Partizipation mit Gemeinschaften – für eine bessere Betreuung und Pflege zu Hause

30.12.2021 Das Projekt «Caring Community Living Labs» sucht nach neuen, lokal verankerten und nachhaltigen Lösungen für die Betreuung und Pflege von Menschen zu Hause. Es nutzt einen partizipativen und gemeinschaftsorientierten Zugang und entwickelt gemeinsam mit Beteiligten vor Ort Modelle von Sorgenden Gemeinschaften an vier Standorten in der Schweiz.

Menschen wollen zu Hause leben, auch wenn sie auf Hilfe, Betreuung oder Pflege angewiesen sind. Die Spitex ist eine wichtige professionelle Dienstleisterin in diesem Bereich. Doch mehr als die Hälfte der Spitex- Kund*innen braucht zusätzliche Unterstützung, um zu Hause gut leben zu können (Spitex Schweiz, 2020). Die Sicherung von Angebot und Finanzierung der benötigten Hilfe und Betreuung ist eine der grossen Herausforderungen in der Langzeitversorgung (Knöpfel, Pardini & Heinzmann, 2018). Die Schweiz verfügt zwar über ein breites Angebot an Institutionen. Im häuslichen Bereich jedoch ist das Gesundheitssystem stark auf unbezahlte Angehörige (Otto et al., 2019) oder schlecht bezahlte Live-in-Betreuer*innen aus dem Ausland angewiesen (van Holten, Salis Gross & Biedermann, 2021). Beide werden oft bis an ihre Grenzen – und zuweilen darüber hinaus – beansprucht. Für die Zukunft braucht es deshalb neue Ansätze, um die benötigte gute Betreuung und Pflege zu Hause sicherstellen zu können. 

Sorgende Gemeinschaften als neue Modelle für die Betreuung zu Hause?

Das Projekt «Neue Impulse für die Versorgung zu Hause: Caring Community Living Labs» nimmt sich dieser Herausforderung an.1 Es erkundet das Potenzial Sorgender Gemeinschaften zur Verbesserung der häuslichen Langzeitversorgung, indem es gemeinsam mit Beteiligten vor Ort Modelle von Sorgenden Gemeinschaften entwickelt, umsetzt und evaluiert. Zentrales Anliegen ist die gemeinschaftliche Organisation von Sorge für und mit Bürger*innen in schwierigen Lebenssituationen (Wegleitner & Schuchter, 2020). Sorgebedarf kann und soll nicht durch einzelne Akteursgruppen gedeckt werden, sondern durch ein Zusammenwirken von professionellen Dienstleistenden, Familien, Nachbarschaften, zivilgesellschaftlich Engagierten, staatlichen und karitativen Institutionen (Klie, 2020). Es geht im Kern um die Frage: Wie kann ein Quartier oder eine Gemeinde ein Ort des guten (Zusammen-) Lebens und der gelebten sozialen Teilhabe werden und bleiben? Sorgende Gemeinschaften stehen also für eine Neuorientierung: Sorge wird zur Aufgabe aller – zum Gemeinschaftswerk.

Partizipative Gemeinschaften
Das Forschungsteam arbeitet auf Augenhöhe zusammen mit den Menschen der jeweiligen Gemeinden.

Selbstbestimmung durch Stärkung der Gemeinschaft fördern 

Ausgehend vom Slogan «Sorge für andere geht alle etwas an – kümmern wir uns darum!» gehen Forschende gemeinsam mit den Beteiligten aus vier Gemeinden in Bern und Zürich der Frage nach, was es braucht, um Sorgende Gemeinschaften anzustossen, aufzubauen und zu stärken. Die Forschenden orientieren sich dabei am Ansatz der community-basierten partizipativen Forschung (engl. community-based participatory research, abgekürzt: CBPR). CBPR ist ein Forschungsstil mit einem ausgeprägt partizipativen Zugang. Im Gesundheitsbereich wird er seit den 1990er Jahren verbreitet verwendet (Wallerstein & Duran, 2006). Kernanliegen ist es, die Selbstbestimmung zu fördern, indem die Gemeinschaft gestärkt und Gesundheitschancen verbessert werden. Das Besondere am Projekt ist, dass nicht mit einer bestehenden Community gearbeitet, sondern diese im Verlauf des Projektes mit lokalen Partner*innen initiiert wird. Auf diese Weise kann die Projektgruppe die Prozesse der Vergemeinschaftung ethnografisch forschend begleiten und die daraus gewonnenen «lessons learnt» Interessierten zur Verfügung stellen. Die Initiativen sind regional unterschiedlich. Sie reichen von einem DigiCafé über solidarische Kartenaktionen während des Lockdowns bis hin zu einem mobilen Marktplatz (für mehr Informationen siehe: www.sorgendegemeinschaft.net). 

Mit lokalen Gemeinschaften auf Augenhöhe forschen, entwickeln und umsetzen 

Das Forschungsteam arbeitet auf Augenhöhe zusammen mit den Menschen und Organisationen der jeweiligen Gemeinden oder Gemeinschaften. Es bemüht sich kontinuierlich, Raum und Möglichkeiten für diese aktive Zusammenarbeit zu schaffen. Ein wichtiges Thema ist die Entscheidungsmacht: Wer steuert das Projekt? So sind die Aktivitäten gemeinsam mit den vor Ort Beteiligten geplant, lanciert, durchgeführt und evaluiert (community ownership). Unter anderem haben Beteiligte Interviews zu den Bedürfnissen von älteren Menschen und zum Thema «Hilfe geben und annehmen» durchgeführt und gemeinsam mit dem Forschungsteam analysiert. Die Erfahrung, auf Hilfe anderer angewiesen zu sein, ist für viele Menschen herausfordernd. Das gegenseitige Geben und Nehmen und die Abkehr von einer reinen Angebotslogik sind Kernelemente von Sorgenden Gemeinschaften – und offenbar gleichzeitig eine Knacknuss bei der Entwicklung derselben. Hier zeigt sich nun exemplarisch die Stärke des partizipativen Vorgehens im Projekt: Durch die gemeinsame Auseinandersetzung wurde nicht nur diese Erkenntnis gewonnen, vielmehr haben sich die Beteiligten mit dieser Hürde persönlich auseinandergesetzt. Der partizipative Prozess ist also ein wichtiger Schlüssel, um Sorgende Gemeinschaften so anzustossen, dass sie auch wirklich zu einer gelebten Realität werden und ihr Potenzial zur Verbesserung der Betreuung entfalten können.

Partizipation mit Gemeinschaften

Was ist eigentlich eine Gemeinschaft?

Ob als «sorgend» oder anderweitig definiert, eine Gemeinschaft ist eine «soziale Einheit auf Basis einer lebensweltlich erfahrenen Identität» (Unger, 2014). Sie ist gekennzeichnet durch ein Gefühl der Zugehörigkeit, das auf geteilten Werten, Anliegen und Interessen beruht. Sie ist damit ein soziales Gefüge, das sich von anderen abgrenzt, die nicht zur Gemeinschaft gezählt werden. Ein- und Ausschlussprozesse sind deshalb immer wieder kritisch zu reflektieren.

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