Kriegsbedingte Karriereschocks und Gig Work

03.11.2022 Wie wirken sich einschneidende Erlebnisse wie ein Kriegsausbruch auf die Karrieren von GigWorker*innen aus? Dr. Tetiana Tverdushka, die aus der Ukraine in die Schweiz geflohen ist, forscht am Institut New Work der BFH Wirtschaft zu Gig Work und erzählt im Interview, welche persönliche Verbindung sie zu diesem Thema hat.

Tetiana, du bist seit dem Frühling 2022 in der Schweiz. Wie bist du nach Bern und an die BFH gekommen? 

Wie ganz viele Ukrainer*innen bin ich am 24. Februar 2022 vom Lärm der Explosionen aufgewacht. Meine Familie und ich verbrachten danach drei Wochen zu Hause in Kiew und blieben, so oft es nötig war, in unserem Keller. Lange wachte ich morgens mit der Hoffnung auf, dass alles nur ein Alptraum war, aber die Strassensperren und beunruhigende Newsmeldungen brachten sofort die harte Realität zurück. Meiner Familie und mir gelang die Evakuierung aus Kiew in eine sicherere Region im Westen der Ukraine, aber auch dort konnten wir längerfristig nicht bleiben. Deswegen beschlossen wir bereits im April, weiter nach Westeuropa zu fahren. Russische Raketen, die wir von unseren Fenstern aus sehen konnten, bestätigten unseren Entscheid. Zudem hatte ich schon damals innerlich das Gefühl, dass der Krieg länger andauern würde. Dank der Einladung der Berner Fachhochschule und Prof. Dr. Sebastian Gurtner konnte ich dann mit meiner Tochter Liza und unserem kleinem Pudel Leo nach Bern reisen.  

Du arbeitest an einem Forschungsprojekt zu Plattformarbeit (bzw. Gig Work) am Institut New Work. Hast du einen persönlichen Bezug zu diesem Thema? 

Ja, auf jeden Fall. Dazu muss man wissen, dass die Ukraine in den letzten Jahren eine international führende Position in Bezug auf über digitale Plattformen (bzw. Gig-Work-Plattformen) vermittelte Arbeit einnahm, wenn man sich die Finanzierungen und die auf den Plattformen platzierten Angebote anschaut. Bei der Anzahl IT-Freelancer*innen steht die Ukraine weltweit an erster Stelle. Daher ist es für mich persönlich sehr interessant, mich mit diesem Thema zu beschäftigen. Zudem war ich kurz vor Beginn des Krieges als Beraterin am Start-Up-Projekt MIRAHUB beteiligt. Dort bauten wir eine digitale Plattform für hochqualifizierte Expert*innen auf. 

Porträt Tetiana Tverdushka
Dr. Tetiana Tverdushka ist Associate Professor am International Institute of Business in Kiew (Ukraine). Sie ist zertifizierte REFA-Beraterin und -Trainerin und engagiert sich als Mentorin für den ukrainischen Business Incubator «UF Incubator». Sie verfügt über langjährige Berufserfahrung in der Ausbildung von Wirtschaftsstudierenden, der Beratung des operationalen Managements, der Organisation von Produktionsprozessen, Arbeitseinteilung, Personalmanagement und innovativem Unternehmertum.

Was untersucht ihr genau in eurem Forschungsprojekt? 

Wir möchten herausfinden, wie sich kriegsbedingte Karriereschocks auf die Karriereentwicklung von GigWorker*innen in der Ukraine auswirken. Karriereschocks sind «störende und aussergewöhnliche Ereignisse», die ausserhalb der Kontrolle von Betroffenen liegen. Sie lösen einen Gedankenprozess über die eigene Karriere aus, verändern das Jobsuchverhalten und können unternehmerische Gründungsabsichten fördern. Da Gig Work einen bedeutsamen Teil der bezahlten Arbeit auf dem ukrainischen Arbeitsmarkt ausmacht, stellt sich die Frage, inwiefern Gig-Arbeit per se Möglichkeiten bietet, sich an kriegsbedingte Karriereschocks anzupassen, und ganz konkret eine Chance für Personen im aktuellen ukrainischen Kontext darstellt.  

Was möchtet ihr mit eurer Forschung erreichen? 

Vor allem erhoffen wir uns, GigWorker*innen und Plattformen im aktuellen ukrainischen Kriegskontext zu unterstützen und damit einen Beitrag zum Wiederaufbau des ukrainischen Arbeitsmarkts zu leisten. Ausserdem möchten wir als Wissenschaftler*innen zur aktuellen Karriereforschung beitragen, in dem wir besser verstehen, wie kriegsbedingte Karriereschocks die Karrierewege von Betroffenen positiv sowie negativ beeinflussen.   

Über das Forschungsprojekt

Ein wichtiger Bereich der Forschung am Institut New Work befasst sich mit dem Thema «Plattformarbeit in der Schweiz». Zusammen mit dem Institut für Psychologie an der Universität Bern (Prof. Dr. Daniel Spurk) erforscht das Institut New Work unter der Leitung von Prof. Dr. Caroline Straub das noch junge Phänomen Plattformarbeit im deutschsprachigen Raum, um die Chancen und Risiken dieser neuen Arbeitsformen für Arbeitnehmende und Unternehmen besser zu verstehen. Unser Forschungsprojekt wird vom Schweizerischen Nationalfonds im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms NRP 77 zu digitaler Transformation finanziert. Das Projekt zu kriegsbedingten Karriereschocks wird ausserdem finanziell von der Universität Bern unterstützt.

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