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Wie interdisziplinäre Teams Jugendliche im Strafverfahren begleiten

10.12.2025 Bei der Jugendanwaltschaft arbeiten Sozialarbeitende eng mit Jurist*innen zusammen – und übernehmen dabei Aufgaben in der Abklärung, in der Betreuung und im Vollzug. Bachelor-Studierende der Sozialen Arbeit erfahren im Praktikum, wie interdisziplinäre Zusammenarbeit gelebt wird. Lara Zambaldi und Jasmin Bischof von der Jugendanwaltschaft Berner Jura-Seeland im Interview.

Das Wichtigste in Kürze

  • Interdisziplinäre Zusammenarbeit: Sozialarbeitende arbeiten eng mit Jurist*innen zusammen, bringen ihre Expertise in Abklärung, Betreuung und Massnahmenvollzug ein, um ihre Empfehlungen fachlich fundiert zu begründen.

  • Lernfeld für Studierende: Praktikant*innen übernehmen schrittweise Verantwortung, bearbeiten eigene Fälle und entwickeln eine professionelle Haltung, indem sie rechtliche und soziale Perspektiven einbeziehen.

  • Wissenschaftliche Vielfalt: Neben Recht sind Psychologie, Pädagogik, Soziologie und Medizin unerlässlich, um Jugendliche ganzheitlich zu verstehen und passende sozialarbeiterische Empfehlungen zu formulieren.

Jasmin Bischof, die Jugendanwaltschaft hat vielfältige Aufgaben. Wie sind Sie organisiert?

Jasmin Bischof: Nach Jugendstrafrecht können folgende Schutzmassnahmen verfügt werden: Aufsicht, persönliche Betreuung, ambulante Behandlung oder Unterbringung. Das Aufgleisen, Ausgestalten und Kontrollieren der laufenden Schutzmassnahmen ist die Domäne der Sozialarbeitenden. Die Strafen (Verweise, persönliche Leistungen, Bussen oder Freiheitsentzug) sind nicht unser Business. 

 

Lara Zambaldi: Bei einer Abklärung prüfen wir beispielsweise, ob es eine Schutzmassnahme braucht. 

 

Bischof: Die Abklärung wird angeordnet durch eine Jugendanwältin. An einem Fall arbeiten jeweils ein*e Jurist*in, ein*e Sozialarbeiter*in und ein*e Assistent*in gemeinsam.

Jasmin Bischof sitzt gestikulierend an einem Tisch vor einem Flipchart.
Jasmin Bischof hat einen Bachelor Sozialpädagogik in Rorschach absolviert sowie den Master Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin. Danach war sie in Berlin berufstätig und ist nun ebenfalls seit fünf Jahren als Sozialarbeiterin bei der Jugendanwaltschaft. Sie betreut Studierende als Praxisausbildnerin.

Jugendanwaltschaft Berner Jura und Seeland

Die Jugendanwaltschaft Berner Jura-Seeland in Biel ist eine von vier regionalen Dienststellen im Kanton Bern. Bei einer Jugendanwaltschaft gehen Strafanzeigen ein, sie führen Untersuchungen und erheben Anklage vor dem Kantonalen Jugendgericht. Ferner obliegt den Dienststellen der Vollzug der Massnahmen und Strafen.
Die Sozialarbeitenden sind Teil aller Prozesse: Sie übernehmen Abklärungen, wenn es um das Kindeswohl geht, organisieren psychologische oder psychiatrische Gutachten und begleiten den Massnahmenvollzug mit Standortgesprächen. Sie übernehmen die Probezeitbegleitungen (Bewährungshilfe im Erwachsenenstrafrecht), die vor allem Deliktbearbeitung beinhalten und organisieren die Arbeitseinsätze, die erbracht werden müssen im Vollzug.

In Biel arbeiten fünf Sozialarbeiter*innen und fünf Jugendanwält*innen. 

Das Gebäude der Jugendanwaltschaft in Biel

Wie ist die Arbeitsteilung zwischen Jurist*innen und Sozialarbeitenden?

