«Jedes Delikt hat eine Geschichte» – ein Gespräch über Hindelbank

24.01.2023 Stellen Sie sich vor, Sie haben kein Mobiltelefon, teilen zwei Telefonkabinen mit 22 anderen. Möglichkeiten, Ihre E-Mails zu checken, gibt es kaum. Wenn Sie nicht gerade arbeiten, leben Sie in einer Gruppe mit Menschen, die Sie sich nicht ausgesucht haben. So geht es den Insassinnen in der Justizvollzugsanstalt Hindelbank. Hier wirkt unsere Beirätin Annette Keller.

Hindelbank sei ein besonderer Ort, meinte ein Mitglied der Departementsleitung nach einem Besuch im Sommer 2022. Manch eine Studentin berichtete Ähnliches während des Praxismoduls in der Justizvollzugsanstalt (JVA). Annette Keller ist seit 2011 Direktorin der JVA und hat sie geprägt. Die Ostschweizerin studierte ursprünglich Theologie, arbeitete als Pfarrerin und entschloss sich dann, Soziale Arbeit zu studieren. Als Sozialarbeiterin war sie auf dem Sozialdienst der Universitären Psychiatrischen Dienste und als Betreuerin in der JVA tätig. 

Sie sind als Direktorin von Hindelbank Kantonsangestellte. Wie unterscheidet sich Ihr Arbeitsalltag von anderen Verwaltungsstellen?

Annette Keller: Es ist kein normaler Bürojob. Eine Vollzugsanstalt ist ein stationärer Betrieb. Dieser läuft an sieben Tagen pro Woche 24 Stunden. Es arbeiten nicht nur Menschen hier, sondern es leben auch Menschen hier. Es ist ein Zwangskontext – und doch gilt es, diesen als förderlichen Lebensort zu gestalten. Dieser Grundauftrag prägt meinen Arbeitsalltag. Das Miteinander ist interdisziplinär: Bei uns sind Sozialarbeitende, Sicherheitsangestellte, Arbeitsfachpersonal und Verwaltungsleute tätig. Auch dass in der JVA ausschliesslich Frauen eingewiesen sind, prägt den Alltag.

Bleiben wir noch etwas bei Ihren Mitarbeitenden. Was bedeutet es, Menschen mit derart verschiedenen Berufshintergründen zu führen? 

Wir müssen das Verständnis füreinander bewusst fördern. Nicht alle können das Gleiche und doch braucht es alle. Jedes Jahr gibt es ein übergeordnetes Jahresziel, um das Verständnis für die Aufgaben der anderen zu fördern und die Zusammenarbeit zu vertiefen.

Wie ist es, wenn Sicherheitspersonal und Sozialarbeitende zusammenarbeiten? Prallen da Welten aufeinander?

Das war einmal. Unterdessen besteht nicht nur in Hindelbank der Konsens, dass die Grundlage für die Sicherheit die Beziehungsgestaltung ist. Daher ist klar, dass auch die Sozialarbeitenden einen Sicherheitsauftrag haben, und unsere Sicherheitsleute sind geschult in Beziehungsgestaltung und respektvollem Umgang. Die beiden Berufsgruppen haben sich sehr angenähert. Es gibt unterdessen eine Kultur, die dafür sorgt, dass beides ineinandergreift.

Annette Keller, Direktorin der Justizvollzugsanstalt Hindelbank
«Es gibt ganz viele Biografien, bei denen man sagen muss, wenn ich so aufgewachsen wäre und eine solche Beziehung gehabt hätte, wer weiss, was aus mir geworden wäre»: Annette Keller über ihren Berufsalltag.

Welche Ausbildung hat das Sicherheitspersonal in Hindelbank?


Alle verfügen über eine Berufsausbildung und eine zweijährige Zusatzausbildung als Fachperson Justizvollzug. Ihr Auftrag ist anders als etwa derjenige der Polizei. Unser Sicherheitspersonal muss die Insassinnen begleiten und dafür sorgen, dass sie im Setting der Anstalt über längere Zeit sicher leben und ihre Kompetenzen entwickeln können.

Damit wären wir beim gesetzlichen Auftrag: Sie vollziehen Urteile, die ein Gericht gesprochen hat, und sorgen für die Wiedereingliederung der Insassinnen. Wie setzen Sie das um?


