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«Ich kann bei den Studierenden das Feuer für den Beruf entfachen»

15.09.2025 Die Fachhochschule entwickelt ihre Lehrangebote ständig weiter. Bei berufsbefähigenden Studiengängen ist dies besonders wichtig, da die Ausbildung den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes von heute und morgen entsprechen soll. Wie lässt sich die Praxis sinnvoll einbinden, sodass alle profitieren? Ein Gespräch mit Nina Grütter und Judith Studer gibt Einblick.

Das Wichtigste in Kürze

  • Die Fachhochschule entwickelt ihre Lehrangebote ständig weiter. Bei berufsbefähigenden Studiengängen ist dies besonders wichtig, da die Ausbildung den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes von heute und morgen entsprechen soll. 

  • Durch die enge Einbindung von Praktiker*innen in die Entwicklung des Curriculums erhalten Studierende früh Einblicke in die Praxis und können theoretisches Wissen besser mit realen Erfahrungen verknüpfen.

  • Spezialmodule und Praxisprojekte entstehen in Zusammenarbeit mit Praxisorganisationen, wodurch Studierende, Dozierende und Praxis gleichermassen profitieren – vom Wissenstransfer bis hin zu innovativen Lösungsansätzen.

Vom ersten Studientag an thematisieren, reflektieren und bearbeiten, was draussen in der Praxis geschieht – dies ist das Ziel im Bachelor-Studiengang Soziale Arbeit. Es prägt das aktuelle Curriculum, das gemeinsam mit Vertreter*innen der Praxis, Studierenden, Hochschulangehörigen und weiteren Interessierten entwickelt wurde. Welchen Mehrwert diese Zusammenarbeit für das Lehrgeschehen, die Studierenden und die Praxis hat und was es dazu braucht, wurde unterdessen untersucht.
 

Nah an der Praxis sein

Bereits seit längerem geht das Departement Soziale Arbeit im Bereich Lehre den Weg der Öffnung und bezieht Personen aus der Praxis in das Unterrichtsgeschehen mit ein. Heute sind Praxisvertretende zwei Mal pro Jahr zu einer Abschlusskonferenz eingeladen. Diese gestalten diejenigen Studierenden, die kurz vor dem Abschluss stehen. Zudem können Fachpersonen aus der Praxis gemeinsam mit der Hochschule Spezialmodule anbieten oder Projekte zur gemeinsamen Bearbeitung mit den Studierenden eingeben.

Besonderes Gewicht hatte die Zusammenarbeit 2019 bis 2023, als das Curriculum 2023 für den Bachelor-Studiengang erarbeitet wurde. Zentrale Stakeholder aus der Praxis waren eingeladen, daran mitzuarbeiten. Das Projekt «Öffnung von Lehrangeboten im Bereich Entwicklung, Evaluation & Weiterentwicklung» unter der Leitung von Prof. Dr. Judith Studer untersuchte im Nachgang diese Zusammenarbeit.

Die Studie zeigt, dass alle Seiten von der Zusammenarbeit profitieren. So bewirkte die Zusammenarbeit ein stärkeres «Wir-Gefühl», einen wertvollen Perspektivenwechsel und ein Zusammen­rücken von Praxis und Hochschule. Dadurch dass die Praxis an der Entwicklung des Curriculums mitgewirkt hat, identifiziert sie sich heute stärker mit dem Studiengang und übernimmt in höherem Masse Mitverantwortung für das Lehrangebot.

Wir haben bei Praxisvertreterin Nina Grütter und Co-Studiengangsleiterin Judith Studer nachgefragt, wie sich die Zusammenarbeit bei der Entwicklung des Studiengangs auf die Ausbildung von Fachpersonen der Sozialen Arbeit auswirkt.

Eine Frau mit Brille im Gespräch
Nina Grütter leitet die Offene Kinder- und Jugendarbeit der Stadt Thun. Sie war zwischen 2019 und 2023 gemeinsam mit anderen Schlüsselpersonen aus der Praxis bei Soundings, Workshops und Walk-Ins der Hochschule dabei, in denen das aktuelle Curriculum entwickelt wurde. Nina Grütter bildet Praktikant*innen aus und ist Lehrbeauftragte.

Warum war es wichtig, die Praxis in die Weiterentwicklung des Bachelor-Studiengangs miteinzubeziehen?