Zambaldi: Wir haben keine Entscheidungsmacht oder -befugnis. Das macht die Verfahrensleitung, also die*der zuständige Jugendanwält*in.
 

Wenn Sie also zum Schluss kommen, dass eine Schutzmassnahme notwendig ist, so entscheidet die Juristin darüber?

Zambaldi: Ja, wir können empfehlen und die Jurist*innen können der Empfehlung folgen oder auch nicht. Das bedeutet, in der Fallbearbeitung ist unsere fachliche Expertise als Sozialarbeiterin*in gefragt. 

Können Sie sich noch an den Beginn Ihrer Arbeit bei der Jugendanwaltschaft erinnern, als Sie plötzlich so nah mit einer anderen Disziplin zusammengearbeitet haben?

Bischof: Ich fand es zu Beginn schwierig, die ganzen Abläufe zu verstehen. Die Arbeiten der Jurist*innen müssen rechtlich abgesichert sein. Ich war da als Sozialarbeiterin gefordert, ob das, was ich vorschlage, auch juristisch angezeigt ist.

Die Jurist*innen treffen zwar die Entscheidungen, aber wir sind die Expert*innen für die vorsorglichen Massnahmen. Damit einher geht grosse Verantwortung für die fachliche Entscheidung.

  • Jasmin Bischof Sozialarbeiterin

Das wird pro Fall in den interdisziplinären Teams ausgehandelt?

Zambaldi: Ja, wir sind da sehr intensiv im Austausch, wägen ab, was wir im Sinne des Klienten oder der Klientin machen, welche Rahmenbedingungen und gesetzlichen Möglichkeiten existieren. 

 

Bischof: Und in diesem Prozess werden auch wir gehört. Unsere Expertise hat Gewicht. Die Jurist*innen treffen zwar die Entscheidungen, aber wir sind die Expert*innen für die Schutzmassnahmen, respektive den Massnahmenvollzug. Damit einher geht grosse Verantwortung für die fachliche Entscheidung. 

Lara Zambaldi spricht und gestikuliert.
Lara Zambaldi ist seit fünf Jahren als Sozialarbeiterin bei der Jugendanwaltschaft in Biel tätig. Sie hat Sport und Psychologie in Bern studiert und danach den Bachelor in Sozialer Arbeit in Luzern absolviert. Seit 2022 ist sie auch als Praxisausbilderin tätig.

Muss sich die Soziale Arbeit dabei stark behaupten?

Zambaldi: Wenn man in einem interdisziplinären Team unterwegs ist, muss man sich mehr behaupten, als wenn man unter sich ist. Und in der Justiz weht nochmal ein anderer Wind. Ich musste lernen, mich als Sozialarbeiterin in diesem Kontext zu positionieren und mich für unsere Profession stark machen. Wir müssen unsere Empfehlungen auf Basis sozialarbeiterischer Werte und Theorien, Methoden und Bezugswissenschaften immer gut begründen. Dann werden wir von den Jurist*innen ernst genommen.

Ist das eine gute Art von fachlicher Challenge? 

Bischof: Ja, das ist es. Dadurch, dass man immer wieder herausgefordert wird, gut zu argumentieren, gibt es einem selbst mehr Klarheit. Dies erleben unsere Studierenden im Praktikum immer wieder als sehr spannend. Wieso ist die Soziale Arbeit eine Profession? Was bedeutet dies in der Praxis? Alle Praktikant*innen haben sich damit auseinandergesetzt.

 

Zambaldi: Vielen ist nicht klar, dass auf einer Jugendanwaltschaft viele sozialarbeiterische Möglichkeiten bestehen. Es gibt zwar ein Spannungsfeld zwischen Sozialer Arbeit und Recht. Das hilft aber weiter, wenn es darum geht, eine eigene professionelle Haltung zu entwickeln. Man lernt, zu begründen. Letztlich stärkt das die Soziale Arbeit, weil man sich so im Praktikum eine professionelle Haltung erarbeitet.

