«Wir müssen Landwirtschaft und Ernährung verstärkt zusammendenken»

23.06.2022 Aktuelle Krisen stellen die Versorgungssicherheit vieler Menschen weltweit in Frage. Wie ist die Situation in der Schweiz? Und welchen neuen Herausforderungen steht die Weltgemeinschaft gegenüber? Sonja Schönberg, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Departement Gesundheit und Martin Pidoux, Dozent für Agrarpolitik und -märkte an der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften, schätzen die Lage ein.

Die Frage der Versorgungssicherheit ist heute aktueller denn je.

Worum geht es beim Thema Versorgungssicherheit genau? 

Martin Pidoux: Bei der Versorgungssicherheit geht es um die Frage, ob genug Nahrungsmittel zur Verfügung stehen, um das Überleben der Bevölkerung zu sichern. Der Begriff wird oft mit demjenigen der Ernährungssicherheit verwechselt. Bei der Ernährungssicherheit kommt aber noch die Frage hinzu, ob die verfügbaren Nahrungsmittel die hygienischen Vorschriften erfüllen und qualitativ gut genug sind, um eine gesunde Ernährung zu gewährleisten.

Wie ist die Versorgungslage in der Schweiz?

Martin Pidoux: Diese Frage lässt sich am einfachsten anhand des Selbstversorgungsgrads beantworten. Dieser Indikator beziffert das Verhältnis zwischen der Inlandproduktion und dem inländischen Verbrauch. Der Brutto-Selbstversorgungsgrad liegt in der Schweiz bei knapp 60 Prozent. Diesen Anteil unseres Bedarfs produzieren wir also selbst. Der Netto-Selbstversorgungsgrad liegt mit 55 Prozent etwas tiefer. Dies, weil ein Teil unserer Produktion wie Fleisch oder Eier mit importiertem Futtermittel hergestellt wird. Klar ist aber auch, dass die Schweiz bei gewissen Produkten einen Selbstversorgungsgrad von mehr als 100 Prozent aufweist. Milch produzieren wir beispielsweise mehr, als wir selbst konsumieren. 

Die Schweiz steht in Bezug auf Ihre Versorgungssicherheit also gut da.

Martin Pidoux: Ja, das ist so. Als reiches Land haben wir auch immer die Möglichkeit, zusätzliche Nahrung einzukaufen, wenn es eng wird. Das gilt leider nicht für alle. Statistiken aus Nordafrika, beispielsweise aus Ägypten oder Libyen zeigen, dass diese Länder 90 bis 95 Prozent des Getreidebedarfs importieren – und davon mehr als 90 Prozent aus der Ukraine und Russland. Das ist vor dem Hintergrund des aktuellen Kriegs eine wirklich kritische Situation. Die Frage, die sich uns in der Schweiz deshalb stellt, ist fast schon philosophischer Natur: Dürfen wir noch mehr importieren, wenn wir wissen, dass es andere Länder gibt, die diese Nahrungsmittel zum Überleben brauchen? Ich bin überzeugt, dass wir vernetzter denken müssen. Unsere eigene Situation ist zwar nicht kritisch, aber wir sind auch nicht allein auf der Welt. 

Sie haben es bereits angesprochen. Wie spielen die Krisen der Gegenwart, namentlich der Klimawandel oder der Ukrainekrieg in die Problematik der weltweiten Versorgungssicherheit hinein?

Martin Pidoux: Das sind riesige Herausforderungen. Die Produktionskosten sind aufgrund des Ukrainekriegs schon jetzt enorm hoch und die Nahrungsmittelpreise steigen. Der Ruf nach einer verstärkten Produktion zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit wird entsprechend laut – auch hierzulande. Gleichzeitig hat sich der Bundesrat gerade erst für das Fördern der Biodiversität ausgesprochen. Das ist ein Zielkonflikt. Ich persönlich denke, dass die Sicherstellung der Versorgung wichtig ist. Gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, dass die Biodiversitätsproblematik und der Klimawandel nicht plötzlich verschwunden sind. 

Sonja Schönberg: Ja, das sehe ich auch so. Es ist unglaublich tragisch, was in der Ukraine passiert. Aber wir müssen unbedingt an dem festhalten, was wir bis zu Beginn dieses Jahres mit aller Kraft versucht haben anzusteuern. Und da bringe ich das Planetary Health Narrativ (siehe Box) ins Spiel. Dieses zeigt auf, dass wir als Menschen von der Natur abhängen, dass wir ein Teil von ihr sind. Das heisst, wenn unsere Böden uns keine Ernten mehr ermöglichen, fällt uns das auch auf die Füsse.