Nina Grütter: Wenn wir Praktiker*innen Themen, die uns beschäftigen, in die Hochschule tragen, befasst sich die Hochschule mit den aktuellsten Entwicklungen an der Basis. Die Studierenden erhalten früh Einblick in die Praxis. Das erleichtert es ihnen, die Erkenntnisse, die sie an der Hochschule gewinnen und im Praktikum vertiefen, miteinander zu verknüpfen.
 

Judith Studer: Die Praktiker*innen wissen aus erster Hand, welches Profil die Hochschulabgänger*innen brauchen. Für uns sind sie deshalb ein wichtiges Korrektiv, da sie uns den Spiegel vorhalten. Sie kennen die Herausforderungen, denen unsere Absolvent*innen begegnen, wenn sie in den Beruf starten. Unsere Studie belegt: Durch die Einbindung der Praxis in die Weiterentwicklung entstand ein Wir-Gefühl. Wir – Praxis und Hochschule – ziehen heute also an einem Strick und haben ein gemeinsames Verständnis, was das Ziel, die Rahmenbedingungen und die Erwartungen an den Studiengang sind.

Inwiefern sieht man dem aktuellen Studiengang an, dass er gemeinsam entwickelt wurde?

Studer: Das gemeinsam Erarbeitete wird vor allem bei der Praxisausbildung und den Spezialmodulen erkennbar: Die Studierenden können nun im Rahmen der Praxisausbildung ein Projekt mit der Praxis oder der Zivilgesellschaft erarbeiten oder ein Praktikum in einer Praxisorganisation absolvieren. Die Spezialmodule sind Themen gewidmet, die auch von der Praxis eingegeben werden können. Hierfür können wir immer wieder Lehrbeauftragte aus der Praxis gewinnen.

So unterrichtete beispielsweise Nina Grütter in einem Spezialmodul, das wir gemeinsam mit dem Verband Offene Kinder- und Jugendarbeit (VOJA) angeboten haben. Auch die Berner Konferenz für Sozialhilfe, Kindes- und Erwachsenenschutz (BKSE) bietet regelmässig Spezialmodule mit uns an.

Die Praktiker*innen wissen aus erster Hand, welches Profil die Hochschulabgänger*innen brauchen. Für uns sind sie deshalb ein wichtiges Korrektiv.

  • Judith Studer Co-Leiterin Bachelor Soziale Arbeit

Sie erwähnen die Spezialmodule. Welche Angebote und Erfahrungen haben Sie damit gemacht?

Grütter: Die VOJA hat zum Beispiel ein Spezialmodul zu psychischer Gesundheit angeboten. Das Thema beschäftigte uns in der Praxis, wir hatten dazu aber noch zu wenig Expertise. Wir waren interessiert, bei den Studierenden Know-how abzuholen, damit sie uns mit Ideen oder anderen Sichtweisen unterstützen. Als Verband profitieren wir dabei nicht nur von den Studierenden, sondern auch vom Wissen der Dozierenden. Sie sind anders vernetzt als wir.

 

Studer: Die BKSE zum Beispiel bot einmal ein Spezialmodul zu Innovationen in der Sozialhilfe an. Es war als Design-Sprint gestaltet. Das heisst, die Studierenden arbeiteten mit der Design-Thinking-Methode. Die Fachpersonen aus der Sozialhilfe nannten zu Beginn Herausforderungen und die Studierenden erarbeiteten im Modul Lösungsvorschläge. Zum Schluss kamen die Fachpersonen ins Modul, hörten die Lösungsvorschläge und nahmen sie in die Praxis mit.

Judith Studer wird interviewt.
Prof. Dr. Judith Studer ist Co-Studiengangsleiterin Bachelor Soziale Arbeit.

Das neue Curriculum besteht seit zwei Jahren. Die ersten Studierenden, die von Beginn an im neuen Setting studieren, schliessen frühestens 2026 ab. Lässt sich schon erkennen, was der Mehrwert für die Praxis ist, wenn sie sich derart im Studium einbringt?

Grütter: Wenn ich unterrichte, kann ich bei den Studierenden das Feuer für den Beruf entfachen, indem ich aus der Praxis berichte. Sie stellen mir sehr konkrete Fragen zu meiner Arbeit, um den Bezug zur Theorie herzustellen. Das ist der Gewinn, den die Praxis hat: Studierende, die bei einem Problem in der Praxis in die Theorie schauen und herausfinden, wer dazu geforscht hat und welche Ansätze es gibt, um eine Lösung zu entwickeln. Im Unterricht schaffe ich bewusst solche Momente, die zur Verknüpfung von Theorie und Praxis anregen. Diesen Transfer gut hinzubekommen, ist eine der grössten Herausforderungen in der Ausbildung junger Fachkräfte.

