«Mit zunehmender Erfahrung, macht die Arbeit als Hebamme mehr Freude»

09.02.2023 Viele Hebammen verlassen ihren Beruf nur wenige Jahre nach der Ausbildung wieder. Wir haben mit zwei erfahrenen Spitalhebammen geredet und sie gefragt, was sie über Jahrzehnte im Gebärsaal hielt.

Die offensichtliche Frage zuerst: Wie viele Babys haben Sie entbunden?

Eveline Haas: Ui, keine Ahnung.

Eine Schätzung?

Haas: Ich arbeite seit 25 Jahren ohne Unterbruch als Hebamme. Es sind auf jeden Fall ein paar Tausend.

Brigitta Krattinger: 1981 habe ich die Ausbildung abgeschlossen. Am Anfang zählte ich die Entbindungen. Jetzt bereue ich gerade, dass ich irgendwann damit aufgehört habe. (lacht)

Sie haben eine stattliche Anzahl Berufsjahre angesammelt. Viele bleiben weit weniger lang. Gemäss dem Schweizerischen Gesundheitsobservatorium OBSAN sind zwischen 2016 und 2018 43% der Hebammen aus dem Beruf ausgestiegen. Wo sehen Sie die Gründe?

Haas: Es ist ein strenger Beruf und er wird zunehmend anspruchsvoller. Die Arbeitszeiten machen es nicht einfacher. Ich höre von vielen, dass die Schichtarbeit den Ausschlag gibt, nicht mehr als Spitalhebamme zu arbeiten.

Krattinger: Geld ist ausserdem ein Thema, auch wenn es sicher nicht nur darum geht. Unsere jungen Hebammen sehen, dass Gleichaltrige in anderen Berufen deutlich mehr verdienen. Mit viel weniger Verantwortung, weniger Druck und geregelten Bürozeiten.

Wo zieht es die Hebammen hin?

Haas: Sie machen eine andere Ausbildung oder gehen reisen und kommen danach nicht wieder. Auch wenn sie eine Familie gründen, kommen einige nicht mehr oder nur zu kleinen Pensen in den Beruf zurück.

Krattinger: Andere gehen in Gynäkologiepraxen und machen dort vorwiegend Kontrolluntersuchungen.

Haas: Oder sie werden selbständig und betreuen Frauen im Wochenbett. So bleiben sie dem Beruf treu, aber bei uns im Spital fehlen sie halt doch. Manchmal frage ich mich schon: Wo sind eigentlich all die Hebammen?

Spüren Sie den Mangel?

Krattinger: So schlimm wie andernorts ist es zum Glück nicht. An Weiterbildungen treffe ich auch Hebammen aus Deutschland. Die haben teilweise mit der gleichen Geburtenzahl nur die Hälfte der Stellenprozente auf der Station. Das ist extrem, die Dienste sind ja bei uns schon sehr anspruchsvoll. Und je weniger Personal, desto medizinischer werden die Geburtsabläufe. Irgendwann ist das nur noch zu bewältigen, wenn jede Gebärende eine PDA – also eine Periduralanästhesie – erhält.

Haas: Unser Stellenplan ist zwar noch ganz gut besetzt, aber wir haben viele Wechsel. Die jungen Hebammen kommen aus der Ausbildung, wir geben unser Wissen und unsere Erfahrung weiter und sobald sie einen gewissen Boden unter den Füssen haben, gehen sie wieder. Dann fangen wir von vorne an; das macht müde.

Sie haben erwähnt, dass viele nach der Familiengründung in kleinen Pensen arbeiten. Lässt sich Teilzeit mit dem Beruf vereinbaren?

Krattinger: Auf jeden Fall. Ich nehme die Hebammen, die bei uns Teilzeit arbeiten als sehr engagiert wahr. Das sind auch die, die am längsten bleiben. Ich habe in der Vergangenheit erlebt, dass es in manchen Spitälern ein Mindestpensum gab und gute Hebammen deswegen aufgehört haben.