Wie könnte die weltweite Versorgungslage verbessert werden?

Sonja Schönberg: Was wir uns bewusst machen müssen ist, dass es bei der globalen Versorgungssicherheit weniger darum geht, dass zu wenig produziert wird, sondern dass die Nahrungsmittel schlecht verteilt sind.

Martin Pidoux: Genau. Wenn wir die allgemeine Versorgungssicherheit erhöhen wollen, müssen wir anfangen, das grosse Ganze zu betrachten und in nachhaltigen Ernährungssystemen zu denken. Dabei geht es um die Frage der Verteilung und darum, wie wir das Ernährungssystem weltweit organisieren wollen. Bei der Verteilung gibt es zwei extreme Positionen: Einerseits die Autarkie, wie wir sie vor ungefähr 300 Jahren hatten. Import gibt es nicht, es wird produziert und gegessen, wo man lebt. Andererseits der Weltmarkt, bei dem vieles importiert und nur noch wenig selbst produziert wird. Ich bin überzeugt, dass die beste Lösung irgendwo zwischen diesen Extremen liegt. Gleichzeitig, Sonja Schönberg hat es gesagt, müssen wir ein Ernährungssystem sicherstellen, das uns Menschen eine gesunde und umweltverträgliche Ernährung ermöglicht. 

Können wir als Konsument*innen einen Beitrag leisten?

Sonja Schönberg: Es gibt verschiedene Massnahmen, die Druck aus dem Ernährungssystem nehmen und einen positiven Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten. Erstens: Wir – und damit meine ich alle gesunden Erwachsenen in der Schweiz oder in vergleichbar reichen Ländern – können uns auf eine Ernährung mit weniger tierischen Erzeugnissen konzentrieren. Wenn wir den Anspruch haben, weiterhin so viel Fleisch zu essen, hat das zur Folge, dass Flächen, auf denen eigentlich Nahrungsmittel für Menschen produziert werden könnten, für die Produktion von Tierfutter genutzt werden. Ausserdem essen viele Menschen so viel Fleisch, dass sie es aus gesundheitlicher Sicht ohne jedes Risiko reduzieren könnten und nicht einmal durch zusätzliche pflanzliche Proteinlieferanten ersetzen müssten. Nach heutigem Wissen reichen 0.8 Gramm Protein pro Kilo Körpergewicht pro Tag für eine gesunde, erwachsene Person aus. Zweitens: Um Proteinlieferanten tierischen Ursprungs zu ersetzen, können wir mehr Hülsenfrüchte in unsere Ernährung einbauen. Das setzt allerdings voraus, dass die Landwirtschaft genug Hülsenfrüchte produziert und auch gut davon leben kann. Ebenfalls können wir vermehrt Bioprodukte kaufen. Denn Bio verfolgt im Allgemeinen das Ziel, die Ökosysteme zu stabilisieren. Drittens: Wir sollten weniger Nahrungsmittel verschwenden. Ein Grossteil der Nahrungsmittelverschwendung passiert zu Hause. Und das, weil wir unsere Einkäufe kaum mehr planen, weniger gewohnt sind, zu Hause Nahrungsmittellager anzulegen oder weil uns das Wissen darüber fehlt, wann ein Nahrungsmittel verdorben ist. Ich würde mir deshalb wünschen, dass das Erlernen von theoretischen Fähigkeiten und praktischen Fertigkeiten rund um die Themen Ernährung und Kochen als wichtige Priorität in die allgemeine Schulbildung integriert wird. Und zwar über alle Lebensstufen hinweg. 

Braucht es auch politische Entscheidungen? 

Martin Pidoux: Das ist schwierig. Es ist beispielsweise wirklich so, dass wir weniger Fleisch essen sollten. Aber viele Produzent*innen sagen mir, dass sie ihre Fleischproduktion nicht reduzieren wollen, solange es keine Anzeichen für einen Rückgang des Konsums gibt. Hier sind wir in einer politischen Blockade, weil niemand den ersten Schritt macht. Die Nahrungsmittelproduktion wird übrigens schon lange politisch gesteuert. Der Konsum in unserer liberalen Demokratie hingegen nicht. 

