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Die Weitergabe des politischen Bewusstseins an Folgegenerationen

23.09.2025 In der Schweiz leben Zehntausende Mitglieder der kurdischen Diaspora. Die Verbundenheit mit ihrer Herkunft ist stark, auch das politische Bewusstsein hat überdauert. Das gilt selbst für Nachkommen, die ihre Herkunftsregion nie besucht haben. Wie wurde dieses politische Bewusstsein weitergegeben?

Das Wichtigste in Kürze

  • Bei der intergenerationalen Weitergabe von Identitäten und Zugehörigkeiten spielen Familie, Kultur und Emotionen eine zentrale Rolle.

  • Am auffälligsten ist, dass die kurdische Folgegeneration das politische Engagement ihrer Familien als Quelle des Stolzes und der Verantwortung wahrnimmt.

  • Das Projekt zeigt: Persönliche Identitäten und Zugehörigkeiten betreffen auch die Gesellschaften, in denen die migrierten Menschen leben.

Kurd*innen feiern im März 2025 auf dem Zürcher Hardturmareal den Feiertag Newroz.
Kurd*innen feiern im März 2025 auf dem Zürcher Hardturmareal den Feiertag Newroz.

In der Schweiz lebten um die Jahrtausendwende rund 40'000 Kurd*innen (Kieser, 2008). Viele von ihnen sind hier geboren, aufgewachsen, haben ihr Herkunftsland nie besucht und setzen sich für demokratische Rechte der Kurd*innen ein. Die kurdische Diaspora in der Schweiz ist nicht nur eine Gemeinschaft Eingewanderter, sondern Teil einer aktiven politischen Bewegung, die eine starke Verbindung zu ihren Wurzeln und ihrer kollektiven Identität aufrechterhält. 

Warum die Schweiz?

Seit den frühen 1980er-Jahren hat sich die Schweiz zu einem wichtigen Ziel für kurdische politische Geflüchtete entwickelt. Viele von ihnen sind durch die Flucht der Verfolgung in der Türkei, im Iran, im Irak und in Syrien entkommen (Kaya, 2025). Die Eskalation der politischen Unterdrückung nach dem Militärputsch in der Türkei 1980, die Verschärfung des kurdisch-türkischen Konflikts in den 1990er-Jahren und die anhaltende staatliche Gewalt im Nahen Osten haben Tausende von Kurd*innen veranlasst, in der Schweiz Asyl zu suchen (Sirkeci, 2003).

Was die Schweiz von anderen Ländern unterscheidet, ist nicht nur ihre humanitäre Asylpolitik, sondern auch ihre politische Struktur: Sie ist eine direkte Demokratie, die auf den Menschenrechten, der Meinungsfreiheit und einer institutionellen Neutralität beruht. Sie verfügt weiter über ein dezentralisiertes, föderales System, relativ autonome Regionen und eine Zivilgesellschaft, die sich lokal stark engagiert. Dieses Umfeld war günstig, um sich in der Diaspora politisch zu organisieren und zu mobilisieren (Hess & Korf, 2014; Linder & Vatter, 2001). Es ermöglichte der kurdischen Diaspora, sich in kulturellen Vereinen zusammenzuschliessen und in politischen Organisationen oder Netzwerken zu agieren. Kurdische Gemeinschaftszentren, Protestplattformen, Medien und jährliche Festivals sind zu wichtigen Instrumenten geworden, mit denen Kurd*innen in der Schweiz ihre kollektive Identität und politische Solidarität ausdrücken (Kaya, 2025).

Heute hat die Schweiz eine der politisch aktivsten kurdischen Diasporas Europas. In den letzten vier Jahrzehnten hat diese Gemeinschaft nicht nur ihre Identität bewahrt, sondern hat sich auch eigene Räume innerhalb der Schweizer Zivilgesellschaft geschaffen. Bemerkenswert ist, dass diese Entwicklung weniger auf dem Aktivismus der geflüchteten Menschen der ersten Generation gründet als auf dem anhaltenden politischen Engagement ihrer Kinder und Enkelkinder.