Welche Chancen sehen Sie sonst noch für die Praxis?

Grütter: Wir aus der Praxis müssen die Angebote noch stärker mitgestalten. Es ist wichtig, die Studierenden zu kennen und sie in die Praxis einzubeziehen. Sie sollen früh merken, dass ihr Wissen gefragt ist. Wir Prakti­ker*in­nen können etwas tun, damit sich künftige Fachkräfte schon im Studium bewusstwerden, wie schnell sie beim Berufseinstieg ins Handeln kommen und Projekte, Produkte oder Leistungen abliefern müssen. Ich habe den Eindruck, die aktuellen Studierenden entwickeln ein gutes Gespür dafür.

Wir aus der Praxis müssen in die Ausbildung investieren, damit wir guten Nachwuchs haben.

  • Nina Grütter Verband offene Kinder- und Jugendarbeit

Warum ist der Druck beim Berufseinstieg derart gross?

Grütter: Wir haben einen Fachkräftemangel und Stu­dien­abgänger*innen, die sehr jung sind, oft gerade mal 23 Jahre alt. Die Praxis wartet heute teilweise lange auf neue Mitarbeitende. Oft bleiben Stellen einige Monate unbesetzt. Wenn wir endlich jemanden für eine offene Stelle gefunden haben, versuche ich als Vorgesetzte zwar Druck rauszunehmen. Das ist aber schwierig, weil die anderen Mitarbeitenden in diesen Situationen teilweise überlastet sind – da entsteht schnell Druck von verschiedenen Seiten. Diesen Druck gibt man automatisch ein wenig weiter.

Lassen Sie uns in die Zukunft schauen. Sollte sich die Zusammenarbeit noch intensivieren?

Studer: Meine Vision wäre, im Studiengang einen Think-Tank mit Studierenden und Praxisvertretenden zu installieren. Den könnten wir bei Fragestellungen und Anliegen, die das Curriculum betreffen, als Sounding- und Sparring-Partner beiziehen. Unsere Studie hat unter anderem gezeigt, dass es für die Praxis aus zeitlichen Gründen nicht so einfach ist, sich punktuell in der Entwicklung des Studiengangs einzubringen. Ein Think-Tank könnte hier Abhilfe schaffen. Es könnten alle Seiten von einem institutionalisierten Think-Tank profitieren. Das würde auch zur Strategie der BFH passen, die eine Öffnung der Hochschule vorsieht.

Wäre die Praxis denn bereit dazu?

Grütter: Das Mitdenken der Praxis braucht natürlich Zeit und Ressourcen. Ich sehe, wie viel Kooperationen zum Beispiel im Jugendbereich zu tun geben; wir arbeiten dort oft mit Personen aus der Planung zusammen. Auch zwischen Hochschule und Praxis gibt es grosse Unterschiede. So etwas muss sich entwickeln. Aber ja, ich fände es erstrebenswert: Wir müssen in die Ausbildung investieren, damit wir guten Nachwuchs haben. Es braucht unser Zutun, damit der Nachwuchs die Motivation mitbringt, unser Feld zu gestalten.

Nina Grütter, welche Erfahrungen haben Sie persönlich aus der Zusammenarbeit mitgenommen?

Grütter: Ich habe sehr gute Erfahrungen an der Hochschule gemacht – in ganz unterschiedlichen Rollen. Spannend ist die Mischung: Aus meiner Praxis berichten, Studierende in Coachings begleiten oder ihre Projekte beurteilen. Es macht mir Spass, wenn mir einige gleich in mehreren Settings begegnen: Sie studieren hier und arbeiten vielleicht auch schon bei einer Institution, mit der ich beruflich zu tun habe. Ich bin heute innerhalb der BFH besser vernetzt, aber auch in der Praxis. Ich habe beispielsweise in den Soundings im Rahmen der Curriculumsrevision Fachleute aus anderen sozialen Bereichen kennengelernt. Ich glaube, diese Soundings haben uns Praktiker*innen wieder dafür sensibilisiert, dass die Ausbildung generalistisch ist und auch sein soll. Solche Gelegenheiten, über den eigenen Tellerrand zu blicken und voneinander zu lernen, sind wertvoll.

Judith Studer, was ist Ihnen noch wichtig?

Studer: Ich danke allen Praxisvertreter*innen, die sich immer wieder Zeit nehmen, im Studiengang mitzuwirken.

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