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Nutri-Score in der Schweiz: Argumente für und gegen das Nährwertkennzeichnungssystem

17.09.2024 Front-of-Pack-Labelling-Systeme (FoPL) wie der Nutri-Score sollen Verbraucher*innen eine einfache Orientierung beim Einkauf bieten, indem sie den Nährwert von Lebensmitteln auf einen Blick erkennbar machen. Während der Nutri-Score in mehreren europäischen Ländern bereits etabliert ist, bleibt er in der Schweiz umstritten. Zwei Ernährungsexpert*innen der BFH beleuchten die Vor- und Nachteile des Nutri-Scores und diskutieren, ob er die Lösung für eine bessere Ernährungsinformation ist.

Das Wichtigste in Kürze

  • Nutri-Score in der Schweiz: Freiwilliges Kennzeichnungssystem, das den Nährwert von Lebensmitteln auf einer Skala von A bis E darstellt.
  • Kontroverse: Befürworter*innen loben einfache Anwendung; Kritiker*innen warnen vor Missverständnissen und Bevorzugung verarbeiteter Produkte.
  • Zukunft: Ein einheitliches und verpflichtendes System könnte Konsument*innen besser unterstützen, doch Informationskampagnen sind notwendig.
Nutri-Score auf Dose ausgewiesen.

Das Front-of-Pack-Labelling-System (FoPL) wird weltweit in mehreren Ländern verwendet, um Verbraucher*innen auf einfache Weise Informationen über den Nährwert von Lebensmitteln und Getränken bereitzustellen. Zu den bekanntesten und am weitesten verbreiteten FoPL-Systemen gehören der Nutri-Score, das Ampelsystem, das Health Star Rating und verschiedene GDA-Systeme (Guideline Daily Amounts).

Die Schweiz kennt vor allem den Nutri-Score, wobei es sich um eine freiwillige Massnahme der produzierenden Firmen handelt. Er zeigt auf einer Farbskala von A bis E, wie ausgewogen ein Produkt zusammengesetzt ist. Das System wurde von einem Forschungsteam in Frankreich entwickelt und dort im Jahr 2017 eingeführt. Auch Deutschland, Spanien, Belgien, Luxemburg und die Niederlande wenden den Nutri-Score an. Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV unterstützt die Einführung in der Schweiz seit 2019. Grosse Konzerne wie Nestlé und Danone und viele andere Lebensmittelunternehmen und Retailer unterstützen die Kennzeichnung mit dem Nutri-Score. 

Allerdings gibt es für eine flächendeckende Einführung auch Gegenwind – einerseits von Teilen der Lebensmittelindustrie, aber auch von einigen Ländern wie Italien. Kürzlich hat die Migros die Kennzeichnung mit dem Nutri-Score gestoppt und auch Danone wird den Nutri-Score von Teilen seines Sortiments, den trinkbaren Miclchprodukten und pflanzenbasierten Drinks schrittweise entfernen. Doch was sind Argumente für und gegen die Kennzeichnung mit dem Nutri-Score? Zwei Ernährungsexpert*innen der BFH äussern ihre persönliche Meinung. 

Infobox: Wie funktioniert der Nutri-Score?

Wie funktioniert der Nutri-Score?

Der Nutri-Score ist ein vereinfachtes, farbcodiertes Kennzeichnungssystem, das auf der Vorderseite von Lebensmittelverpackungen angezeigt wird, um den Nährwert eines Produkts zu bewerten. Der Nutri-Score gibt eine Gesamteinschätzung des Nährwerts eines Lebensmittels auf einer Skala von A (grün) bis E (rot). Diese Buchstaben sind mit verschiedenen Farben hinterlegt, wobei «A» für die beste und «E» für die schlechteste Nährwertqualität steht.

Funktionsweise des Nutri-Scores

Der Nutri-Score basiert auf einer Punkteskala, die die Nährstoffzusammensetzung eines Lebensmittels pro 100 g / 100 ml bewertet:

Positive Faktoren, die den Score verbessern:

  • Ballaststoffe: Lebensmittel mit einem höheren Ballaststoffgehalt 
  • Proteine: Ein höherer Proteingehalt 
  • Anteil von Obst, Gemüse, Hülsenfrüchten, Nüssen und bestimmten Ölen

Negative Faktoren, die den Score verschlechtern:

  • Energiegehalt (Kalorien)
  • Gesättigte Fettsäuren
  • Zucker
  • Süsstoffe in Getränken
  • Salz (Natrium)

Berechnung des Nutri-Scores

Die Berechnung erfolgt durch das Aufaddieren der Punkte für negative Faktoren und das Abziehen der Punkte für positive Faktoren:

  • Negative Punkte: Punkte für Kalorien, gesättigte Fettsäuren, Zucker und Salz werden addiert.
  • Positive Punkte: Punkte für Ballaststoffe, Proteine und den Anteil an Obst, Gemüse etc. werden von der negativen Punktzahl abgezogen.

Das Endergebnis wird in eine der fünf Nutri-Score-Kategorien (A bis E) eingeordnet.
 

Nutri-Score A

Pro – drei Argumente für den Nutri-Score

Dr. Undine Lehmann, Leiterin Master-Studiengang Ernährung und Diätetik und Forscherin an der BFH, unterstreicht die positiven Aspekte des Nutri-Scores. 