Haas: Ich mache mit Teilzeit-Hebammen auch gute Erfahrungen. Sie müssen aber vorher ein paar Jahre voll gearbeitet haben. Sonst kommen sie einfach nie so richtig rein, gewinnen nicht die Routine und Sicherheit, die es auch in einem Teilzeitpensum braucht. Zwei Jahre Vollzeit ist in meinen Augen das Minimum.

Nun gibt es immer mehr Leute, die auch ohne Familie Teilzeit arbeiten, weil ihnen die Freizeit neben dem Beruf wichtig ist. Kommt Ihnen das manchmal seltsam vor?

Haas: 80 Prozent arbeiten ist das neue Vollzeit, sagt man. Wir sind da noch anders aufgewachsen. Die Arbeit galt als Hauptzweck des Lebens, die Freizeit war Beiwerk. Heute ist das nicht mehr so. Ich möchte nicht werten, es ist einfach ein anderer Zeitgeist.

Krattinger: Bei uns war schon während der Ausbildung klar, dass es daneben nichts anderes geben kann, da waren 12 Nächte à 12 Stunden Einsatz normal. Das war schon happig, hat uns aber vor Überraschungen später im Berufsalltag bewahrt.

Böse Zungen sagen der Generation Z nach, im Berufsleben nicht sehr belastbar zu sein. Wie nehmen Sie die Jungen wahr?

Haas: Es ist für die jungen Generationen ja auch nicht alles einfach. Die Welt ist komplizierter und medialer geworden. Wir hatten weniger Ablenkung zur Verfügung. Ich glaube nicht, dass die Jungen weniger belastbar sind, als wir es waren. Wir haben eher gelernt durchzubeissen, unsere Wünsche zurückzustellen. Wir gingen manchmal nach Hause und haben geweint, weil es in der Ausbildung oder im Beruf so streng war.

Das klingt nicht gerade nach der Selfcare, die heute so hochgehalten wird.

Haas: Ich denke, weder das schnelle Aufgeben, noch das Durchbeissen um jeden Preis sind der richtige Umgang mit beruflicher Belastung.

Krattinger: Man macht besser von Zeit zu Zeit eine Standortanalyse. Du nimmst ein Blatt und schreibst auf, was dir am Beruf gefällt und was nicht. Und unter welchen Bedingungen es für dich passen würde.

Sie haben also Verständnis für eine Hebamme, die dann entscheidet, 80 Prozent statt 100 Prozent zu arbeiten?

Krattinger: Ja, auf jeden Fall.

Haas: Uns ist es doch lieber, sie arbeiten 80 Prozent und bleiben dabei, als dass sie mit 100 Prozent ins Burnout rasseln.

Krattinger: Aber es verstärkt das Lohnproblem. Wenn eine Hebamme auf 80 Prozent reduziert, weil sie sonst die wechselnden Schichten nicht prästiert, verdient sie nochmal weniger.

Haas: Jetzt muss ich aber auch noch etwas sagen, wenn wir schon über die Belastbarkeit der jüngeren Generation reden. Wenn ich die Pläne unserer Vollzeit-Hebammen anschaue, die alle Dienste machen, dann denke ich mir: Das würde ich nicht mehr schaffen.

Brigitta Krattinger
Brigitta Krattinger ist mit kurzen Unterbrüchen seit 41 Jahren Hebamme. Nach Stationen in Murten und dem Engeriedspital arbeitet sie aktuell im Lindenhofspital.

Sie machen beide hauptsächlich Nachtdienste. Warum?

Haas: Das war wohl unsere Erkenntnis aus der Standortanalyse. Ich arbeite seit 15 Jahren nur noch in der Nacht. Das ist für den Körper einfacher als wechselnde Dienste. Aber auch fürs Sozialleben. Meine Freunde wissen, ich bin am Abend erreichbar.

Aber warum wählten Sie die Nacht?

Haas: Dort bin ich vor dem Tagesgeschäft geschützt. Von den Geburten her ist es nicht ruhiger, aber in der Nacht sind nur die Leute da, die da sein müssen. Da kommen nicht noch Hinz und Kunz vorbei, die etwas von einem wollen.

