Warum Ernährungsmanagement in Alters- und Pflegeheimen mehr Aufmerksamkeit braucht

06.03.2023 Ernährungsmanagement ist in Alters- und Pflegeheimen ein noch weitgehend unbeachtetes Gebiet. Dabei leiden viele ihrer Bewohner*innen an Mangelernährung. Gesundheitsfachpersonen sollten dieses Thema gemeinsam angehen.

Die vulnerable Bevölkerungsgruppe der Alters- und Pflegeheimbewohner*innen ist durch altersbedingte pathologische und ernährungsbedingte Veränderungen und Beeinträchtigungen besonders vom Risiko einer Mangelernährung betroffen. Im Rahmen des Masters of Science (MSc) Ernährung und Diätetik an der Berner Fachhochschule führte Andrea Zurfluh einen Literaturreview zu dieser Thematik durch. In Europa sind 14 – 21 % der Bewohner*innen in Alters- und Pflegeheimen (APH) von einer Mangelernährung betroffen, weitere 4 – 52 % weisen ein Risiko dazu auf (Cereda et al., 2016). Eine Mangelernährung im Alter ist assoziiert mit höheren Inzidenzen von Infektionen, Wundheilungsstörungen, Sarkopenie, Gebrechlichkeit, Sturzereignissen und somit einer verminderten Lebensqualität (Agarwal et al., 2016; Salminen et al., 2020).

Auf nationaler Ebene sind die Pflegeheime seit 2019 gemäss Art. 22a des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) und Art. 77 der Verordnung über die Krankenversicherung (KVV) verpflichtet, Daten zur Messung von medizinischen Qualitätsindikatoren (QI) zu erheben, einer davon ist die Mangelernährung. Es zeigte sich eine Prävalenz der Mangelernährung zwischen 5 bis 34 % (Curaviva Schweiz, 2018a).

Ernährungsinterventionen erhöhen Lebensqualität

Obwohl mit der nationalen Vorgabe zur Erfassung der Mangelernährung ein erster Schritt erfolgt ist, sind in der Schweiz praktisch keine Ernährungsfachpersonen in APH vertreten (Mahlstein & Weishaupt, 2018). Durch fehlende Ressourcen sowohl der Pflege als auch der Ernährungsberatung, einer inkorrekten Anwendung des Mangelernährungs-Screenings sowie fehlendem Wissen zur Mangelernährung, bleiben individuelle ernährungstherapeutische Interventionen oftmals aus (Fleurke et al., 2020). Ein professionelles Screening, Assessment und daraus abgeleitete Ernährungsinterventionen tragen jedoch massgeblich zur Behandlung und Verbesserung der Mangelernährung und der Lebensqualität von Personen in Pflegeinstitutionen bei (Beck et al., 2016; Keller et al., 2017).

Die Berner Fachhochschule untersuchte unter der Leitung von Franziska Scheidegger-Balmer Chancen und Herausforderungen von Ernährungsmanagement an APH und schlug personalisierte Ansätze zur Verbesserung vor. In zwei APH, eines davon ein Kompetenzzentrum Demenz, wurden anhand eines semistrukturierten Interviewleitfadens qualitative Einzelinterviews sowie ein Fokusgruppeninterview mit Mitgliedern der Geschäftsleitung, Heimarzt und Heimärztin sowie Mitarbeitenden aus den Bereichen Pflege, Hauswirtschaft und Küche durchgeführt. Weiter wurden Einblicke in den Praxisalltag, bestehende Prozesse und Systeme der beiden APH gewonnen. Dabei zeigte sich eine erste Sensibilisierung hinsichtlich des Themas Mangelernährung. So führen beide APH standardmässig bei neu eintretenden Heimbewohner*innen ein Screening durch, um ein Risiko für eine Mangelernährung festzustellen. Gleichzeitig wurden dabei auch einige Unklarheiten offensichtlich, z.B. bezüglich der Bedeutsamkeit eines solchen Screenings und der Tatsache, dass dieses regelmässig wiederholt werden sollte, um das Risiko für eine Mangelernährung rechtzeitig zu entdecken. Ausserdem, dass im Falle eines solchen Risikos jeweils ein Ernährungs-Assessment folgen sollte, da allein aufgrund eines Screenings nicht entschieden werden kann, ob und welche Ernährungsinterventionen indiziert sind. So beschrieben es Mitarbeitende aus Pflege und Hauswirtschaft beispielsweise als grosse Herausforderung, nächste Schritte einzuleiten, wenn aus einem Screening ein Ernährungsrisiko resultierte. Weiter wurden in den Interviews immer wieder Bedenken hinsichtlich der Sinnhaftigkeit von Ernährungsinterventionen in APH geäussert. Die Mitarbeitenden sahen den Fokus bei den Heimbewohner*innen vor allem auf der Erhaltung der Lebensqualität und weniger auf einem adäquaten Ernährungszustand, ohne den Zusammenhang zwischen beiden zu erkennen.

