Digitalisierung des Gesundheitswesens: Wie Designprinzipien aus der Wirtschaft bei der Transformation helfen

30.03.2023 Die Digitalisierung des Gesundheitswesens wird stark vorangetrieben – in der Praxis jedoch oft unsorgfältig und planlos. Um den Transformationsprozess erfolgreich zu gestalten, braucht es nicht nur Fachexpertise aus dem Gesundheitswesen, sondern auch Designexpertise aus der Wirtschaft.

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Der Fachkräftemangel hat im Gesundheitswesen erwiesenermassen negative Auswirkungen auf die Patientensicherheit (Blegen et al., 2018; Rosenberg, 2019; Scogin, 2022). Die Folgen sind unterlassene Pflege, höhere Mortalitätsraten oder abnehmende Zufriedenheit mit der Versorgungsqualität.

Die digitale Transformation des Gesundheitswesens kann Abhilfe schaffen und den Fachkräftemangel mildern (Kraus et al., 2021), erkennbar an einer höheren Qualität der Versorgung ohne Mehrkosten. Bei konsequenter digitaler Transformation fallen viele zeitaufwändige Aufgaben weg, es bleibt mehr Zeit für die Mensch-zu-Mensch-Interaktion und alle Involvierten können besser informiert handeln.

Argumente gegen die Digitalisierung

Der Austausch mit der Praxis zeigt aber, dass es auch Argumente gegen die digitale Transformation gibt. Es wird befürchtet, dass zwar die Qualität steigt, aber auch die Kosten wachsen. So wird beispielsweise argumentiert, dass der Einbezug von Wund- und Diabetesspezialist*innen durch eine digitale Plattform doppelt kostensteigernd sei: Der Einbezug der Spezialist*innen koste und die Plattform verursache zusätzliche Ausgaben. Dieses Argument ist jedoch falsch: Wenn Fachexpertise dort fehlt, wo sie benötigt wird, führt dies tatsächlich zu Mehraufwand bei den Versorgungsleistungen und zu mehr Leid für die Patient*innen.

Weiter wird argumentiert, dass «im wirklichen Leben» die Digitalisierung häufig weniger Nutzen bringe als versprochen. Beispiele hierfür sind fehlende Benutzerfreundlichkeit von elektronischen Patientendossiers, ziellos wachsende Datenerfassung ohne zweckmässige Nutzung, fehlende Interoperabilität, mangelhafte Datenqualität, etc. All diese Defizite können in der Praxis beobachtet werden, sind aber stets Folgen eines mangelhaften digitalen Designs.

Digitalisierung ohne Strategie

Die Gründe für das mangelhafte digitale Lösungsdesign im Gesundheitswesen sind vielfältig und oft scheinbar paradox: Es geht um Partikularinteressen, es gibt «Hidden Agendas» oder diffuse Ängste davor, übertriebene Ansprüche lenken von eigentlichen Herausforderungen ab, aus Bequemlichkeit wird ein zu enger Designfokus gewählt, Desinteresse am Kontext und mangelhaftes Prozessverständnis führen zu groben Fehlern, Komplexität wird verleugnet, die zukünftigen Nutzer*innen werden unzureichend involviert, falsche Ressourcenplanung erschwert die Implementierung und adressatengerechte Kommunikation findet nicht statt (Iyanna et al., 2022; PRAEVENIRE, 2022; Ricciardi et al., 2019; Thilo et al., 2022). Die zwei grundsätzlichsten Ursachen sind jedoch die fehlende Bereitschaft, genügend zu investieren und die mangelnde Neugier in Bezug auf die Wirkungsmechanismen. Einfach gesagt: Es wird strategielos und unsorgfältig digital transformiert und es wird nicht überprüft, ob die Transformation funktioniert und wirkt.

