«Wir sollten Eltern darin unterstützen, sich in ihre Kinder besser hineinzuversetzen»

16.09.2022 In stark zerstrittenen Familien sind häufig die Kinder die Leidtragenden: Eia Asen – als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Systemischer Therapeut Experte für Hochstrittigkeit – berichtet im Interview über destruktive Beziehungsdynamiken, deren Auswirkungen auf Kinder und welche Beratungsansätze Auswege ebnen.

Hochstrittigkeit ist in der Arbeit mit Eltern in Trennungssituationen ein brennendes Thema, insbesondere mit dem Blick auf die damit verbundenen Belastungen der Kinder.
Wie lässt sich die Dynamik in diesen Dreiecks-Prozessen beschreiben?

Eia Asen: Häufig werden Kinder in elterliche Konflikte hineingezogen. Wir sprechen von «Triangulierungsprozessen», wenn Kinder mit einem Elternteil eine problematische Allianz gegen den anderen Elternteil eingehen. In solchen Szenarien befinden sich Kinder verstärkt in Gefahr, ‘adultifiziert’, ‘parentifiziert’ oder ‘infantilisiert’ zu werden (Anm. d. Red.: adultifiziert = das Kind behandeln, als wäre es erwachsen, parentifiziert = Kind im Sinne einer Rollenumkehr behandeln als hätte es die Elternfunktion; infantilisiert = das Kind bevormundend behandeln). 

Die entstehenden Dynamiken sind am besten zu verstehen, wenn man die Sichtweisen und Haltungen aller an dem Dreieck Beteiligten zu verstehen versucht: die des Elternteils, mit dem das Kind lebt oder die meiste Zeit verbringt (dem «näheren Elternteil»); die des Elternteils, bei dem das Kind weniger oder keine Zeit verbringt (dem «distanzierteren Elternteil») und die des betroffenen Kindes. So kann z.B. der nähere Elternteil zu den Triangulierungsprozessen beitragen, indem er sich kritisch dazu äussert, wie der distanziertere Elternteil das Kind behandelt oder behandelt hat. Dies kann zur Folge haben, dass der dem Kind nähere Elternteil aufrichtig glaubt, die Beziehung zwischen dem Kind und dem distanzierteren Elternteil müsse eingeschränkt oder völlig unterbunden werden, um es vor inadäquater oder gar schädlicher elterlicher Betreuung zu bewahren. 

Eine weitere Dynamik, die zu Triangulierungsprozessen beitragen kann, besteht darin, dass sich der nähere Elternteil immer stärker auf die emotionale Unterstützung und Präsenz des Kindes verlässt. Dadurch wird das Kind in die «Sache» des näheren Elternteils hineingezogen und negativen Gefühlen dem früheren Partner, der früheren Partnerin gegenüber ausgesetzt. Das kann dazu führen, dass das Kind sich nach und nach aus Loyalität – und um seine bestehende Beziehung zu schützen – vom anderen Elternteil distanziert. Kinder werden durch solche Dynamiken schwer belastet und erleiden oft extreme Formen emotionalen Missbrauchs und Vernachlässigung.

Sie haben mit Ihren Kolleg*innen den «Family Ties»-Ansatz speziell für die Arbeit mit Familien bei massiven Elternkonflikten entwickelt. Worauf fokussiert dieser Ansatz und welche Konzepte liegen ihm zugrunde?

Es geht darum, positive familiäre Verbindungen und Beziehungen zu stärken und die Kinder von den Einschränkungen und Fesseln zu befreien, die sich leider oft in stark zerstrittenen Familien entwickeln. Der Ansatz integriert Bindungs- und Mentalisierungskonzepte in einen systemischen Rahmen, also in die Familie und die verschiedenen Systeme, denen sie angehört. So arbeitet der «Family-Ties»-Ansatz nicht nur mit den Eltern oder der unmittelbaren Kernfamilie, sondern auch mit den sozialen Kontexten, in denen die Familien sich bewegen: der erweiterten Familie, dem Freundeskreis oder mit weiteren Unterstützenden.

Eia Asen
Eia Asen ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie und Systemischer Therapeut. Seit 2013 ist er am Anna Freud National Centre for Children and Families tätig und Gastprofessor am University College London. Eia Asen ist Begründer des Marlborough Modells der Multifamilientherapie.

Sie sind für die Verbreitung des mentalisierungsbasierten Ansatzes bekannt, in dem es darum geht, mentale Zustände wie Gedanken und Gefühle und daraus resultierende Handlungen bei sich selbst und beim Gegenüber wahrnehmen und verstehen zu lernen. Welchen Einfluss hat das Mentalisieren auf das Bindungsverhalten der Kinder und was bedeutet das für die praktische Arbeit mit hochstrittigen Eltern?

