drei Jahren vollziehen, deshalb gehe ich nicht davon aus, dass wir in zehn Jahren alle in diesem Arbeitsmodell arbeiten werden. Trotzdem bin ich überzeugt, dass die 4-Tage-Woche eine Entwicklung in diese Richtung angestossen hat und den Diskurs über die zukünftige Interpretation und die Ausgestaltung der Arbeit weiter vorantreibt.  

Welche praktischen Erfahrungen gibt es bereits? 

Island hat zwischen 2015 und 2019 in einer der bisher grössten wissenschaftlichen Studien die 4-Tage-Woche mit einer Reduktion der Arbeitszeit auf 35 Stunden pro Woche getestet. Weil die Ergebnisse der Studie derart positiv ausfielen, erwirkten Gewerkschaften anschliessend eine allgemeine Arbeitszeitreduktion, von der mittlerweile über 85% der Bevölkerung profitieren. In Grossbritannien wird derzeit eine gross angelegte Studie durchgeführt, bei der über 3000 Unternehmen eine 4-Tage-Woche in einer sechsmonatigen Pilotphase testen.  

Wie sieht es in der Schweiz aus? 

In der Schweiz sind es bisher vereinzelte kleine Unternehmen, die aus eigenem Antrieb eine 4-Tage-Woche implementiert haben. Während sich das zunächst primär auf Firmen aus der IT-Branche konzentrierte, kommen nun immer mehr andere Branchen hinzu. Für meine Masterarbeit habe ich beispielsweise mit einem Coiffeursalon, einem Produktionsbetrieb für Nägel und einem Ofenbauunternehmen gesprochen, die das Modell umsetzen. Das zeigt, dass es nicht nur für kleine Firmen aus der Kreativ- und Digitalbranche geeignet ist, sondern branchenübergreifend funktionieren kann. 

Welche Vorteile bietet die 4-Tage-Woche für die Arbeitgebenden? 

Für sie ist es primär ein Wettbewerbsvorteil zur Rekrutierung neuer Fachkräfte – aktuell ein starkes Alleinstellungsmerkmal, wenn man sich den branchenübergreifenden Fachkräftemangel anschaut. Ausserdem profitieren sie entgegen der geläufigen Erwartung, dass reduzierte Arbeitszeit automatisch mit reduzierter Produktivität einhergeht, sogar in den meisten Fällen von einem Anstieg der Produktivität, wie zahlreiche Studien inzwischen nachgewiesen haben. Das liegt einerseits daran, dass die Arbeitnehmenden dank ihrer zusätzlichen Freizeit motivierter und ausgeruhter bei der Arbeit erscheinen und mit ihrer Arbeitssituation zufriedener sind, womit sie konsequenterweise auch mehr leisten können. Auf der anderen Seite werden in den meisten Fällen die bestehenden Prozessabläufe optimiert. Studien haben darüber hinaus nachgewiesen, dass sich die 4-Tage-Woche positiv auf die Gesundheit von Arbeitnehmenden auswirkt, was krankheitsbedingte Absenzen verringert. 

Und wie profitieren die Arbeitnehmer*innen – besteht nicht die Gefahr, dass sie die gleiche Arbeit in weniger Zeit schaffen müssen? 

Das hängt ganz davon ab, für welche Variante sich Arbeitgebende entscheiden. Grundsätzlich werden zwei unterschieden: entweder wird die Arbeitszeit verdichtet oder reduziert. Bei einer Verdichtung der Arbeitszeit wird die bisherige Wochenarbeitszeit beibehalten, allerdings anstatt an fünf nur noch an vier Tagen die Woche geleistet. Der Nachteil: die gleiche Arbeitszeit muss innert kürzerer Zeit erbracht werden. Das mag im individuellen Kontext für gewisse Branchen bzw. einzelne Arbeitnehmende durchaus funktionieren, birgt aber langfristig das Risiko von mehr Arbeitsbelastung und Stress. Dieses Modell widerspricht jedoch der Ausgangsidee. Diese sieht eine reduzierte Arbeitszeit bei gleichbleibendem Gehalt vor. Arbeitnehmende profitieren auch in diesem Modell von einem zusätzlichen freien Tag, allerdings ohne die freie Zeit kompensieren zu müssen, da die positiven Effekte dieser Arbeitszeitverkürzung auf die Arbeitnehmenden die kürzere Arbeitszeit in den meisten Fällen aufwiegen.  

Alain Cardinali
Alain Cardinali

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