Forschungsprojekt ermöglicht erweiterten Blick auf reproduktive Rechte und Gesundheit

17.04.2024 Ein Forschungsteam der BFH hat die Perspektive geflüchteter Frauen auf die gesundheitliche Versorgung analysiert. Die Erkenntnisse teilen sie an einer eigens hierfür ins Leben gerufene Tagung zum Thema Reproduktive Gerechtigkeit. Ziel soll sein, den Austausch sowie die Vernetzung zu fördern und somit nachhaltige Veränderungen im Gesundheitssystem zugunsten von geflüchteten Frauen herbeizuführen.

Bei ihrem Projekt handelt es sich um ein partizipatives Forschungsprojekt. Sie haben nicht nur geflüchtete Frauen befragt, sondern gemeinsam mit geflüchteten Frauen geforscht.
Milena Wegelin (zweite von links) mit ihren Forschungskolleginnen des partizipativen Forschungsprojekts REFPER.

Milena Wegelin, im Forschungsprojekt «Reproduktive Gesundheit. Die Perspektive geflüchteter Frauen» haben Sie die gesundheitliche Versorgung von geflüchteten Frauen und insbesondere deren Zugang zu reproduktiver Gesundheit untersucht. Weshalb?

Milena Wegelin: Das Forschungsprojekt sollte geflüchteten Frauen Raum geben, ihre Erfahrungen mit dem Zugang zur gesundheitlichen Versorgung zu teilen. Was benötigen sie, welche Hindernisse und Probleme gibt es? Ausgangspunkt war dabei die bereits in anderen Studien bestätigte Versorgungslücke im Zugang zu Beratung der Familienplanung und Finanzierung von Verhütungsmittel. Diese Lücke stellt eine signifikante Beschränkung der reproduktiven Rechte dar. Wir haben die Perspektive von Frauen mit unterschiedlichem Aufenthaltsstatus erfasst. Sie berichteten über ihre Erfahrungen mit der Gesundheitsversorgung im Allgemeinen und mit Familienplanung und Verhütung im Besonderen, die sie seit ihrer Ankunft in der Schweiz gemacht haben.

Wie sind Sie dabei vorgegangen? 

Milena Wegelin: Geflüchtete Frauen erleben in der ersten Zeit die Gesundheitsversorgung innerhalb der Asylstrukturen und sind zudem unterschiedlich lange in kollektiven Unterbringungsstrukturen platziert. Diese Phase kann Monate bis Jahre dauern. Sie hinterlässt Spuren und hat auch Auswirkungen auf den späteren Umgang mit dem Gesundheitssystem. Diese Lebenssituation ist also ein zentraler Aspekt. Er beeinflusst auch die Familienplanung.

Daher haben wir konzeptionell mit dem Ansatz der Reproduktiven Gerechtigkeit gearbeitet. Dieser verbindet reproduktive Gesundheit mit sozialer Gerechtigkeit. Er fragt nach den Möglichkeiten und Voraussetzungen, die Frauen im Bereich der Reproduktion überhaupt haben. Er bezieht damit die strukturellen Rahmenbedingungen, d.h. die Lebensrealitäten der Menschen mit ein. Der Ansatz basiert auf drei Rechten, die zentral sind, um frei über das eigene Leben und die eigene Familienplanung zu entscheiden: Erstens das Recht, keine Kinder zu bekommen. Zweitens das Recht, Kinder zu bekommen. Drittens das Recht, die eigenen Kinder in einer sicheren und gesunden Umgebung aufzuziehen. 

Es war mir wichtig, dass wir, wenn wir die Perspektive der geflüchteten Frauen erheben, diese auch in die Forschungsarbeit einbeziehen. Dass nicht nur über sie geforscht wird, sondern mit ihnen.

Milena Wegelin
Milena Wegelin Projektleiterin REFPER

Bei ihrem Projekt handelt es sich um ein partizipatives Forschungsprojekt. Sie haben nicht nur geflüchtete Frauen befragt, sondern gemeinsam mit geflüchteten Frauen geforscht. Warum war das in diesem Fall so wichtig? 

Milena Wegelin: Es war eine forschungsethische Entscheidung. Es war mir wichtig, dass wir, wenn wir die Perspektive der geflüchteten Frauen erheben, diese auch in die Forschungsarbeit einbeziehen. Dass nicht nur über sie geforscht wird, sondern mit ihnen. Das partizipative Forschungsdesign hat sich schrittweise entwickelt. In einem ersten Schritt wurde die Dolmetscherin ins Projektteam aufgenommen. Danach kamen für die Analyse der qualitativen Interviewdaten sechs Co-Forschende hinzu, die Erfahrungswissen durch ihre eigene Flucht mitbrachten und heute teilweise in ihrer beruflichen Tätigkeit mit geflüchteten Frauen arbeiten. Die Co-Forschenden haben diesen Prozess begleitet und wir konnten die Datenanalyse auf ihrem Wissen breiter abstützen. 

Im Forschungsbericht legen Sie dar, dass die Schweizer Gesundheitsversorgung in den Asylstrukturen die Frauengesundheit vernachlässigt. Inwiefern? 

Milena Wegelin: Geflüchtete Frauen berichteten, dass ihre gesundheitlichen Probleme oft nur dann behandelt werden, wenn sie dies mit Nachdruck einforderten. Nicht alle haben aber die Kraft dafür. Und wenn doch, werden sie von Fachpersonen nicht immer ernst genommen. So kann es sein, dass geflüchtete Frauen von Anfang an kein Vertrauen in das Schweizer Gesundheitssystem haben. Auch später noch spüren sie den Stempel als «Geflüchtete».

