Köpfe der Forschung: Annette Kappeler

30.11.2022 Begeben Sie sich mit Annette Kappeler auf eine Reise in ein historisches Provinztheater im italienischen Feltre, wo sie Administration, Repertoire und Bühnenmaterial erforscht.

Portrait Annette Kappeler, die vor einem Stoff/Teppich steht. Ihre Stirn ist angeschnitten.

Annette Kappeler studierte Deutsche und Französische Philologie an den Universitäten Wien und Lausanne. Parallel dazu absolvierte sie das praktisch-künstlerisch ausgerichtete Konzertfach- und Instrumentalpädagogik-Studium Violine/Viola am Konservatorium Wiener Neustadt. Anschliessend studierte sie Alte Musik an der Zürcher Hochschule der Künste und promovierte zu Aufführungsformen der Französischen Oper des 17. und 18. Jahrhunderts an der Universität Konstanz. Seit 2018 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Interpretation der HKB und leitet das SNF-Projekt «Italienisches Provinztheater im Risorgimento».

Annette Kappeler, du bist Musikerin und Wissenschaftlerin zugleich. Wie beeinflusst deine künstlerische Tätigkeit deine forschende und umgekehrt?

Man profitiert ungeheuer davon, wenn man Kunstausübung und Forschung miteinander verbindet, weil man als Künstler*in Einblick in Praktiken bekommt, die man aus rein theoretischer Sicht nur schwer begreift, und als Forscher*in (historische) Hintergründe der eigenen künstlerischen Praxis verstehen lernt, die einem als Künstler*in manchmal verborgen bleiben. Ich sehe uns als eine Art Brückenbauer*innen zwischen Forschung und künstlerischer Praxis.
Gerade im deutschsprachigen Raum sind Geisteswissenschaften und Kunstausübung heute in den meisten Studiengängen von Anfang an getrennt. Im englischen Sprachraum ist das oft anders, dort sind die beiden Bereiche stärker miteinander verbunden. Das versuchen wir auch an der HKB, indem wir Doktorierende für Forschungsthemen begeistern und sie bei ihren eigenen Forschungsprojekten begleiten wollen.

Mitte Oktober habt ihr in Venedig eine Tagung zu Architektur und szenischem Raum in Klein- und Provinztheatern 1750 bis 1850 veranstaltet. In welchem Zusammenhang steht diese zu eurem SNF-Projekt «Italienisches Provinztheater im Risorgimento – Feltres Teatro sociale»?

Das Forschungsprojekt zum Theater Feltre ist aus der Initiative des Doktoranden Raphaël Bortolotti entstanden, der in einem kleinen Theater im Veneto historisches Bühnenmaterial vom Beginn des 19. Jahrhunderts entdeckt hat. Im Rahmen des SNF-Projekts erforschen wir Administration, Repertoire und Bühnenmaterial dieses Theaters. Letzteres wird zum Teil auch restauriert, mit dem weiteren Ziel, es in seinem originalen Kontext wieder in Betrieb zu nehmen und Aufführungen in einem historischen Theater zu ermöglichen. 
Die Tagung in Venedig hat sich mit dem Thema des szenischen Materials in Provinztheatern auseinandergesetzt: In kleineren Theatern ist oft Bühnenmaterial erhalten, weil diese weniger modernisiert wurden als grössere Bühnen, bisher sind Provinztheater aber wenig erforscht. Unser Bild ist noch immer von der Praxis einiger weniger Grossbühnen geprägt, die hunderten, wenn nicht tausenden von europäischen Kleintheatern gegenüberstehen, die für die grosse Mehrheit der Bevölkerung und für Aufführungspraktiken repräsentativ waren.

Dein Projekt ist im Forschungsfeld «Aufführung und Interpretation» angesiedelt, das du auch koordinierst. Worauf fokussieren Forschende in diesem Feld? 

Das Forschungsfeld beschäftigt sich mit Aufführungs-Weisen von Musik und Theater seit dem 18. Jahrhundert. Forschende fragen in ihren Projekten, durch welche Praktiken künstlerische Aufführungen geprägt sind und welche Akteure hinter diesen Praktiken stehen. Dabei kann es um Aufführungspraxis im klassischen Sinne gehen, wie bspw. Notenmaterial zum Klingen gebracht oder wie auf einer Bühne mit Sprache, Bewegung usw. agiert wurde. Wichtig sind aber auch die Akteure hinter diesen Praktiken und wie sie miteinander gearbeitet haben, es geht also auch um Netzwerke von Künstler*innen, deren Zusammenarbeit und Arbeitsbedingungen. 
Daraus ergeben sich Fragen zu Konzepten von «Interpretation», da die heute verbreitete Vorstellung, dass eine Person ein Musik- oder Theaterstück «deutet», historisch nicht selbstverständlich ist. In vielen Kontexten agiert ein Kollektiv von Künstler*innen miteinander, um Kunstwerke auf die Bühne zu bringen. In der Probenarbeit entsteht dann aus notiertem Material etwas Neues, ohne dass es ein übergeordnetes Konzept von «individueller Interpretation» gibt.
Um diese Fragen untersuchen zu können, ist transdisziplinäre Forschung in Musik-, Theater-, Literatur-, Bild- und Geschichtswissenschaft nötig, aber auch eine Arbeit zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Praxis. Forschungsfragen kommen oft in der künstlerischen Praxis auf und fliessen auch wieder in diese zurück. 

Vielen Dank für dieses Gespräch.

Das Gespräch führte Nathalie Pernet.

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