Während betroffene Kinder oft vor der Entstehung von massiven Konflikten ihrer Eltern eine gute und sichere Bindung zu beiden Elternteilen aufgebaut haben, kann sich ihr Bindungsverhalten in Reaktion auf elterliche Konflikte verändern, weil sie versuchen, sich die elterliche Zuwendung mindestens eines Elternteils zu erhalten. So könnten sie glauben, es sei nicht erwünscht, beiden Eltern Liebe zu zeigen, also auch dem Elternteil, bei dem sie nicht mehr leben. Möglicherweise kommt ihnen das wie ein Verrat am näheren Elternteil vor. Sie lernen vielleicht auch, dass der Elternteil, der ihnen näher steht, loyales Verhalten mit Zuneigung, Aufmerksamkeit und sogar Geschenken belohnt. 

Bindung entwickelt sich gewöhnlich im Kontakt mit primären Bezugspersonen, und ihre Qualität wird durch das Mentalisierungsvermögen der Menschen im näheren Umfeld beeinflusst. Gerade bei Hochstrittigkeit können wir erleben, dass es Eltern nicht möglich ist, sich auf ihre eigenen mentalen Zustände und auch auf jene der Kinder zu fokussieren. Sie sind nicht mehr imstande, die Auswirkungen ihres Verhaltens auf die Kinder oder den Ex-Partner, die Ex-Partnerin wahrzunehmen.

Die Interventionen in der Beratung hochstrittiger Eltern sollen effektives Mentalisieren stärken und eine nicht-mentalisierende Kommunikation zwischen den Eltern möglichst unterbinden. 

Im Kontext des zivilrechtlichen Kindesschutzes müssen Eltern oftmals an einer angeordneten Beratung oder Mediation zur Konfliktklärung teilnehmen. Was ist Ihre Haltung zu den so genannten Pflichtkontexten?

Pflicht- oder Zwangskontexte können in bestimmten Situationen hilfreich sein, trotz anfänglicher Proteste sowohl der betroffenen Eltern als auch der Kinder. Bei chronischer elterlicher Hochstrittigkeit zeigt unsere Erfahrung, dass eine von Gerichten angeordnete Beratung oder Mediation gerade Kindern helfen kann, die sonst weiterhin massiv – und für Jahre – in Triangulierungsprozesse verwickelt wären.

Welche Beratungshaltung ist hier förderlich, um trotzdem mit den Eltern in eine konstruktive Zusammenarbeit zu kommen?

Wichtig ist, von Anfang an eine Allianz mit beiden Eltern in Einzelarbeit aufzubauen: Das bedeutet oft, dass man sich die gegenseitigen Beschuldigungen und vergangenen Ereignissen geduldig anhört, denn jeder Elternteil will sich von den Beratenden wirklich gehört und verstanden wissen. Oft dauert es einige Zeit, bevor der Fokus von der  «furchtbaren» Ex-Partnerin oder dem «verantwortungslosen» Ex-Partner auf das Kind verschoben werden kann.

In der Sozialen Arbeit begegnen wir immer wieder Familien, in denen ein Elternteil psychisch erkrankt ist. Welche Rolle spielt eine Diagnose bzw. die psychische Gesundheit von Eltern in Ihrem Modell?

Diagnosen sagen meiner Meinung nach – und ich bin Psychiater – wenig über Umfang und Qualität der Elternfähigkeit aus. Es gibt Eltern mit der Diagnose Schizophrenie, die fantastisch mit ihren Kindern umgehen – und es gibt Eltern ohne jede Diagnose, denen man das Sorgerecht entziehen muss oder sollte. Gerade bei hochstrittigen Eltern ist es immer wieder der Fall, dass sich Eltern gegenseitig «Diagnosen» zuschreiben. Da wird eine Mutter von ihrem Ex-Partner als Borderline «diagnostiziert» und dort dem anderen Elternteil eine «narzisstische Persönlichkeitsstörung» zugeschrieben. Der Fokus unserer Arbeit sollte es nicht sein, die «Diagnosen» und die in ihnen enthaltenen massiven Schuldzuweisungen zu bestärken oder zu verwerfen, sondern das Augenmerk exklusiv auf die Situation der Kinder und deren Leiden zu richten. Wir sollten Eltern darin unterstützen, sich in ihre Kinder besser hineinzuversetzen, um sie so von den Fesseln der Konflikte zu befreien.

Welche bedeutsame Erfahrung aus Ihrer Arbeit mit hochstrittigen Eltern können Sie mit uns teilen?

Wir haben in den letzten Jahren gelernt, dass die Hauptarbeit vornehmlich mit den Eltern und deren sozialen Netzwerken stattfinden sollte. In unserem pandemiebedingt entwickelten «Family-Ties»-Online-Programm nehmen die Kinder nur an zwei von insgesamt zehn Online-Treffen teil (beim ersten und letzten Mal) – die übrigen Treffen finden mit den Eltern und ihren Unterstützungspersonen statt. Werden Kinder im Beratungsprozess zu intensiv einbezogen, besteht die Gefahr, dass sie unbeabsichtigt weiter trianguliert und zu vermeintlichen «Co-Therapeut*innen» werden. Denn es sollte eigentlich die Aufgabe aller Eltern sein, ihren Kindern eine konfliktfreie Kindheit und Jugend zu ermöglichen.

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Rubrik: Weiterbildung