Markus Bieri - Schutzsuchende mit «Status S» in den Gemeinden unterstützen und betreuen

31.08.2022 Zahlreiche Menschen aus der Ukraine erreichten im Frühjahr 2022 das Frutigland im Berner Oberland und benötigten Hilfe. Auch die lokale Solidarität forderte die Gemeinden: viele Private fragten an, um zu helfen. Die erste Betreuung und Koordination übernahm vorerst der Regionale Sozialdienst Frutigland. Unterdessen sind einige Geflüchtete wieder abgereist. Was diejenigen beschäftigt, die geblieben sind und mehr, erzählt der Leiter des regionalen Sozialdiensts.

Markus Bieri, Leiter des regionalen Sozialdiensts
«Die Trennung von Familien ist eine sehr hohe psychische Belastung.»: Markus Bieri über die Sorgen der ukrainischen Schutzsuchenden.

Markus Bieri, die Anzahl Ukrainer*innen ist in Ihren Gemeinden in den letzten beiden Monaten stabil geblieben. Es sind vor allem Angehörige schon Geflüchteter dazugekommen und keine neuen Familien. Welche Sorgen treiben die Menschen um, mit denen Sie in Kontakt stehen? 
 

Viele der Geflüchteten wollen möglichst rasch in ihre Heimat zurück. Oft sind Mütter mit Kindern bei uns untergekommen, deren Partner im Krieg sind. Es ist ersichtlich: Die Trennung von Familien ist eine sehr hohe psychische Belastung und der Abbau dieser psychischen Spannungen gelingt unterschiedlich gut. Ungünstiges Coping-Verhalten führt leider manchmal auch zu Gefährdungssituationen. Es ist allerdings schwer einzuschätzen, ob diese Belastungen zugenommen haben. 

Es bleibt unverändert wichtig, nahe an den Geflüchteten zu bleiben, um stets ihre Anliegen und mögliche Ängste zu kennen, damit Unterstützung bedarfsorientiert sichergestellt werden kann. Aktuell sorgen sich viele Geflüchtete wegen des Winters und einer allfälligen Rückkehr in die Heimat. Lebenswichtige Ressourcen, wie beispielsweise Gas zum Heizen der Wohnungen, könnten wegen dem Krieg dort bald fehlen und dadurch das Überleben gefährden.  

Unverändert ist auch, dass im Alltag kulturelle Unterschiede vorhanden sind. Obwohl es bisher zu keinen offensichtlichen Konfliktsituationen zwischen Ukrainer*innen und Geflüchteten aus anderen Ländern kam, werden die ungleiche Behandlung und teilweise auch die unterschiedlichen Ressourcenzugänge bei den Betroffenen artikuliert.

Ukrainische Familie, die ohne den Vater fliehen musste.

Haben Sie auf dem Sozialdienst heute Möglichkeiten die individuellen Bedürfnisse der Geflüchteten genau abzuklären? Im Interview, das wir im Mai führten,  hatten Sie geschildert, wie schwierig dies wegen des grossen Andrangs war. 
 

Der kommunale Sozialdienst beschäftigt sich aktuell kaum mit Geflüchteten aus der Ukraine, weil die Unterstützung und die Betreuung vom regionalen Partner im Asylbereich «Verein Asyl Berner Oberland» (ABO) geleistet wird. Uns bleibt einzig, mit den anderen Akteuren zusammen sicherzustellen, dass es keine Doppelspurigkeiten gibt.

Die Leiterin der Sozialarbeitenden von ABO macht im Austausch allerdings klar, wie unverändert herausfordernd die materielle Unterstützung der Geflüchteten aufgrund der grossen Menge ist. Der Personalbestand von Fachleuten musste beinahe verdoppelt werden, das heisst viele Fachleute werden noch eingeführt und eine differenzierte materielle Bedarfsabklärung ist kaum möglich. 
 

Ukrainische Familie nimmt Hilfspakete in Empfang.

Sind alle auf materielle Unterstützung angewiesen oder konnten die Sozialdienste auch Arbeit vermitteln?
 

Die Mehrheit bleibt auf Unterstützung angewiesen, ja. Einige haben unterdessen Arbeit gefunden, in Frutigen beispielswiese als Betreuende von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (UMA) bei der Institution «Zugang B». Andere konnten in der Gastronomie, als Reinigungskraft, zur Schüler*innen-Unterstützung und in der Hydraulikbranche eine Anstellung finden. 

Die Arbeitsvermittlung übernimmt teilweise eine private Organisation (Helpnet). Sie hat beim Sozialdienst eine Person rekrutiert, welche in freiwilliger Arbeit die Geflüchteten bei der Arbeitssuche unterstützt. Zudem sind Arbeitgebende direkt auf Geflüchtete zugegangen und haben Arbeit angeboten. Schliesslich unterstützt die Gemeindeverwaltung, insbesondere die Abteilung Bildung, die Arbeitsvermittlung in der Schule.

Die Solidarität mit der Ukraine war vielerorts gross.

Wie hat sich die Situation für die privaten Anbieter*innen von Wohnraum entwickelt? 
 

Die Hälfte der Schutzsuchenden sind immer noch in privaten Angeboten untergebracht. Das heisst, sie wohnen nicht direkt im gleichen Haushalt, sondern in Studios oder weiteren wohnlichen Lösungen der privaten Helfer*innen.

In der Zwischenzeit konnten die Situationen, in welchen die Gastfamilien überfordert waren, weitgehend behoben werden. Einerseits dadurch, dass die Geflüchteten in eigene Wohnungen wechselten und andererseits, indem die Gastfamilien bei ihrer Betreuung unterstützt werden. «Helpnet» betreut die Gastfamilien und hat eine Person für die Betreuung der Gastfamilien rekrutiert. Zunehmend beherbergen nur noch Gastfamilien Geflüchtete bei sich, die sich kompetent fühlen, die Betreuung sicherzustellen. 

Mir ist wichtig festzuhalten, dass die Versorgung und Betreuung der vielen Geflüchteten ohne privat Engagierte kaum oder gar nicht in dieser Weise zu bewältigen wäre. Als Leiter des kommunalen Sozialdienstes finde ich es sehr wichtig, ihnen zu danken und sie in ihren Anliegen sehr zu unterstützen. Deshalb führen die zuständigen Behörden aktuell Veranstaltungen durch, um den sehr vielen Freiwilligen und privaten Organisationen zu danken und ihnen Wertschätzung zu geben. 

Ein ausführliches Interview mit Markus Bieri zu den Auswirkungen der Ukrainekrise fand im Mai 2022 statt. Es erscheint in der nächsten Ausgabe des Magazins «impuls». Sie finden die aktuelle Ausgabe ab Montag 5. September online. 

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Rubrik: Fachhochschule