Interprofessionelle Zusammenarbeit als Erfolgsfaktor

Durch interprofessionelle Workshops mit Ernährungsfachpersonen konnten die Mitarbeitenden in den beiden Einrichtungen sensibilisiert und geschult werden sowie konkrete Massnahmen und Arbeitspapiere erarbeitet werden, um das Ernährungsmanagement stärker zu verankern.

Ernährungsmanagement ist eine therapeutische Massnahme zur Prävention einer Mangelernährung, Verbesserung des Gesundheitszustandes und der Lebensqualität. Ernährungsberater*innen können ein APH dabei vielfältig unterstützen (siehe Box).  Interprofessionelle Zusammenarbeit mit Geschäftsleitung, Pflegenden, Hotellerie, Küche und Ärzt*innen ist dafür ein wichtiger Erfolgsfaktor.

Mangelernährung in APH
Bewohner*innen von Alters- und Pflegeheimen sind besonders vom Risiko einer Mangelernährung betroffen. (Quelle: Adobe Stock)

Was können Ernährungsberater*innen einem APH bieten?

  • Institutionelle Unterstützung für korrekte und flächendeckende Anwendung des Qualitätsindikators Mangelernährung
  • Beratung und Betreuung von Personal und Bewohnenden bei Ernährungsfragen/-problemen
  • Entlastung von Pflege und Küche
  • Vernetzung von Küche, Hauswirtschaft, Pflege, Ärzteschaft
  • Individualisierte Ernährungsberatung und -therapie: Konsistenzadaption, persönlichen Essbiographien, individuellen Nährstoffbedürfnisse, Kostformen, mit individualisierten Lösungen Bewohnendenpräferenzen und Ernährungsziele annähern
  • Entwicklung von Richtlinien: z.B. Umgang mit Nahrungs- und Flüssigkeitsverweigerung oder Spezialprodukten
  • Schulungen: Küchenpersonal, Hauswirtschaft, Pflege, Betreuung, Aktivierung, Ärzteschaft
  • Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität der Bewohnenden
  • Ernährungsstatus und Abklärung von Mangelernährungszuständen, individuelle Ernährungsinterventionen

Eine Herausforderung in der Praxis ist der enge finanzielle Rahmen, der einen Einbezug von Fachpersonen erschwert. Hier müssen weitere Überlegungen ansetzen, um APH beim Ernährungsmanagement zu unterstützen. Möglichkeiten, durch ärztliche Verordnung z.B. freiberufliche Ernährungsberater*innen einzubeziehen und Abrechnung über die Grundversicherung (wie vereinzelt schon erfolgreich etabliert) oder eine Einbeziehung von Ernährungsberater*innen im Angestellten- oder Mandatsverhältnis sollten verstärkt genutzt werden. Dabei sollte auch berücksichtigt werden, dass aus der Mangelernährung im Alter in der Schweiz jährliche Folgekosten von 526 Mio. Franken entstehen (Balmer & Imoberdorf, 2018) und eine erfolgreiche Prävention und Behandlung Kosten einsparen könnte.

Neue Praxisprojekte sollten sich diesem wichtigen Thema annehmen und das Bewusstsein für die Notwendigkeit des Ernährungsmanagement in APH weiter vorantreiben. Die Evidenz zeigt, dass ein qualifiziertes Ernährungsmanagement die Lebensqualität und damit das Wohl der Bewohnenden verbessern kann.

Referenzen

Weitere Referenzen können auf Anfrage von den Autorinnen zugesandt werden

Die Autorinnen

Undine Lehmann
Prof. Dr. Undine Lehmann ist Leiterin des MSc Ernährung und Diätetik und forscht zu verschiedenen Themen der Ernährung und Diätetik, mit einem Fokus auf Mangelernährung und Sarkopenie.
Franziska Scheidegger
Franziska Scheidegger ist wissenschaftliche Assistentin am Departement Gesundheit der Berner Fachhochschule und forscht unter anderem zur Prävention von Mangelernährung.
Andrea Zurfluh
Andrea Zurfluh ist Absolventin des MSc Ernährung und Diätetik an der BFH und arbeitet als Therapieexpertin Ernährungsberatung im Berner Reha Zentrum Heiligenschwendi.

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Fachgebiet: Institut Alter
Rubrik: Institut Alter