Diversität als Bereicherung im Forschungsteam

20.01.2022 Noch kommt es selten vor, dass Menschen mit Krankheitserfahrung in Forschungsprojekten mitarbeiten und ihre Expertise einbringen. In der gängigen ressourcenoptimierten wissenschaftlichen Welt ist dies eine anspruchsvolle, aber lohnende Arbeit. Das zeigt unter anderem das Engagement von Sabine Rühle Andersson im Departement Gesundheit der Berner Fachhochschule.

Die Generierung von Evidenz und damit zusammenhängendem Fachwissen ist ein fortlaufender, anspruchsvoller, reflexiver und kontrollierter Prozess und hat zum Ziel, die Qualität der Behandlung und Pflege zu verbessern. Er beginnt in der Regel mit einer kritischen Reflexion darüber, was wir bereits wissen und was nicht. Hier kann uns beispielsweise eine Literaturübersicht oder eine Expert*innenbefragung einen ersten Einblick zum Stand der Praxis und der Wissenschaft liefern. Die am stärksten Betroffenen, die Menschen mit Krankheitserfahrung und ihre Angehörigen, werden ebenfalls vermehrt einbezogen, wenn es darum geht, Wissens- und Kompetenzlücken sowie den Forschungsbedarf zu beschreiben.

Nicht nur Beforschte, sondern Mitarbeiter*innen

Noch kommt es selten vor, dass Menschen mit Krankheitserfahrung in Forschungsprojekten mitarbeiten, um ihre Perspektive und Expertise einzubringen. Die Berner Fachhochschule konnte dank des Engagements von Sabine Rühle Andersson und einer weiteren Person mit Krankheitserfahrung erste Erkenntnisse diesbezüglich sammeln. Menschen mit Krankheitserfahrung können unterschiedlich intensiv in die Forschung einbezogen werden. Gängig ist der Einbezug von Menschen mit Krankheitserfahrung als Beforschte. So sind sie beispielsweise Teilnehmende einer Umfrage über ein Projekt und seine Ziele informiert. Es findet aber keine Zusammenarbeit statt, und sie haben keinen direkten Einfluss auf das Produkt oder das weitere Vorgehen. Anders ist es, wenn der Beitrag der Menschen mit Krankheitserfahrung und/oder ihrer Angehörigen und ihre Sichtweisen gezielt gesucht und berücksichtigt werden. Dies bedingt, dass sie zumindest in Teilen eines Projekts mitarbeiten, z.B. zu Beginn, um ein Problem zu definieren oder die Projektziele zu beschreiben. Oder wenn sie im Team die Datengenerierung und -analyse unterstützen oder mitarbeiten, um praxisrelevante Schlussfolgerungen aus den Forschungsergebnissen zu ziehen. Hier haben Menschen mit Krankheitserfahrung nun einen direkten Einfluss auf die Entscheidungsfindung bei der Generierung von Evidenz. Letzteres war der Fall im Projekt PIONEERS (Pioneers of a new paradigm in psychiatric nursing and care) von Caroline Gurtner (Gurtner & Hahn, 2016). 

Einbezug in Forschung, Praxis und Ausbildung

Darin entwickelten Menschen mit Krankheitserfahrung sowie ihre Angehörigen und Mitarbeitende der Berner Fachhochschule gemeinsam ein Verständnis für den Einbezug von krankheitserfahrenen Personen in Forschung, Praxis und Ausbildung. Seit 2015 arbeitet Sabine Rühle Andersson an der Berner Fachhochschule, erstmalig gemeinsam mit einer weiteren krankheitserfahrenen Person, in PIONEERS als vollwertiges Mitglied des Forschungsteams. «Für uns in der Forschung Pflege war dies eine Bereicherung und führte dazu, dass sich dank gelebter Diversität die Unterschiede zwischen den krankheitserfahrenen und den sogenannt gesunden Mitarbeitenden verwischten», resümiert Prof. Dr. Sabine Hahn, Fachbereichsleiterin Pflege. «Gesundheit und Krankheit verlaufen auf einem Kontinuum, das uns alle betrifft. Das erfahren wir immer wieder, wenn wir oder Kolleg*innen erkranken und dann selbst zu den Menschen mit Krankheitserfahrung gehören», erklärt Hahn weiter. So seien alle Teil des Teams, können ihr Fach- und Erfahrungswissen kritisch einbringen, Entscheidungen mittragen und abhängig von persönlichen praktischen und wissenschaftlichen Kompetenzen Forschungsprojekte leiten. Mit dem Pilotprojekt «Chapp-U» setzte das Departement Gesundheit der BFH erstmals eine Co-Leitung in Kombination von wissenschaftlicher und krankheitserfahrener Expertise um. «Chapp-U» untersucht die Verbreitung und den Einsatz von Gesundheits-Apps bei der Behandlung von Personen mit psychischen Problemen (Rühle et al., 2018). Hier fungierte Sabine Rühle Andersson als Brückenbauerin zwischen Forschung, Praxis und Gesellschaft, indem sie komplexe Fragestellungen in eine für potenzielle Studienteilnehmer*innen verständliche Sprache übersetzte. Damit trug sie zu einer Steigerung der Forschungsrelevanz und -effizienz bei. Nebst vielen positiven Erfahrungen erlebte das Forschungsteam auch Herausforderungen (siehe Erfahrungsbericht). Des Weiteren passte es seine Zusammenarbeit hin zu demokratischen Prozessen an. Die Bedeutung solcher kollaborativen Prozesse in der Gesundheitspolitik und in den verschiedenen Dienstleistungsbereichen des Gesundheitswesens sowie in der Forschung wird zunehmend diskutiert (Nabatchi, 2010; Jaspers & Steen, 2018). Aufgeworfen wird dabei auch die Frage, welche Kompetenzen nötig sind, damit Menschen mit ihrem Erfahrungswissen an der Generierung von neuem Wissen beteiligt werden können. Denn gerade im psychiatrischen Setting verfügen viele sehr erfahrene Personen nicht über die nötigen akademischen Abschlüsse, um sich anerkannt in die wissenschaftliche Tätigkeit einbringen zu können. «Bei all diesen Herausforderungen ist es uns wichtig zu betonen, dass durch die Zusammenarbeit das Wissen der Forschungsmitarbeitenden mit und ohne Krankheitsexpertise vielfältig in Bezug auf das Forschungsthema verbessert wird», macht Prof. Dr. Sabine Hahn deutlich. «Wir sehen einander mit anderen Augen, und das verändert Herzen, Gedanken und Einstellungen. Wir anerkennen den Wert der jeweiligen Expertise, und die Qualität der Evidenzgenerierung verbessert sich», so Hahn. Dies gilt insbesondere, da blinde Flecken in der Forschung beleuchtet werden können und der gesamte Forschungsprozess von der Idee bis zur Publikation verbessert wird (Bombard et al., 2018).

