Im Netzwerk zu neuen Medtech-Produkten

17.09.2019 Im Zentrum für Technologien in Sport und Medizin der Berner Fachhochschule entwickeln Mediziner und Ingenieure neue medizintechnische Verfahren und Produkte. Dabei setzen die Berner Experten auf Vernetzung und Kooperation mit anderen Forschungseinrichtungen und Unternehmen.

«Nehmen Sie Samen der twn-Pflanze, Rinderfett sowie Milch, verrühren es mit unterägyptischem Salz und gekochter Maulbeerfeige, und Sie haben ein probates Mittel gegen zittrige Hände.» So steht es seit 3'500 Jahren im Papyrus Ebers, mit fast 19 Metern die längste und einzige vollständige heilkundliche Buchrolle aus dem Ägypten der Pharaonen. Klar ist: Damals hatten die Ägypter die Nase vorn in der Medizin. Heute arbeiten Forschungsinstitute mit KMUs, Arztpraxen, Krankenhäusern und Sportverbänden, um innovative und marktfähige Produkte zu entwickeln. Ein Beispiel dafür ist die Berner Fachhochschule (BFH). Das BFH-Zentrum Technologien in Sport und Medizin forscht und entwickelt anwendungsorientiert im Bereich der Mikro-Technologie. Im Fokus stehen die Anwendungsbereiche Medizintechnik, Leistungssport, Rehabilitation und Prävention. Forschende aus dem Institute for Human Centered Engineering (HuCE), dem Institut für Rehabilitation und Leistungstechnologie (IRPT), dem Fachbereich Gesundheit und der Eidgenössischen Hochschule für Sport Magglingen (EHSM) arbeiten vernetzt und interdisziplinär zusammen. Auf diese Weise werden im BFH-Zentrum die erforderlichen Kompetenzen vereint, um qualitativ hochstehende und benutzerfreundliche Lösungsansätze und Produkte für KMUs, medizinische Praxen, Spitäler und Sportverbände zu entwickeln.

Medizinisches Wissen erweitern

Die Berner Forscher sind top ausgerüstet mit Spezialgeräten, die sie auch anderen Forschungslaboren, Start-ups und KMU-Projektpartnern zur Verfügung stellt. Das ist die Grundlage, auf der Mediziner und Ingenieure des BFH-Zentrums mit spezifischem Fachwissen auf Gebieten wie Mikroelektronik, Signalverarbeitung, Mikro- und Medizintechnik sowie Informatik die Zukunft gestalten. Institutsleiter Prof. Marcel Jacomet ist überzeugt «Nur weil wir in interdisziplinären Teams am BFH-Zentrum kooperieren, können wir mit Spitälern, Arztpraxen und Medtech -KMUs nutzbringende Werkzeuge für Ärzte und medizinisches Fachpersonal erforschen und zum Wohle der Patienten entwickeln.» Das BFH-Zentrum - Institut HuCE - ist nach der internationalen Norm IS013485 für Design, Entwicklung und Produktion sowie dem Software-Lebenszyklus zertifiziert. Es verfügt auch über einen validierten Reinraum nach Stufe ISO Klasse 7 für die Herstellung von Medizinprodukten, die eine kontrollierte Umgebung erfordern. So lassen sich internationale Vorschriften und anerkannte Standards gewährleisten. Vorhanden sind ebenso Einrichtungen zur Fertigung von Geräteprototypen während der Machbarkeitsphase bis hin zu Kleinserien für die DesignVerifikation und -Validierungsphase. Aber genug der Fachausdrücke, werfen wir einen Blick hinter die BFH-Kulissen:

Berühren, ohne zu fühlen?

Ja, das gibt es bei einer Amputation, dem chirurgischen Abtrennen eines Körperteils, vorgenommen, wenn das Leben des Patienten bedroht ist, oder als Unfallfolge. Das begann schon vor rund 3000 Jahren, denn im Ägyptischen Museum von Kairo steckt am Fuss einer weiblichen Mumie die wohl älteste Prothese der Welt, eine Zehe aus Leder und Holz kunstvoll erarbeitet. Wie die Ägyptologen feststellten, ist sie sehr gut angepasst - aber Gefühl vermittelte sie nicht. Also taten sich im Projekt WiseSkin das CSEM, die EPFL und die BFH zusammen, um eine sensorische Haut für Handprothesen zu entwickeln: Die Experten brachten Mini-Tastsensoren in die Silikonbeschichtung der Prothese ein, die nun als «sensorische Haut» funktioniert. Die Informationen werden mit Vibrationsmotoren an den Armstumpf im Schaft der Pro-these übertragen. Nach WiseSkin wollten die Berner Fachhochschule und die Universitätsklinik Balgrist das Gelernte in einem weiterführenden Projekt umsetzen. Unter tatkräftiger Mitwirkung von Ingenieur Rafael Morand unternahm das Team den Versuch, den Tastsinn nicht länger im Prothesenschaft zurückzuführen. «Das neue System besteht aus dem Silikon-Sensorhandschuh, angepasst für die i-limb, eine High-End Handprothese des isländischen Herstellers Össur und dem Herzstück, unserer FeetBack-Schuheinlage aus Silikon mit eingebetteten Vibrationsmotoren», erklärt Rafael Morand. Die Schuheinlage empfangt die gefilterten Daten des Sensorhandschuhs. Je nach Griffkraft in der künstlichen Hand spürt der Träger des Systems ein Kribbeln an relevanten Positionen am Fuss und muss diese als Druck interpretieren. Die Machbarkeit der Rückführung des Tastsinns von der Hand an den Fuss soll im Herbst 2019 zusammen mit Balgrist in einer klinischen Pilotstudie geprüft werden, sobald diese von der kantonalen Ethik-Kommission Zürich und Swissmedic bewilligt wird. Je nach Ergebnis der Studie kann man über weitere Forschung oder gar Kommerzialisierung sprechen. Mit Össur, zu denen bereits ein Kontakt besteht, hätte die BFH jedenfalls einen finanzstarken Partner im Rücken. 