Wir müssen unsere Empfehlungen auf Basis sozialarbeiterischer Werte und Theorien, Methoden und Bezugswissenschaften immer gut begründen. Dann werden wir von den Jurist*innen ernst genommen.

  • Lara Zambaldi Sozialarbeiterin

Wird dies von den Studierenden als herausfordernd erlebt?

Bischof: Ja, das ist schon eine grosse Herausforderung, besonders für jene, die das erste Praktikum absolvieren. Sie müssen den rechtlichen Kontext verstehen, die Arbeit selbst, die Fälle und ihre oft hohe Komplexität. 

 

Zambaldi: Ich habe selbst mein Praktikum auf der Jugendanwaltschaft Emmental-Oberaargau absolviert: Es war herausfordernd und gleichzeitig dankbar, weil man von dieser Komplexität stark profitiert. Deshalb begleiten wir die Studierenden als Praxisausbildnerinnen sehr nah. 

 

Bischof: Spannend für sie ist insbesondere, dass wir mit so vielen weiteren Institutionen zu tun haben. Die Studierenden können ein Heim besuchen, haben Kontakt mit Therapeut*innen oder Coaches im ambulanten Rahmen. Genauso arbeiten sie mit Institutionen der Arbeitsintegration, mit dem BIZ, mit Gutachter*innen oder mit Schulen zusammen.

Den Abschlusskompetenzen auf der Spur

Wer den Bachelor in Sozialer Arbeit absolviert, ist nach Abschluss des Studiums in zwölf professionellen Handlungskompetenzen fit (Kompetenzprofil). In verschiedenen Beiträgen gehen wir den Fragen nach, was unter diesen Kompetenzen zu verstehen ist, wie sich das «Kompetent-sein» in den verschiedenen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit zeigt und wie es durch die enge Verzahnung von Hochschulsemestern und Praxisausbildung gelingt, den Kompetenzerwerb zu unterstützen.

Im Fokus dieses Beitrags steht die Interdisziplinäre Kompetenz: Bachelor-Absolvent*innen können bezugswissenschaftliche Gehalte aus der jeweiligen disziplinären Logik verstehen und mit der Sozialen Arbeit verbinden.

Bearbeiten die Studierenden im Praktikum eigene Fälle?

Zambaldi: Anfangs tasten sie sich heran und übernehmen später selbständig Aufgaben bis hin zur Fallführung. Selbstverständlich immer mit uns im Hintergrund, aber sie führen allein Gespräche oder gehen mit Jugendlichen zu Institutionen und führen Standortbestimmungen durch. 

 

Bischof: Um die Studierenden an beide Disziplinen heranzuführen, gibt es eine Einführung ins Jugendstrafrecht durch eine*n Jugendanwält*in. Sie sitzen zeitweise in den Büros der Kanzlei und am Arbeitsplatz der Assistent*innen. So lernen sie den ganzen Betrieb kennen. 

Gibt es weitere wichtige Bezugswissenschaften? 

Zambaldi: Wir haben viele Fälle, bei denen wir weitere Bezugswissenschaften einbeziehen müssen: Psychologie, Pädagogik, Soziologie, Medizin – da ist alles möglich. Wir müssen die jungen Menschen, mit denen wir arbeiten, vollumfänglich verstehen. Ohne Beizug weiterer Disziplinen wäre das unmöglich. 

Der Eingang der Jugendanwaltschaft Berner Jura und Seeland in Biel
Die Sozialarbeitenden sind bei der Jugendanwaltschaft zuständig für Abklärungen, wenn es um das Kindeswohl geht, geben psychologische oder psychiatrische Gutachten in Auftrag und begleiten den Massnahmenvollzug mit Standortgesprächen.

Gibt es auch Schwierigkeiten in der interdisziplinären Zusammenarbeit?

(beide lachen)

 

Zambaldi: Selbstverständlich. 

 

Bischof: Die Schwierigkeit ist die gleiche, wie generell in unserer Gesellschaft: Oftmals wird die Soziale Arbeit nicht als Profession anerkannt.