Erfahrungsbericht von Prof. Dr. Sabine Hahn zu Herausforderungen und Chancen

«In den sechs Jahren, in denen Sabine Rühle Andersson nun bei uns arbeitet, durften wir viele positive Erfahrungen sammeln. Es gab allerdings auch schwierige Situationen zu bewältigen. Zu Beginn unserer Zusammenarbeit befanden sich alle Teammitglieder auf ungewohntem Terrain, das akzeptiert und anerkannt werden musste, sowohl von mir als Vorgesetzte als auch den Mitarbeitenden mit und ohne Krankheitserfahrung. Insbesondere von Projektleitenden wird ein hohes Mass an Reflexion und Managementfähigkeiten verlangt. Wir mussten darüber nachdenken, ob wir über die notwendigen Techniken, Verfahren und Kompetenzen verfügen, um ein auf Diversität ausgerichtetes Projektteam zu leiten. Denn manchmal ist es schwierig, sich gegenseitig mit den unterschiedlichen Hintergründen (sowohl in Bezug auf den akademischen und beruflichen Hintergrund als auch auf den Erfahrungshintergrund) zu verstehen und die Besonderheiten zu akzeptieren.

Wichtig war, dass sich alle Beteiligten ihrer eigenen Vorurteile und Stigmata gegenüber dem jeweils anderen bewusst sind. Daher benötigen die Beteiligten hohe zwischenmenschliche Fähigkeiten, Selbstreflexion und kommunikative Kompetenzen. Zudem galt es Grenzen des Machbaren auszuloten. Wann ist jemand zu krank, um zu arbeiten? Gerade bei psychischen Erkrankungen ist dies nicht immer so einfach zu entscheiden und bedingt eine gute Selbsteinschätzung der Betroffenen. Schliesslich ist die Expertise der Erkrankung eine wichtige Kompetenz in der Forschungsarbeit. Darüber hinaus stellten wir fest, dass die wettbewerbsorientierte Forschung mit hohem wissenschaftlichem Leistungsdruck und zeitlichen und finanziellen Beschränkungen die Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Menschen mit krankheitsbedingter Beeinträchtigung einschränkt. Bei reduzierter Arbeitsfähigkeit, bei Konzentrationsstörungen, bei depressiven Verstimmungen oder bei Angst kann im Projekt nicht so rasch vorangeschritten werden. Krankheitsverläufe oder Belastungssituationen können zu Arbeitsausfällen führen.

Wir wurden uns dadurch unseres Arbeitstempos bewusst und versuchten, Projekte so zu konzipieren, dass sie mit mehr Zeitressourcen ausgeführt werden können. Dies scheint eine fast unüberwindbare Hürde, da Ressourcen in der Wissenschaft knapp berechnet sind. Folglich hinterfragten wir die Bedingungen, unter denen neues Wissen produziert werden soll, und die Vorgaben der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Diese können zu Exklusion von Menschen in der Wissensgenerierung führen, die diesem Leistungsparadigma nicht entsprechen können. So versuchen wir nun, so weit es uns im Rahmen unserer Tätigkeit und der institutionellen Vorgaben möglich ist, ein stärker integratives und demokratisches Arbeits- und Teamverhalten in der wissenschaftlichen Arbeit einzunehmen.»

Diversität als Bereicherung im Forschungsteam

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