Um den Transformationsprozess erfolgreich zu gestalten, braucht es nicht nur Fachexpertise aus dem Gesundheitswesen, sondern auch Kenntnisse der digitalen Designprinzipien und Transformationsmuster. Darum beschäftigt sich an der Berner Fachhochschule das Innovationsfeld Digitale Gesundheit des Departements Gesundheit gemeinsam mit dem Institut Digital Technology Management des Departements Wirtschaft mit der Praxis der digitalen Transformation in der Pflege. So können sowohl die fachlichen als auch die generischen Designaspekte des Transformationsprozess beleuchtet werden.

Das Forschungsinteresse gilt den Menschen in den digitalen Transformationsprozessen: Welche Vorgehensweisen und Praktiken funktionieren gut, welche kaum oder gar nicht? Wie müssen digitale Lösungen designt werden, damit sie akzeptiert werden und im Alltag Nutzen bringen? Wie können Menschen zur Nutzung der digitalen Werkzeuge befähigt werden? Welche Aufgaben sollen Führungspersonen im digitalen Transformationsprozess übernehmen? Wie können sie sich gut darauf vorbereiten? Wie müssen die digitalen Transformationsprozesse auf Organisationsebene aussehen, damit im Outcome die fachdisziplinären Werthaltungen gestärkt werden? Welche kommunikativen Interventionen braucht es für den Erfolg eines digitalen Transformationsprojekts?

Fach- und Designexpertise zusammenbringen

Die Zusammenarbeit von Fachexpertise bez. Pflegeforschung und digitaler Transformationsexpertise bez. Wirtschaftsforschung ist ein Erfolgsschlüssel digitaler Transformationsprozesse von Gesundheitsinstitutionen und ihren Mitarbeitenden. Die Expert*innen der BFH begleiten die digitale Transformation der Spitex Bern. Dabei zeigt das Beispiel der Datenbewirtschaftung den Vorteil einer Zusammenarbeit: Eine systematische Datenbewirtschaftung erlaubt es Organisationen, ihre Klientel besser zu verstehen und Qualität und Effektivität ihrer Leistungen zu verbessern. Im Fall der Spitex Bern werden Leistungen durch Pflegekräfte unterschiedlicher Ausbildungsgrade mit unterschiedlichen Weiterbildungsprofilen, Sprachkenntnissen und unterschiedlicher Berufserfahrung erbracht. Für den Pflegeprozess, die interne Koordination, die Kommunikation mit Klient*innen und Angehörigen und die Zusammenarbeit mit den Zuweisern nutzen sie digitale Werkzeuge. Diese unterstützen nicht nur ihre Arbeit, sondern liefern auch Daten. Diese Daten ermöglichen ein vertieftes Verständnis der Merkmale und Bedürfnisse der betreuten Klientel, der erbrachten Leistungen und etwaiger Probleme im Prozess. Damit kann die Versorgung besser ausgerichtet, Ressourcen und Fachexpertise können gezielter eingesetzt werden. Notwendig dafür ist, dass Daten professionell bewirtschaftet werden, d.h. regelmässig erfasst, analysiert, interpretiert und kommuniziert werden, und die Mitarbeitenden über die passenden Tools und Skills verfügen.

Das Vorgehen beim Entwickeln der Datenbewirtschaftung steht praktisch immer vor den gleichen Herausforderungen: Strategie, Führung, Kultur, technische Architektur und Governance. Die Designexpertise aus der Wirtschaftsforschung, das professionsspezifische Fachwissen und die Expertise aus der Pflegeforschung und Digitalisierungserfahrungen aus unterschiedlichen Settings sind dafür gleichermassen wichtig.

Digitalisierung kann und soll im Gesundheitswesen das professionelle Handeln stärken und seine Qualität erhöhen – mit dem Ziel beides zu erreichen: Gesündere Patient*innen und leistungsfähige zufriedene Gesundheitsfachpersonen. Dafür braucht es aber vielseitige Expertise, die nur durch Zusammenarbeit komplementärer Partner bereitgestellt werden kann.

Die Autor*innen

Friederike J.S. Thilo
Reinhard Riedl

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