Kardiale Arrhythmie - die Herzrhythmusstörung

Tauchen wir nun ein in die chinesische Pulsdiagnostik, deren Anfänge wohl 2'700 Jahre zurückreichen. Der legendäre Arzt Bian Que entdeckte die Pulslehre um 500 v.Chr. neu und der persische Mediziner Ibn Sina - für uns meist Avicenna - brachte sie den Menschen des Mittelalters. Noch heute ist klar: kaum etwas erschüttert die menschliche Seele so sehr wie eine Abweichung von der normalen Herzfrequenz - die Arrhythmie. Deshalb entwickeln die Forscher am HuCE in einem vom Schweizer Nationalfonds finanzierten Forschungsprojekt ein semi-invasives 3D -Kartierungssystem für Herzrhythmusstörungen anhand von Ösophagus (Speiseröhren)-EKG-Signalen. «Um bei Arrhythmien die Indikationen für eine interventionelle Therapie zu prüfen, stützt man sich meist auf das 12-Kanal EKG. Viele häufige Arrhythmien haben ihren Ursprung in den Herzvorhöfen, also just in jenem Teil des Herzens, der in EKGs häufig nur unzureichend sichtbar ist», so Institutsleiter Jacomet. Da die Speiseröhre sehr nahe an den Vorhöfen verläuft, ergänzt das BFH-Team die Standard-EKGs durch EKG-Signale, die es mit einem speziell entwickelten Katheter direkt in der Speiseröhre erfasst und die daher von hervorragender Qualität sind. Die anschliessende Analyse erfolgt durch neuartige Algorithmen: «Unser Ziel ist nicht nur EKGs aufzuzeichnen, sondern auch die elektrische Aktivität auf der Herzoberfläche der Vorhöfe in 3D zu rekonstruieren und in Form einer sogenannten Aktivierungsmap darzustellen», so Reto Wildhaber, Tenure-Track Professor am HuCE. Nach Ethik- und Swissmedic-Zulassung konnte der Projektpartner an der Universitätsklinik für Kardiologie am Inselspital eine klinische Studie starten, die bereits erste positive Resultate zeigt. Damit wandten sich die Forscher den Frühgeborenen zu, die mehr als 10 Prozent aller Neugeborenen rund um den Globus ausmachen. Sie brauchen häufig eine kardiorespiratorische Überwachung auf der Intensivstation. Doch diese Observation ist umständlich, da die Registrierung der Vitalparameter Herzrhythmus und Atmung unter relevanten Bewegungsartefakten leidet. Also entstand ein neuartiges Überwachungssystem für Frühgeborene. «Aufgezeichnet werden ein qualitativ hochwertiges EKG und ein Atmungssignal der Speiseröhre», so Prof. Thomas Niederhauser der BFH Abteilung Mikro- und Medizintechnik. Demzufolge werden die Vitalparameter mit einem einzigen Speiseröhren-Katheter überwacht, der auch zur künstlichen Ernährung der Frühgeborenen dient. Mit mehrkanaligen Speiseröhren-Signalen lässt sich sogar das Schlucken visualisieren - im Zusammenhang mit der Atmung ein wichtiger neurologischer Parameter. 

Augenbehandlung mit selektiver Retina-Therapie

Wer sich seiner Brille entledigen möchte, setzt heute oft auf eine Laser-Behandlung. Das Medizinische Laserzentrum Lübeck ging noch einen Schritt weiter und entwickelte die selektive Retina-Therapie (SRT). Sie tritt dann in Aktion, wenn das retinale Pigmentepithel (RPE) das den Metabolismus der Netzhaut regelt, nicht mehr einwandfrei funktioniert. Diese Innovation nahm das Team von Prof. Christoph Meier am HuCE auf, indem es sie durch seine Kompetenz in OCT (Optical Coherence Tomography) ergänzte. Es handelt sich um ein Überwachungssystem für die Retina, welche die Diagnose von Netzhautveränderungen vereinfacht und verbessert. SRT eignet sich vorzüglich, da es selektiv RPE-Zellen wählt, ohne umliegendes Gewebe wie die neuronale Netzhaut, die Aderhaut und Fotorezeptoren zu beeinflussen. Grund dafür sind die stark Licht absorbierenden Melanosome im Innern der RPEZellen, wo rund die Hälfte des einfallenden Lichtes im grünen Spektralbereich in Wärme umgewandelt wird. Melanosome sind spezialisierte Organellen in Pigmentzellen, die das Pigment Melanin bilden, speichern und transportieren. «Die Kombination von SRT und OCT ermöglicht ein Echtzeit-Feedback während der Behandlung», so Christoph Meier. «Damit lässt sich die applizierte Laserdosis überwachen und individuell einstellen.» Für die im Juli 2019 noch hängige Zulassung von Swissmedic ist der Nachweis der Patienten-Sicherheit nötig.

 

Quelle: Swiss Engineering STZ, 12. September 2019

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