Von wem?

Bischof: Ein Beispiel, das uns immer wieder begegnet: Wann reicht eine Abklärung und wann braucht man ein Gutachten von einer Psychiaterin oder einem Psychologen? Aus meiner Erfahrung stelle ich fest, dass ein psychologisches oder psychiatrisches Gutachten einer Verfügung zur Platzierung mehr Gewicht verleiht. Ich bin der Meinung: Zwar können wir als Sozialarbeitende keine psychischen Krankheiten diagnostizieren, doch wenn es darum geht, die Person oder das Sozialverhalten eines Menschen zu erklären und daraus einen spezifischen Unterstützungsbedarf abzuleiten, können wir dies genauso gut. Dort ist die Soziale Arbeit (noch) nicht gleich anerkannt wie die Disziplin der Psychologie. In diesem Punkt fragen wir stets kritisch nach, ob ein Gutachten wirklich notwendig ist.

Wie geht man damit um, wenn man merkt, dass die eigene Expertise nicht anerkannt wird?

Bischof: Was sicherlich hilft, ist das Team. Wir sprechen uns untereinander ab und geben gemeinsam sowie dienststellenübergreifend Anliegen ein. So können wir unsere Position stärken. 

Welche Chancen sehen Sie in der disziplinären Vielfalt innerhalb des Teams? 

Zambaldi: Dass man sich reibt und positionieren muss, ist gleichzeitig eine Chance, die beste mögliche Lösung für den Jugendlichen zu finden. Verschiedene Blickwinkel helfen in jedem Fall.

 

Bischof: Oftmals ergänzen sich Sichtweisen gut. Das Jugendstrafrecht bewegt sich genau in diesem Spannungsfeld: Einerseits ist man eine Behörde, die sagt, hier bist Du zu weit gegangen und musst bestraft werden, andererseits bietet man Unterstützung für Jugendliche, sich in der Gesellschaft zurecht zu finden und schafft Zugänge. 

 

Zambaldi: Schutz und Erziehung, In diesem Feld bewegen wir uns. Im Sinne einer Abklärung wollen wir den ganzen Jugendlichen mit seinem Umfeld und seiner Person erfassen – losgelöst vom Delikt. Was sind seine Schutzfaktoren, seine Risikofaktoren?

Die Perspektive einer Jugendanwältin

«Die Zusammenarbeit mit den Sozialarbeitenden erlebe ich regelmässig als sehr spannend, herausfordernd, bereichernd und insbesondere als unbedingt notwendig in unserem Berufsfeld. Das Spezielle am Jugendstrafrecht ist gerade die interdisziplinäre Zusammenarbeit. Ohne die verschiedenen Disziplinen wäre ein Jugendstrafrecht, wie wir es kennen, gar nicht möglich. Insofern hat die Expertise von Sozialarbeitenden in meinem Berufsfeld einen hohen Stellenwert und ist ein Teil des Fundaments, um die juristischen Entscheide im Bereich der Schutzmassnahmen fällen zu können.  

Im Rahmen meiner Arbeit wünsche ich mir einen stetigen, offenen, ehrlichen und auch hinterfragenden Austausch mit der*dem zuständigen Sozialarbeiter*in. So erlebe ich das auch in meiner täglichen Zusammenarbeit mit den auf unserer Dienststelle tätigen Sozialarbeitenden. Dabei kann es durchaus vorkommen, dass die beiden 'Welten' aufeinander prallen und intensive Diskussionen entstehen. Hier ist es mir wichtig, dass beide Seiten bereit sind, die anderen Argumente anzuhören und in die Überlegungen mit einzubeziehen. Schlussendlich muss es das Ziel sein, dass der betroffene junge Mensch im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten bestmögliche Unterstützung erhält in seinem Weg heraus aus der Delinquenz in Richtung eines selbständigen Lebens.»

Esther Gerber, Jugendanwältin der Region Berner Jura-Seeland

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