Darüber hinaus ist es für viele geflüchtete Frauen schwierig, zu Informationen über Verhütungsmittel zu kommen und zu verstehen, welche Beratungsstellen es gibt. In den Asylstrukturen werden zwar Kondome kostenlos abgegeben, aber andere Verhütungsmittel werden nicht systematisch finanziert. Es hat einen Mangel an weiblichen Ansprechpersonen in den Camps und einer vertraulichen Umgebung. Das macht das Reden über sexuelle Gesundheit noch schwieriger. 

Geflüchtete Frauen berichteten, dass ihre gesundheitlichen Probleme oft nur dann behandelt werden, wenn sie dies mit Nachdruck einforderten. Nicht alle haben aber die Kraft dafür.

Milena Wegelin
Milena Wegelin Projektleiterin REFPER

Auch thematisieren Sie die ambivalente Situation, in der sich die geflüchteten Frauen bezüglich ihrer reproduktiven Entscheidungsfindung befinden. Können Sie das ausführen?

Milena Wegelin: Die Schweiz als Aufnahmeland wird von den geflüchteten Frauen mit Stabilität und Sicherheit in Verbindung gebracht. Gute Voraussetzungen also für die Gründung oder Erweiterung einer Familie. Es ist jedoch auch ein Schwebezustand, welcher durch einen unbestimmten Verfahrensausgang und die undefinierte Zeitdauer in kollektiven Unterbringungsstrukturen charakterisiert ist. Hinzu kommt, dass die schwierigen Lebensbedingungen in den Kollektivunterkünften mit Abhängigkeiten von Behörden, fehlender Privatsphäre, prekärer Infrastruktur, sozialer Marginalisierung und eben auch beschränktem Zugang zu Gesundheitsversorgung für Schwangere zusätzlich eine enorme Herausforderung ist.

Einige Studienteilnehmerinnen wiesen darauf hin, dass ein Leben in der Kollektivunterkunft kein sicheres und gesundes Umfeld für Kinder darstellt und Mutterschaft demnach erschwert. Sie führten aus, dass dies ein zentraler Grund ist, nicht schwanger werden zu wollen. Diese Bedingungen schränken die Familienplanung demnach massgeblich ein. Dies führte uns zur Erkenntnis, dass das Recht auf reproduktive und sexuelle Gesundheit nicht nur in Bezug auf den Zugang zu Gesundheitsversorgung gedacht werden muss, sondern auch in einem breiteren Sinne der strukturellen Rahmenbedingungen. Und demnach mit dem Ansatz der reproduktiven Gerechtigkeit gedacht werden sollte. 

Geben Sie im Forschungsbericht Empfehlungen ab für eine Verbesserung der Situation?

Milena Wegelin: Nein, wir haben keine expliziten Empfehlungen verfasst, sondern wollten vor allem die Perspektive der Betroffenen aufnehmen und ihr den entsprechenden Raum geben. Es liessen sich sicher einige konkrete Empfehlungen ableiten, aber wir zeigen vor allem auf, dass es sich auch um tieferliegende, systemische Probleme handelt. Wir sind zurzeit in einer Phase des Projektes, in der wir mit den Ergebnissen in einen gelebten Austausch mit Fachpersonen und der breiteren Öffentlichkeit treten. Den Diskurs braucht es zuerst, um überhaupt Veränderungen anstossen zu können. 

Einige Studienteilnehmerinnen wiesen darauf hin, dass ein Leben in der Kollektivunterkunft kein sicheres und gesundes Umfeld für Kinder darstellt und Mutterschaft demnach erschwert.

Milena Wegelin
Milena Wegelin Projektleiterin REFPER

Wie sieht dieser Austausch mit Fachpersonen und der breiteren Öffentlichkeit konkret aus? 

Milena Wegelin: Wir veranstalten am Mittwoch, 26. Juni 2024, im Progr im Bern eine Tagung zu reproduktiver Gerechtigkeit im Fluchtkontext. Ziel der Tagung ist es, die Perspektive der Betroffenen mit der Expertise aus der Praxis und den Erkenntnissen aus der Forschung in einen Dialog zu bringen und Personen miteinander zu vernetzen, die in diesem Themenbereich engagiert sind. Diese Tagung wird also auch von den Co-Forschenden mitgetragen und mitorganisiert. Sie entstand in Zusammenarbeit mit dem Team von onedu und dem Projekt «reproductive geopolitics» der Uni Bern.  

Gibt es weitere Bestrebungen, das Wissen öffentlich zugänglich zu machen?

Milena Wegelin: Zusammen mit den Co-Forschenden präsentieren wir an unterschiedlichen Anlässen unser Wissen, welches wir durch das Projekt gewonnen haben, aber auch die Erfahrungen in unserem partizipativen Ansatz. Wir wurden dafür schon von verschiedenen Stellen eingeladen. Die Co-Forschenden haben zudem ihre Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt zusammenfassend in einem kurzen Bericht dargestellt, welcher von der Hochschule für Künste für ein möglichst breites Publikum niederschwellig aufbereitet worden ist (www.refper-studie.ch). Ausserdem möchten wir die Erkenntnisse mit einer künstlerischen Umsetzung auf eine andere Art zugänglich machen, nicht nur durch Text und Worte. Wir erhoffen uns dadurch, ein breiteres Publikum zu erreichen. Auf diese Weise wollen wir zum Nachdenken anregen und die zur öffentlichen Diskussion der reproduktiven Gerechtigkeit anregen.

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