Aus sozialpsychologischer Sicht lädt diese Kontinuität zum Nachdenken über die folgenden Fragestellungen ein:

  • Wie wird das kollektive Gedächtnis (zum Beispiel die geteilten Erinnerungen, Wissensbestände, Identität und Kultur) in Diaspora-Familien weitergegeben? 
  • Welche Rolle spielt die familiäre Sozialisation bei der Herausbildung politischer Werte und Identität?
  • Wie können jüngere Generationen eine emotionale Verbindung zu einer Heimat aufrechterhalten, die sie nie gesehen haben?
  • Welche Mechanismen verhindern die kulturelle und politische Erosion trotz geografischer und generationeller Distanz?

Theorien sozialer Identität und kollektiven Handelns

Um die intergenerationale Übertragung des politischen Bewusstseins in der kurdischen Diaspora zu verstehen, wurden theoretische Ansätze wie die Theorie der sozialen Identität und das Modell der sozialen Identität für kollektives Handeln (van Zomeren et al., 2008) verwendet. Nach der Theorie der sozialen Identität (Tajfel & Turner, 1979) bilden Individuen ihre Identitäten, indem sie sich als Teil einer Gruppe sehen (Gruppenidentität).

In der kurdischen Diaspora wird diese Gruppenidentität durch die gemeinsame Geschichte, Kultur und das in den Familien weitergegebene politische Engagement geprägt: Wahrgenommene Ungerechtigkeit spielt eine entscheidende Rolle bei der Auslösung kollektiven Handelns. Mitglieder der Diaspora verinnerlichen Erzählungen über Unterdrückung in ihrem Heimatland, sei es durch Erfahrungen aus erster Hand oder durch Familiengeschichten. Sie befeuern damit ihren Widerstand.

Ein weiterer Schlüsselfaktor ist die kollektive Wirksamkeit, also der Glaube, dass Veränderungen möglich sind. Bei den Kurd*innen wird dieser Glaube durch die generationenübergreifende Weitergabe der Widerstandskultur und des kollektiven Engagements gestärkt. 

Wenn die drei Elemente Gruppenidentität, wahrgenommene Ungerechtigkeit und kollektive Wirksamkeit zusammenkommen, schafft das eine starke Grundlage für ein nachhaltiges politisches Bewusstsein und den Aktivismus. In der kurdischen Diaspora manifestiert sich dieser theoretische Rahmen konkret in familiären Übertragungsmechanismen. Die Eltern geben nicht nur ihr kulturelles Erbe weiter, sondern auch die darin eingebetteten politischen Bedeutungen und den Geist des Widerstands. Dieser Prozess ermöglicht den Aufbau einer Identität, die über Generationen hinweg weiterbestehen kann.

Mehr Informationen zur Studie

Wie wird dieses politische Bewusstsein von der ersten Generation an die nachfolgenden Generationen weitergegeben?

Die Studie von Dr. Orhan Kaya geht dieser Frage nach, indem sie Mechanismen der politischen Sozialisation in den Familien, kulturelle Widerstandsstrategien und emotionale Motivationsquellen untersucht. Zu diesem Zweck führte der Forscher halbstrukturierte Interviews mit Personen der kurdischen Diaspora in der Schweiz.

Die Ergebnisse der Studie, die der Schweizerische Nationalfonds unterstützt hat, wurden unter anderem in der Zeitschrift Current Psychology veröffentlicht. 

Wie wird politisches Bewusstsein weitergegeben?

Die Studie deckt auf, welche Mechanismen zur Weitergabe beitragen. Es sind insbesondere …