Sonja Schönberg: Ja, ich sehe diese Schwierigkeit auch. Ich halte am Planetary Health Narrativ fest, welches unter anderem eine Transformation des Ernährungssystems fordert. Es steht aber oft im Kontrast zur Realität aus Abhängigkeiten und Anforderungen, in der sich die Landwirtschaft heute bewegt. Meine Wahrnehmung ist zudem, dass die Konsumseite noch nicht im gleichen Mass bearbeitet wurde wie die Produktionsseite, um das Ernährungssystem nachhaltiger zu gestalten. Und ich bin überzeugt, dass die Herangehensweise hier eine ganz andere, mutigere, entschiedenere sein müsste. 

Stehen wir jetzt an einem Wendepunkt? Auch in dem Sinn, dass uns gerade deutlich vor Augen geführt wird, dass etwas am Ernährungssystem grundlegend verändert werden muss?

Martin Pidoux: Ich denke schon, dass es einen Wechsel in der Mentalität gibt. Ich habe den Eindruck, dass man sich heute bewusster ist, wie wichtig und gleichzeitig schwierig es ist, hochqualitative Nahrungsmittel zu produzieren. Auch bei meinen Student*innen beobachte ich das. Sie wollen mehr machen, sie haben viele Ideen und sind offen für Diskussionen. 
Wichtig ist aber auch zu sagen, dass es auf beiden Seiten mehr Sensibilisierung braucht. Die breite Bevölkerung muss die Landwirtschaft anhören und erkennen, dass Essen einen Wert hat. Auf der anderen Seite muss die Landwirtschaft auch offener sein für die Bedürfnisse der Bevölkerung. 

Sonja Schönberg: Der Wendepunkt ist meines Erachtens längst da. Aber ich nehme es auch so wahr, dass im Moment ein Gelegenheitsfenster offensteht. Die Idee, Ernährung und Landwirtschaft zusammenzudenken, wird aktuell durch die global politischen Entwicklungen vorangetrieben. Und das ist eine Chance.

Planetary Health

Das Konzept Planetary Health ist ein Gesundheitsnarrativ, das sich an Werten der Nachhaltigkeit orientiert. Es denkt menschliche Gesundheit in Zusammenhang mit den politischen, ökonomischen, sozialen und natürlichen Systemen unseres Planeten. Es fordert die Anerkennung der planetaren Grenzen, welche durch die Dominanz menschlicher Aktivitäten überschritten werden und ruft zur Verantwortung auf, die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit den komplexen Beziehungen zwischen und innerhalb von Ökosystemen zu stärken sowie die Umwelt zu schützen. Die Planetary Health Diet trägt zur Planetary Health bei. Sie ist ein Speiseplan, der die Gesundheit der Menschen und des Planeten gleichermassen berücksichtigt. Sie wurde von der EAT-Lancet-Kommission veröffentlicht. Der Kommission gehören 37 Wissenschaftler*innen aus verschiedenen Disziplinen und Ländern an.

Sustainable Development Solutions Network

Die Schweiz hat sich 2015 verpflichtet, ihren Beitrag zum Erreichen der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung zu leisten. Viel Potenzial bietet hier das Ernährungssystem. Das Sustainable Development Solutions Network SDSN hat deshalb eine wissenschaftliche Expert*innengruppe ins Leben gerufen, welche Diskussionsgrundlagen und Handlungsempfehlungen zum Thema erarbeitet. Seitens BFH arbeiten unter anderem Sonja Schönberg und Martin Pidoux in dieser Expert*innengruppe mit.

Zu den Personen

Sonja Schönberg ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Ernährung und Diätetik am Departement Gesundheit.

Sonja Schönberg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Departement Gesundheit. In ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit setzt sie sich mit nachhaltigen Ernährungsweisen, mit der Rolle von Ernährungsberater*innen im Ernährungssystem der Zukunft sowie mit Planetary Health als wertebasierten Denk- und Gestaltungsrahmen für Gesundheitsberufe auseinander.

Martin Pidoux ist Dozent für Agrarpolitik und -märkte und Leiter der Gruppe für Agrarwirtschaft und Agrarsoziologie an der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften. Der Agraringenieur arbeitete beim Bundesamt für Landwirtschaft und beim Schweizerischen Bauernverband, bevor er als Spezialist für Agrarpolitik und -märkte zur BFH kam. Das Thema «Ernährungssicherheit» hat er im Rahmen seiner Arbeit ausführlich analysiert.

Rubrik: Berner Fachhochschule