Wie erreichen wir geburtshilfliche Chancengleichheit?

27.05.2022 Die BFH bietet in ihrem Masterstudiengang für Hebammen das Modul «Diversität in der perinatalen Versorgung» an. Es hat zum Ziel, die geburtshilfliche Chancengleichheit zu fördern. Im Modul lernen die Studierenden, für Probleme der Praxis Lösungsansätze zu entwickeln.

Alle Menschen in der Schweiz sollen die gleichen Chancen auf ein gesundes Leben erhalten. Dies ist der Anspruch des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) sowie der Gesundheitsförderung Schweiz (GFCH) und ein postuliertes gesundheitspolitisches Ziel des Bundes (Weber, 2020). Im Wesentlichen besagt die schweizweite Strategie der Chancengleichheit, dass alle in der Schweiz lebenden Menschen, unabhängig von ihren sozioökonomischen Ressourcen und ihren Lebensentwürfen, Zugang zu bezahlbaren Angeboten des Gesundheitswesens haben sollen. Allerdings zeichnen sich bei der geburtshilflichen Versorgung bezüglich der Chancengleichheit zwei zentrale Probleme ab.

Zum einen haben Frauen mit Migrationshintergrund, insbesondere Frauen mit Asylstatus, im Vergleich zu Schweizerinnen ein erhöhtes Risiko für eine Frühgeburt und eine deutlich höhere mütterliche Morbiditäts- und Mortalitätsrate. Diese Daten belegen den Unterschied und die Benachteiligung dieser Gruppe. Zum anderen sind Gesundheitsfachpersonen zu wenig darauf sensibilisiert, dass soziale Umstände in direktem Zusammenhang mit solch ungünstigen Ergebnissen stehen und dementsprechend der Versorgungsbedarf von Frauen mit anderen sozialen und ökonomischen Voraussetzungen unterschiedlich ist. Mit einer Migrationsrate von ca. 25 % in der Schweiz betreuen Hebammen häufig Frauen und Familien, die von Migration, Flucht oder Armut betroffen sind. Diese Familien sind nicht nur hinsichtlich ihrer sozialen und ökonomischen Ressourcen, sondern auch gesundheitlich erheblich belastet (Guðmundsdóttir et al., 2021). Heutzutage sind Hebammen häufig nur ungenügend darauf vorbereitet, dem erhöhten Betreuungsbedarf dieser Familien Rechnung zu tragen.

Bedürfnisgerechte perinatale Versorgung

Für Hochschulen mit Curricula für Gesundheitsberufe gilt es, Studierende auf diese unterschiedlichen Voraussetzungen bezüglich der Förderung der Gesundheit der Bevölkerung zu sensibilisieren und dementsprechend auszubilden. Auch der Notwendigkeit der Schaffung neuer Versorgungsmodelle, wie dies vom BAG und der GFCH postuliert wird, sollte auf Masterstufe besondere Beachtung geschenkt werden. Eine bedürfnisgerechte und chancengleiche perinatale Versorgung erfordert von Hebammen ein systemisches Verständnis für die sozialen, ökonomischen, kulturellen und gesundheitlichen Zusammenhänge, ein Bewusstsein für die strukturellen Hürden im Zugang zur Gesundheitsversorgung und eine hohe Diversitätskompetenz (Origlia Ikhilor et al. 2019; Grand-Guillaume-Perrenoud et al., 2022).

Probleme der Praxis identifizieren und verbessern

Das achttägige Modul «Diversität in der perinatalen Versorgung» des Master-Studiengangs Hebamme an der BFH sensibilisiert die Studierenden für die Vielfalt von Lebensentwürfen und -bedingungen der Frauen und Familien. Es thematisiert die damit einhergehenden Risiken für eine Benachteiligung in der Gesundheitsversorgung. Die Studierenden lernen Konzepte und Theorien zur Diversität und Begriffe der sozialen Ungleichheit und Vulnerabilität kennen. Sie entwickeln ein Bewusstsein dafür, wie soziale Benachteiligung den Zugang zu einer fristgerechten und adäquaten Gesundheitsversorgung während Schwangerschaft und in der Zeit nach der Geburt beeinflussen kann. Insbesondere verstehen sie diese Zusammenhänge aus einer strukturellen Perspektive und nicht als individuelles Problem einzelner Personen einzuordnen.

Die Studierenden erhalten im Modul die Aufgabe, in ihrem Praxissetting einen Problembereich zu identifizieren und ein Modell zu entwickeln, das für die vulnerablen Gruppen eine verbesserte Versorgung erreicht. Indem die Studierenden mit diesem Unterrichtskonzept ein Modell für die eigene Hebammenpraxis entwickeln, tragen sie direkt zur Verbesserung der Situation für die Betroffenen bei.

Geburtshilfe Chancengleichheit

3 Lösungsansätze für die Praxis

Aufsuchende Betreuung durch Hebammen bereits während der Schwangerschaft

Indem sozial benachteiligte Schwangere bereits während der Schwangerschaft von Hebammen aufgesucht werden, kann ihre Gesundheitsversorgung verbessert werden. Eine institutionalisierte Zusammenarbeit mit den Behörden hilft, die Bedürftigkeit der Frauen und Familien festzustellen und Hürden für die Inanspruchnahme der Hebammenbetreuung abzubauen.

Verbesserung der sprachlichen Verständigung

Um die Verständigung zwischen Frauen mit wenig Deutschkenntnissen und den Hebammen zu verbessern, z. B. während eines Anamnesegesprächs oder beim Austausch von wichtigen Informationen, sollten interkulturell Dolmetschende eingesetzt werden, sei dies vor Ort oder via Telefon. Auch Übersetzungs-Apps können bei der Sprachbarriere helfen.

Verbesserung des Zugangs zu Angeboten der ausserklinischen Geburtshilfe

Ausserklinische Geburtshilfeangebote (z. B. Geburtshäuser, Wochenbettbetreuung zu Hause) sind gegenüber den herkömmlichen, stationären Angeboten flexibler und dadurch personenzentrierter gestaltet. Hebammen können dadurch besser auf individuelle Bedürfnisse von Schwangeren und Müttern eingehen. Da diese Form der Geburtshilfe vor allem von gut gebildeten Schweizerinnen genutzt wird und Frauen mit einem tieferen sozioökonomischen Status oft unbekannt ist, sollte sie letzteren besser zugänglich gemacht werden.

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