  • … die politische Sozialisation in der Familie: Die meisten für die Studie befragten Mitglieder der Diaspora betonten, dass das politische Bewusstsein tief in der familiären Erziehung verwurzelt ist. Die Eltern sprechen mit ihren Kindern regelmässig über die kurdische Geschichte, die Besatzung, den Widerstand und die Menschen, die wegen ihres politischen Engagements das Leben verloren haben. Diese Gespräche spielen eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung der Identität und des politischen Bewusstseins. Dieser Sozialisationsprozess wird zudem dadurch gestärkt, dass die Familie an Protesten teilnimmt, zuhause kurdische Fernsehkanäle geschaut und Widerstandssymbole in das tägliche Leben eingebunden werden.
  • … die Sprache und kulturelle Kontinuität: Der aktive Gebrauch der kurdischen Sprache zu Hause ist zur Bewahrung der Kultur grundlegend. Die Befragten erachten das Unterrichten ihrer Kinder in der Muttersprache als bedeutende Leistung, damit ihre ethnische Identität überlebt. Sie sahen darin auch einen Akt des Widerstands gegen die Assimilation. Kulturelle Praktiken wie Musik, Literatur und die mündliche Tradition stärken die Bindungen zwischen den Generationen weiter.
  • … Gemeinschaftsräume und institutionelle Bindungen: Vereine, Kulturzentren und Festivals fungieren nicht nur als soziale Treffpunkte, sondern auch als Räume für politische Bewusstseinsbildung. Die Teilnahme von Familien an diesen Veranstaltungen hilft jüngeren Generationen, sich mit dem kollektiven Gedächtnis zu verbinden und ihre Identität zu leben. Rituale wie die Newroz-Feierlichkeiten stärken die gemeinschaftliche Solidarität (Anm. d. Red.: Newroz ist das Fest zur Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche).
  • … die emotionale Übertragung von Wut, Trauer und Widerstand: Eine der auffälligsten Erkenntnisse aus der Befragung war der Umstand, dass die mit den Traumata verbundenen Emotionen in den Familien weitergegeben werden. Die Teilnehmenden erzählten Geschichten von verlorenen Verwandten, staatlicher Gewalt und Verfolgung über Generationen hinweg. Dies fördert ein gemeinsames Gefühl des Leidens. Dieses äusserte sich auch als Wut, die zur Teilnahme an Protesten, politischem Engagement in den sozialen Medien und in der Erziehung von Kindern mit demselben Bewusstsein führte.
  • … ein Bewusstsein für aktuelle politische Entwicklungen in den sogenannten Herkunftsländern: Die Teilnehmenden verfolgen die politischen Ereignisse in ihren sogenannten Herkunftsländern aufmerksam, was wiederum ihren Aktivismus in der Schweiz direkt beeinflusst. Die sozialen Medien spielen eine Schlüsselrolle bei der Aufrechterhaltung der Verbindung zum Kampf in der Heimat und zeigen, wie die Diaspora geografisch zwar weit entfernt, aber emotional und politisch nah bleibt.

Eine der auffälligsten Erkenntnisse aus der Befragung war der Umstand, dass die mit den Traumata verbundenen Emotionen in den Familien weitergegeben werden.

  • Orhan Kaya Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Jung und alt feiern Newroz im März 2025 in Zürich.
Jung und alt feiern im März 2025 in Zürich Newroz.

Schlussfolgerung: Eine neu erfundene Kultur des Widerstands in der Diaspora

Die vorliegende Studie zeigt, dass die kurdische Diaspora nicht nur eine Gemeinschaft «im Exil» ist, sondern ein Kollektiv bildet, das sein politisches Bewusstsein und seine Widerstandstraditionen aktiv reproduziert. Die Tatsache, dass sich Menschen, die in der Schweiz geboren und aufgewachsen sind, für ein Land einsetzen, das sie nie gesehen haben, unterstreicht die Macht der intergenerationellen Identitätsübertragung. 

Am auffälligsten ist, dass die Folgegenerationen das politische Engagement ihrer Familien nicht als «Last», sondern als Quelle des Stolzes und der Verantwortung wahrnehmen. 
Die vorliegende Studie bietet wertvolle Einsichten, um die Zusammenhänge zwischen Identität, Erinnerungskultur und politischem Engagement in Migrationsgemeinschaften besser zu verstehen. Der Widerstand der kurdischen Diaspora ist nicht nur die Geschichte einer ethnischen Gruppe, sondern auch ein Beispiel für einen Freiheitskampf, der über geografische und generationale Grenzen hinausgeht.

Das Forschungsprojekt zeigt auf, dass persönliche Identitäten und Zugehörigkeiten nicht nur individuelle Anliegen sind, sondern auch die Gesellschaften betreffen, in denen die migrierten Menschen leben. Diese Zugehörigkeiten können entscheidend sein für die gegenseitige Solidarität, die Integrationsprozesse und das politische Engagement. Bei der intergenerationalen Weitergabe von Identitäten und Zugehörigkeiten spielen Familie, Kultur und Emotionen eine zentrale Rolle. Künftige Forschung und politische Massnahmen sollten dies berücksichtigen.

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