Vieles ist vorgegeben und doch besteht Spielraum. Im Strafgesetzbuch steht, dass die Anstalt so organisiert sein muss, dass sie möglichst den normalen Lebensverhältnissen entspricht. Wir sollen das soziale Verhalten der Insassinnen fördern und ihre Fähigkeit, straffrei zu leben. Zudem müssen wir potenziell schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs entgegenwirken.

Inwiefern?

Wenn man «eingesperrt» ist und in einer Institution mit vielen Regelungen lebt, hat das Folgen: Vieles ist vorgegeben, man ist weniger gefordert und wird unselbständiger. Dem müssen wir bewusst entgegentreten, indem wir zwar Betreuung, Ordnung und Sicherheit gewährleisten, aber doch Raum für Eigenverantwortung schaffen. 

Gibt es Vorurteile gegenüber dem Justizvollzug, die Sie nerven?

Der Vorwurf der Kuscheljustiz. Manche Leute denken, unser Auftrag sei es, die Insassinnen schlecht zu behandeln. Das ist falsch. Die Strafe besteht darin, dass die verurteilten Personen nicht wählen können, wo sie leben. Viele vergessen zudem, wie einschränkend der Alltag in einer so hoch geregelten Institution ist. Und was mich auch stört: Wenn Leute das Gefühl haben, es gäbe per se gute und böse Menschen. 

Können Sie das widerlegen?

Ich habe noch keine Insassin getroffen, die nur dunkle Seiten hat. Jedes Delikt hat eine Geschichte. Wenn man diese kennt, kann man manches nachvollziehen. Was nicht bedeutet, das Delikt zu rechtfertigen. Es gibt ganz viele Biografien, bei denen man sagen muss, wenn ich so aufgewachsen wäre und eine solche Beziehung gehabt hätte, wer weiss, was aus mir geworden wäre. Aber trotz allem ist mir wichtig: Die Frauen sind nicht nur Opfer, sie müssen Verantwortung übernehmen für ihr Leben.

Was ist das Besondere an Ihrer Vollzugsanstalt?

Das Offensichtliche: Die Insassinnen sind Frauen, und die JVA Hindelbank ist die einzige Anstalt für Frauen in der Deutschschweiz. Deshalb werden hier im Unterschied zu Anstalten für Männer alle Vollzugsstufen vollzogen, vom Hochsicherheitstrakt über den geschlossenen und den offenen Gruppenvollzug bis hin zum Arbeitsexternat, und alles sowohl im Straf- wie im Massnahmenvollzug. Besonders ist auch, dass in der Wohngruppe «Mutter und Kind» Kinder mit ihren Müttern leben.

Welche Werte prägen die JVA?

Jeder Mensch hat eine Würde und behält sie. Jeder Mensch hat Bedürfnisse, eines davon ist dasjenige nach einem Sinn und Ziel im Leben. Nur wenn diese ernst genommen werden, kann sich ein Mensch entwickeln. Dafür braucht es Respekt und Empathie, aber auch Verantwortungsbereitschaft und Verbindlichkeit.

Bei Ihnen arbeiten im Vergleich zu anderen Justizvollzugsanstalten viele Sozialarbeitende. Hängt das damit zusammen?

Es hängt mit dem Modell der «wohngruppenintegrierten Sozialarbeit» zusammen. Das heisst, die Wohngruppen der Insassinnen werden von ausgebildeten Sozialarbeitenden geführt und betreut. Das ermöglicht einen intensiveren Kontakt zwischen den Sozialarbeitenden und den Insassinnen für die psychosoziale Begleitung, die Arbeit an den individuellen Vollzugszielen und für die Vorbereitung der Entlassung. Im Gegenzug gibt es dafür keinen zentralen Sozialdienst.

Inwiefern macht die Ausbildung in Sozialer Arbeit einen Unterschied?

Jede Frau in Hindelbank hat eine komplexe Lebenssituation. Ausgebildete Sozialarbeitende haben Methoden gelernt, solche Situationen zu analysieren und einen Handlungsplan zu erstellen, im Justizvollzug ist das der Vollzugsplan. Dazu kommen Kompetenzen in der Gesprächsführung und der Lösungsorientierung. Ausgebildete Sozialarbeitende kennen das Sozialwesen der Schweiz und wissen über die Ressourcenerschliessung Bescheid. Dies ist bei den Entlassungsvorbereitungen wichtig, um die Frauen am neuen Ort vernetzen zu 
können.

Was ist Ihnen als Führungskraft einer Institution, in der vorwiegend Frauen leben und arbeiten, wichtig?