Krattinger: Das kann ich voll und ganz bestätigen. Ich habe mich aus denselben Gründen für den Nachtdienst entschieden.

Das ist für Hebammen mit jungen Kindern schwieriger.

Krattinger: Stimmt. Ihnen kommt aber ebenfalls zugute, dass wir uns inzwischen selber planen, sprich wir handeln die Dienstpläne im Team aus. Ist das bei euch auch so, Eveline?

Haas: Ja, und es funktioniert gut.

Krattinger: So können wir auf die Betreuungssituation von Müttern besser Rücksicht nehmen. Zum Beispiel auf fixe Kita-Tage.

Gab es Momente, in denen Sie den Beruf auch beinahe aufgegeben hätten?

Haas: Ein paar kurze Momente. Aber ich kann mir keinen anderen Beruf vorstellen, den ich so gerne machen würde.

Krattinger: Ich habe zwei Jahre lang einen Ausflug in die Spitex gemacht aber es zog mich ganz klar wieder zurück in den Gebärsaal.

Eveline Haas
Eveline Haas arbeitet seit 25 Jahren Vollzeit als Hebamme. Nach einer kurzen Zeit in Biel wechselte sie in die Frauenklinik des Inselspitals Bern, wo sie inzwischen seit 20 Jahren tätig ist.

Warum sind sie so lange Hebamme geblieben? Was ist über all die Jahre so schön an diesem Beruf?

Krattinger: Wie neues Leben auf die Welt kommt. Diese unglaubliche Kraft, die in einer natürlichen Geburt steckt, das fasziniert mich immer noch wie am Anfang. Es ist ein Privileg, die Frauen dabei begleiten zu dürfen.

Haas: Mir gefällt es als Hebamme sogar immer besser, je länger ich dabei bin. Ich komme heute in den Gebärsaal und erfasse sofort, was los ist. Man kann mit der Erfahrung auf immer mehr Ressourcen zugreifen. Mich haut nicht mehr vieles aus den Socken. Ich arbeite im Frauenspital, da passiert vieles sehr schnell; von der problemlosen Geburt bis zur hochpathologischen Situation, Notfälle und dazu Kulturen aus aller Welt. Mich fasziniert dieses breite Spektrum.

Muss man sprichwörtlich das verflixte siebte Jahr überstehen und dann nimmt mit zunehmender Erfahrung die Belastung ab?

Krattinger: Manches wird mit den Jahren tatsächlich einfacher. Ich arbeite in einem Belegarztsystem, da sind die Ärzte etwas älter, haben gewisse Vorstellungen und manchmal einen direkten Umgangston mit jüngeren Hebammen. Mit meiner Erfahrung bin ich in der Position, dass ich Ärzten auch mal widersprechen und mich durchsetzen kann. Das gibt mir eine gewisse Ruhe. Ich kann Hebamme sein und meine Tätigkeit selbstbestimmt ausüben.

Haas: Ich habe leitende Ärzte schon als Assistenzärzte gekannt. Die haben Respekt vor mir. Sie wissen wie ich ticke und ich weiss, wie sie ticken. Sie hören auf mich, vertrauen mir, fragen mich um Rat. Das kann für jüngere Hebammen frustrierend sein. Sie merken, wenn ich etwas sage, dann nützt es, wenn sie dasselbe sagen, werden sie weniger gehört. Das ist auch nicht eine Frage des Selbstvertrauens, sondern dafür braucht es einfach die langjährige Berufserfahrung.

Welche Verantwortung bringt Ihre Erfahrung?

Haas: Unsere Durchsetzungsfähigkeit darf nie einfach Machtausübung sein. Mir ist es sehr wichtig, dass bei allen Diskussionen zwischen Ärztinnen, Ärzten und Hebammen immer das Wohl von Mutter und Kind an erster Stelle steht.

Krattinger: Ich sehe es in meinen letzten Berufsjahren als meine Aufgabe an, mein Wissen – gerade das praktische, historisch gewachsene Hebammenhandwerk – weiterzugeben.

