Digitale Physiotherapie: Ein Zukunftsmodell in der Schweiz?

15.06.2022 Die schweizweiten Lockdowns aufgrund der Covid-19-Pandemie sorgten in der ambulanten Physiotherapie für einen Anstieg von digitalen Angeboten. Welche Auswirkungen das auf den Alltag der Physiotherapeut*innen und Patient*innen hatte, untersuchte die Berner Fachhochschule gemeinsam mit anderen Fachhochschulen.

Der nationale Lockdown im Jahr 2020 führte dazu, dass in der ambulanten Physiotherapie «nicht dringende» Behandlungen ausgesetzt werden mussten. Infolgedessen gingen Physiotherapiesitzungen mit physischem Kontakt um 84 % zurück. Dies eröffnete die Möglichkeit, auf digitale Behandlungs- und Beratungsangebote umzustellen. In welchem Ausmass die Physiotherapeut*innen die Alternativen umsetzten, war Gegenstand einer Online-Befragung im Nachgang des Lockdowns. Ein Projektkonsortium der Physiotherapie-Fachbereiche der Berner Fachhochschule (BFH), der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), der Haute Ecole de Santé Vaud (HESAV) und der Scuola Universitaria Professionale della Svizzera Italiana (SUPSI) nahm sich dieser an.

Ein Blick über die Grenzen

Im internationalen Kontext hat sich die digitale Physiotherapie bereits etabliert. Der Weltverband World Physiotherapy unterstreicht, dass digital vermittelte Physiotherapie den Zugang zu Versorgungsmöglichkeiten und Gesundheitsinformationen erleichtern kann und die Verwaltung von Gesundheitsressourcen effizienter gestaltet. Systematische Übersichtsarbeiten weisen zunehmend die Wirksamkeit von Echtzeit-Telerehabilitationskontakten bei muskuloskelettalen Erkrankungen nach. So konnten Verbesserungen der Lebensqualität, weniger Krankenhausaufenthalte oder eine geringere Inanspruchnahme des Gesundheitswesens beobachtet werden. Demgegenüber sind in der Schweiz digitale Therapievermittlungen wenig bekannt. Als mögliche Barrieren sind das grundsätzliche Selbstverständnis, vornehmlich «Hands-on»-Therapie anzubieten und fehlende Kostenerstattungen für digitale Systeme oder eine geringe Technikaffinität innerhalb der Physiotherapie zu nennen. Hinzu kommen nicht praktikable digitale Anwendungen, da Entwickler*innen oftmals zu wenig Kenntnis über die physiotherapeutischen Arbeitsabläufe und Behandlungsprozesse besitzen.

Experimentierfeld Lockdown

Während des ersten Lockdowns durften Physiotherapeut*innen nur noch dringend notwendige Therapien fortführen oder Ferntherapien anbieten. Letzteres bot ein Experimentierfeld, um Erfahrungen mit digitalen Technologien zu sammeln. Die Online-Befragung zu den Auswirkungen des Lockdowns auf die Nutzung digitaler Distanz-Physiotherapie fand im Sommer 2020 statt. Sie enthielt in der Gesamtschweiz mit Hilfe der Mitgliederdatenbank des Berufsverbandes Physioswiss mehr als 700 Rückmeldungen von aktuell praktizierenden Physiotherapeut*innen. Durch die Lockdown-Situation war ein deutlicher Anstieg digitaler Distanz-Therapien zu verzeichnen. Von den Befragten gaben nur knapp 5 % an, digitale Distanz-Therapien vor dem Lockdown eingesetzt zu haben. Während des Lockdowns stieg dieser Wert auf rund 45 % an. Jüngere Therapeut*innen (<45 Jahren) und solche mit wenig Berufserfahrung zeigten sich weitaus affiner für digitale Technologien im Arbeitsumfeld. Die Ferntherapie wurde hauptsächlich (96 %) in Einzelsitzungen durchgeführt. Manche Therapeut*innen boten sowohl Einzel- als auch Gruppentherapien an, wenngleich Gruppentherapien nur von rund 10 % der Befragten durchgeführt wurden.

Einsatzgebiete der Ferntherapie

Meistens wurde die digitale Ferntherapie bei muskuloskelettalen Beschwerden angewandt (68 %), welche auch unter normalen Bedingungen den häufigsten Versorgungsbereich darstellen. 62 % der digital versorgten Patient*innen waren Angehörige der Covid-19-Risikogruppe. Allerdings wurde die Therapie auf Distanz nicht nur zum Training eingesetzt, sondern auch für die Patient*innenschulung, zur Abklärung des Therapiefortschritts, für die Kontrolle des Einhaltens der Therapievorgaben und für Erstkontakte mit den Patient*innen. Die meisten Konsultationen erfolgten per Telefon, nachfolgend wurden auch Messenger-Dienste und Meeting-Software mit Videotelefonie eingesetzt. Bei der Frage der Abrechnung digitaler Therapieangebote bestand am Anfang grosse Unklarheit. Rund 30 % rechneten analog zu Physiotherapie-Einzelsitzungen ab. 17 % rechneten via «medizinischer Trainingsanleitung» ab. Der Grossteil (43 %) gab an, ihre Angebote ohne zusätzliche Abrechnungen realisiert zu haben.

Fortführung der digitalen Angebote

Die Hälfte der Befragten konstatierte, dass die digitalen Kommunikationsmöglichkeiten den wegfallenden persönlichen Kontakt weitestgehend hatten ausgleichen können. Zwei Drittel waren nicht überzeugt, dass Fernbehandlungen die reguläre Therapie nachhaltig ergänzen können. 44 % äusserten kein Interesse an der Fortführung digitaler Angebote im Anschluss an die Pandemie und betrachteten diese eher als vorübergehende Erscheinung. Demgegenüber planen rund 20 % der Befragten, die digitale Therapie als wichtiges Element im Leistungsangebot auch zukünftig einzusetzen. Im zweiten Lockdown vom Dezember 2020 bis Februar 2021 waren regulatorische Verbesserungen bereits umgesetzt, indem die Indikationen für eine digitale Ferntherapie erweitert und die Tarifpositionen angepasst worden waren.
Die Lockdown-Situation zeigte, dass die ambulante Schweizer Physiotherapie schnell und unkompliziert auf die veränderten Bedingungen reagiert hat. Im Nachgang müssen nun Standards zur Nutzung der Technologien – insbesondere auch in Bezug auf Aspekte der Datensicherheit – entwickelt werden. Grundlegend braucht es neue Konzepte, um «Präsenz»- und «Digital»-Therapie sinnvoll zu verknüpfen. Auch müssen die Physiotherapeut*innen ihre eHealth-Kompetenz weiter fördern. In der Ausbildung müssen digitale Angebote ähnlich zu ausländischen Modellen mehr Raum einnehmen.

Digitale Physiotherapie
Mehr als 700 aktuell praktizierende Physiotherapeut*innen nahmen im Sommer 2020 an der Online-Befragung zu den Auswirkungen des Lockdowns auf die Nutzung digitaler Distanz-Physiotherapie teil.

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