Das ist schwierig zu beantworten, ohne zu stark zu stereotypisieren. Ich versuche es: In der JVA Hindelbank leben hundert Frauen. Eine Mehrheit dieser Frauen hat im Laufe ihrer Geschichte selbst Missbrauch oder Gewalt erfahren. Das hinterliess Spuren in ihrem Erleben und ihrer Emotionalität. Deshalb ist «traumabewusstes Handeln» eines der Grundprinzipien der JVA Hindelbank und notwendig. Viele Delikte geschahen, weil eine Frau vorher keine Erwartung an ihre Selbstwirksamkeit hatte oder nicht wagte, früh genug Nein zu sagen. Es ist wichtig, dass diese Frauen lernen, sich sicher zu fühlen, für sich einzustehen und Verantwortung zu übernehmen.

Bei den Mitarbeitenden ist durch den hohen Anteil Frauen das vermittelnde und integrative Element stark vertreten. Das finde ich für unseren Auftrag bedeutsam.

Auf welche Herausforderungen treffen Sie aufgrund der sozialen und kulturellen Vielfalt der Insassinnen in Hindelbank?

Ganz viele. Ich gebe einfach zwei Beispiele. Es gibt auch drogenabhängige Insassinnen. Diese haben oft viel Druck durch die Sucht. Drogen sind verboten, es gibt Sanktionen und trotzdem sind Drogen oft ein Thema. Manchmal schafft es auch jemand, Drogen hineinzuschmuggeln. Jene Insassinnen, die nicht abhängig sind, stört das ewige Gerede um Drogen. Eine andere Herausforderung ist es, wenn aus einem bestimmten Land sehr viele Frauen da sind. Es kann vorkommen, dass diese Gruppe dominierend wird. Das gibt Spannungen in der Wohngruppe. Wir versuchen, die Personen zu mischen, haben aber nicht immer genügend Handlungsspielraum. 

Die Frauen verbringen ihre Zeit nur nachts in den Einzelzellen. Wenn sie tagsüber ihre Arbeit erledigt haben und kein Freizeitangebot besuchen, sind sie in der Wohngruppe. Sie sind selten allein. Kommt es oft vor, dass es laut wird?

Ja natürlich kommt das vor, zum Beispiel wenn eine Frau Ruhe möchte und eine andere Frau laut Musik hört. Die Wohngruppe ist ein anspruchsvolles Feld des Zusammenlebens und für einige eine nervenaufreibende Herausforderung. Die Frauen lernen hier unter anderem, für sich einzustehen und gleichzeitig die Bedürfnisse anderer zu respektieren. Genau dafür braucht es die Sozialarbeitenden auf den Gruppen, die die Frauen beim Stärken ihrer sozialen Fertigkeiten unterstützen. Eine solche Betreuung ist auf jeder Gruppe präsent. 

Ist auch jemand von der Sicherheit anwesend?

Nein, das ist nicht nötig. Die Sicherheitsleute können aber bei einem Notfall sofort gerufen werden. Das geschieht eher selten.

Welche Kompetenzen sind Ihnen wichtig bei Ihren Mitarbeitenden? Kann die Fachhochschule diese in der Ausbildung schon fördern?

Viele der notwendigen Kompetenzen habe ich schon erwähnt. Zentral ist die Fähigkeit für professionelle Beziehungsgestaltung mit einer guten Balance von Nähe und Distanz. Wichtig sind auch interkulturelle Kompetenzen, Fremdsprachenkenntnisse und Fachwissen über prekäre und marginalisierte Lebensbedingungen sowie über psychische Krankheiten.

Wie wichtig ist Lebenserfahrung?

Sie ist sicher von Vorteil. Was nicht heisst, dass man älter sein muss, man kann auch als junger Mensch einen wertvollen Erfahrungsrucksack mitbringen. Das Wichtigste ist, offen und vorurteilslos auf Menschen zugehen zu können. 

Interview Beatrice Schild, 22. September 2022

Dieser Artikel ist im Januar 2023 im Fachmagazin «impuls» erschienen.

«Eine Mehrheit dieser Frauen hat (...) selbst Missbrauch oder Gewalt erfahren. (...) Deshalb ist 'traumabewusstes Handeln' eines der Grundprinzipien der JVA Hindelbank (...).»

Annette Keller auf die Frage, was ihr als Führungskraft einer Institution wichtig sei, in der vorwiegend Frauen leben und arbeiten.

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