Gib es Erlebnisse, die Sie nie vergessen werden?

Krattinger: (lacht) Oh ja, viele.

Haas: Manche werden mich bis aufs Totenbett begleiten. Vor allem die tragischen Schicksale. Ich war einmal mit einer Frau im Operationssaal, die ihr Kind verloren hat. Da haben wir schwierige Stunden durchgestanden. Sie schickt mir seither jedes Jahr eine Weihnachtskarte.

Wie gehen Sie mit solchen Schicksalen um?

Haas: Ich betreue viele Verlustfrauen und denke manchmal schon, ich bin etwas gepflastert von all den verlorenen Kindern. Aber es gibt dabei auch schöne Momente. Gegenüber der erwähnten Frau bin ich damals im Operationssaal in einem hektischen Moment laut geworden. Das war mir peinlich. Als ich sie aber einige Zeit später wieder traf, hat sie sich bei mir bedankt und gesagt, sie habe damals dank meinen energischen Anweisungen gemerkt: «Hoppla, die schaut zu mir!» Das war für sie tröstend in dieser schwierigen Situation.

Krattinger: Es ist oft so, dass einem tragische Fälle Kraft geben. Zu sehen wie die Paare einen Verlust bewältigen und sie auf einem kurzen Teil dieses Wegs zu begleitend, das kann sehr lehrreich und bereichernd sein.

Haas: Es gibt nicht viele Berufe, in denen man ein solches Spektrum an Emotionen erleben darf.

Haben jüngere Hebammen mit solchen Schicksalen Mühe, seien das Verluste bei der Geburt oder Schwangerschaftsabbrüche?

Haas: Manchen geht das schon nahe.

Was kann man da tun?

Haas: Ich musste lernen, dass die Geschichten der Frauen und Paare nicht meine Geschichten sind. Ich bin da, sie zu begleiten. Möglichst empathisch, ohne ihr Leben zu meinem Leben zu machen.

Krattinger: Wenn das Team das abfangen kann, finde ich es auch ok, wenn sich eine Hebamme mal aus einer Situation herausnimmt.

Haas: Umgekehrt sind wir als erfahrene Hebammen auch für die jüngeren da. Ich habe oft gehört: «Hey, ich möchte dieses Paar betreuen, bist du mir im Rücken?» Da unterstütze ich sehr gerne.

Krattinger: Ich denke aber nicht, dass viele Hebammen wegen der emotionalen Herausforderungen den Beruf verlassen. Damit lernt man umgehen. Das Problem sind schon eher die organisatorischen Umstände.

Was müsste sich verändern, damit Hebammen länger Freude an ihrem Beruf haben?

Krattinger: Die Wertschätzung durch bessere Löhne würde sicher viel ausmachen. Oder wenn nach anstrengenden, wechselnden Schichten ein Teil der Erholung als Arbeitszeit angerechnet würde.

Was muss sich für Hebammen mit Kindern ändern?

Haas: Die Strukturen dürften familienfreundlicher werden. Mit Kitas, die zu Schichtbeginn schon geöffnet haben und die nicht den ganzen Hebammenlohn kosten.

Krattinger: Immerhin tut sich bei den Rollenbildern etwas. Früher blieben die jungen Mütter länger zu Hause, während der Mann weiter voll arbeitete. Manche haben dann nach fünf oder sechs Jahren den Einstieg nicht mehr geschafft.

Zuletzt: Was ist ihr persönliches Erfolgsrezept?

Krattinger: Ich denke, wir haben beide jeweils eine Geburtenabteilung gefunden, die uns zusagt. Wir sind im Nachtdienst glücklich und profitieren inzwischen von unserer Erfahrung. Das haben wir uns über die Jahre auch passend eingerichtet.

Haas: Und wir haben Glück, dass wir tagsüber gut schlafen können. (lacht)

 

Das Interview führte Markus Tschannen durch.

Eveline Haas und Brigitta Krattinger
Zusammen haben sie über 60 Jahre Berufserfahrung: Die beiden Hebammen Eveline Haas (rechts) und Brigitta Krattinger (links).

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