Ist einfach anwendbar und wissenschaftlich validiert

Der Nutri-Score unterstützt Konsument*innen dabei, gesündere Lebensmittel auswählen zu können. Intuitiv verständlich und mit einem Blick auf die Vorderseite der Verpackung direkt vor dem Einkaufsregal kann der Nährwert erfasst und verglichen werden. Dies erleichtert insbesondere Personen mit tieferem Bildungsstand und anderen vulnerablen Gruppen die Beurteilung. In der Schweiz gibt es bisher kein einheitliches und verbindliches System zur Nährwertkennzeichnung auf der Vorderseite von Verpackungen. Der von mehreren Ländern eingeführte und wissenschaftlich validierte Nutri-Score ist eine Chance, um Konsument*innen objektiv zu informieren.  

Erfasst wichtige Inhaltsstoffe wie Zucker, Salz und Ballaststoffe

Der Nutri-Score berücksichtigt Nährstoffe wie Zucker, Salz und gesättigte Fettsäuren, aber auch wertbringende Inhaltstoffe wie Ballaststoffe oder den Gehalt an Obst, Gemüse und Hülsenfrüchten. Diese Inhaltsstoffe sind am stärksten mit dem Auftreten nichtübertragbarer Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes assoziiert. Der Nutri-Score berücksichtigt nicht in vollem Umfang die Qualität des Lebensmittels – dies wird aber bisher von keinem Nährwertkennzeichnungssystem erfasst und ist auch nicht zu erwarten. Weitere Informationen wie die Zutatenliste, der Verarbeitungsgrad und die Herkunft sind in Kombination mit dem Nutri-Score notwendig, um ein vollständiges Bild über die Qualität eines Lebensmittels zu erhalten. 

Regt zur Verbesserung der Produkte an

Der Nutri-Score unterstützt die Umsetzung der Schweizer Ernährungsstrategie, indem er Konsument*innen zielgerichtet informiert und damit die Ernährungskompetenz stärkt. Zudem regt er die Lebensmittelindustrie dazu an, Produkte neu zu formulieren, um deren Nährwert zu verbessern. Dies kann die Lebensmittelumgebung für Konsument*innen verbessern.

Nutri-Score E

Contra – drei Argumente gegen den Nutri-Score

Dr. David Fäh, Dozent an der BFH, hebt die negativen Aspekte des Nutri-Scores hervor.

Lässt unverarbeitete Produkte ausser Acht

Der Nutri-Score bevorzugt verarbeitete Produkte und lässt diese für die Konsument*innen gegenüber unverarbeiteten Produkten attraktiver erscheinen. Es gibt keine Karotten oder Äpfel, die einen Nutri-Score A haben, obwohl sie ihn mehr verdienen als alle verarbeiteten Lebensmittel. Da viele hochverarbeitete vegane Fleischersatzprodukte einen Nutri-Score A auf der Verpackung tragen, wirken sie ungerechtfertigterweise attraktiver. 

Ermöglicht Schlupflöcher für «ungesunde» Lebensmittel

Der Nutri-Score wird mit seinem Algorithmus immer Schlupflöcher für die Industrie lassen, um die Rezeptur des Lebensmittels anzupassen, was zwar den Nutri-Score verbessert, aber nicht unbedingt die Gesundheit der Konsument*innen. So berücksichtigt die Aktualisierung des Nutri-Scores nun auch kalorienfreie Süssstoffe wie Aspartam und Cyclamat, wodurch beispielsweise Cola Zero einen schlechteren Score erhält. Kalorienhaltige Zuckeralkohole wie Xylit und Sorbit werden jedoch weiterhin nicht in den Algorithmus einbezogen. Es wäre daher denkbar, dass Lebensmittelfirmen nach dem Update kalorienfreie Süssstoffe durch kalorienhaltige Zuckeralkohole ersetzen, um einen günstigeren Nutri-Score zu erzielen.   

Ist missverständlich für vulnerable Gruppen

Der Nutri-Score ist unverständlich und missverständlich, vor allem für die Bevölkerungsgruppe, die er am dringendsten erreichen sollte. Menschen mit niedrigem Bildungsniveau verstehen z. B. nicht, dass der Nutri-Score immer innerhalb einer Produktkategorie bewertet und dass ein A oder B kein Freipass für unbegrenzten Konsum ist. Dem Verständnis abträglich ist auch, dass der Nutri-Score freiwillig ist und somit je nach Herstellungsfirma oder Verkaufsstelle auf einem Produkt erscheinen kann oder auch nicht. Sinnvoller wären grosse und deutliche Warnhinweise, z. B. auf Produkten mit hohem Salz- oder Kaloriengehalt, wie sie in einigen mittel- und südamerikanischen Ländern auf Produkten zu finden sind. Diese erhöhen auch eher den Druck auf die Herstellungsfirmen, die Rezeptur des Produktes zugunsten vulnerabler Gruppen anzupassen.  

Fazit: Mehr Information und Sensibilisierung nötig

Die BFH hat das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwese (BLV) im Jahr 2022 im Rahmen eines Forschungsprojektes dabei unterstützt, Empfehlungen zur Erhöhung der Wirksamkeit des Nutri-Scores in der Schweiz zu geben. Die Empfehlungen sind nach wie vor aktuell: Es braucht weitere Informations- und Sensibilisierungskampagnen, um die korrekte Anwendung des Nutri-Scores zu fördern und damit das volle Potenzial auszuschöpfen. Die Ernährungsexpert*innen der BFH sind sich zudem einig, dass ein einheitlich verbindliches FoPL für Konsument*innen am meisten helfen und die Orientierung erleichtern würde. Nicht zuletzt braucht es weitere Anstrengungen, um das Interesse an gesunder, ausgewogener Ernährung in der Bevölkerung zu stärken und den Konsum zu erleichtern.

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