Entscheidungsrelevante Evidenz für eine qualitativ hochwertige und effiziente Gesundheitsversorgung

Artikel, erschienen in «frequenz» 2-2020 zum Thema Gesundheitsökonomie

Das Schweizer Gesundheitswesen ist eines der besten, aber auch teuersten der Welt. Seit Einführung des Krankenversicherungsgesetzes im Jahr 1996 haben sich die Gesundheitskosten mehr als verdoppelt und betrugen im Jahr 2017 bereits 12,4 % des Bruttoinlandprodukts. Vor dem Hintergrund der steigenden Kosten werden Fragen der effizienten Nutzung der verfügbaren Ressourcen immer wichtiger.

Die Gesundheitsökonomie leistet einen wichtigen Beitrag zu einem optimalen Ressourceneinsatz im Gesundheitswesen: Sie untersucht Kosten und Nutzen medizinischer Interventionen, Effizienzsteigerungspotenziale in der Leistungserbringung und die Wirkung institutioneller Rahmenbedingungen auf das Verhalten von Leistungserbringenden und Patientinnen, Patienten. Die Gesundheitsökonomie ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, welche Elemente der Gesundheitswissenschaften mit der Volks- und Betriebswirtschaftslehre verbindet; wichtige Denkansätze und Methoden der Ökonomie werden auf das Gesundheitswesen angewandt.

Die Gesundheitsökonomie leistet einen wichtigen Beitrag zu einem optimalen Ressourceneinsatz im Gesundheitswesen: Sie untersucht Kosten und Nutzen medizinischer Interventionen, Effizienzsteigerungspotenziale in der Leistungserbringung und die Wirkung institutioneller Rahmenbedingungen auf das Verhalten von Leistungserbringenden und Patientinnen, Patienten.

Institut für Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik

Die Verbindung von Ökonomie und Gesundheitswissenschaften birgt für die Gesundheitsberufe grosse Chancen. So ist es bei Fragen der Vergütung und der Ressourcenverteilung unabdingbar, dass Gesundheitsfachpersonen die Wirkung ihrer Tätigkeit über die klinischen Ergebnisse hinaus empirisch belegen können. Gleichzeitig wird die Wirkung von materiellen und immateriellen Anreizen auf das Verhalten von Gesundheitsfachpersonen verstärkt, wenn die Gesundheitsberufe grössere Entscheidungsbefugnisse erhalten. Ausserdem stellt gesundheitsökonomische Evidenz eine wichtige Grundlage für die Weiterentwicklung der Gesundheitsberufe dar; etwa bezüglich ihrer Auswirkungen auf die Versorgungsqualität oder die Wirtschaftlichkeit. Diesen Themen widmet sich das 2019 gegründete Institut für Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik am Departement Gesundheit der Berner Fachhochschule BFH. Ziel ist es, in den Bereichen Health Technology Assessment, empirische Gesundheitsökonomie sowie Management im Gesundheitswesen entscheidungsrelevante quantitative Evidenz zu aktuellen Fragen im Schweizer Gesundheitswesen zu generieren.

Grundlagen für Entscheidungen zur Zulassung, Implementierung und Vergütung von Gesundheitsinterventionen

Health Technology Assessments sind umfassende Evaluationen von Gesundheitsinterventionen. Sie berücksichtigen neben der Wirksamkeit einer Intervention auch ihre Kosten, den Nutzen für die Patientinnen, Patienten und die Hürden für ihre Implementierung. Dank Einbezug der genannten Aspekte kann beurteilt werden, ob eine neue Therapie genügend zusätzlichen Patientennutzen bringt, um eine Verschiebung der Ressourcen anderer Verwendungszwecke zur neuen Therapie zu rechtfertigen.

Health Technology Assessments sind deshalb wichtige Grundlagen für Entscheidungen zur Zulassung, Implementierung und Vergütung von Gesundheitsinterventionen. Gerade die Gesundheitsberufe können mit Health Technology Assessments die Kosten und den Nutzen ihrer Leistungen evaluieren und diese Evidenz in die Diskussion über den sinnvollen Ressourceneinsatz im Gesundheitswesen einbringen.

Das Institut für Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik entwickelt für diesen Zweck Kosten-Wirksamkeits- und Kostenfolgenmodelle, führt Netzwerk-Meta-Analysen durch und berechnet Behandlungs- und Krankheitskosten. Aktuell arbeitet das Institut an einer Kosten-Wirksamkeitsanalyse eines Medikaments zur Behandlung einer seltenen Krankheit und an einer Netzwerk-Meta-Analyse von Brustkrebstherapien.

Entscheidungsverhalten von Gesundheitsfachpersonen und Patientinnen, Patienten

Die empirische Gesundheitsökonomie befasst sich mit dem Entscheidungsverhalten von Gesundheitsfachpersonen und Patientinnen, Patienten. Bezeichnend für das Gesundheitswesen sind zwei grundlegende Informationsprobleme: Einerseits bestehen sogenannte Informationsasymmetrien zwischen Gesundheitsfachpersonen als Expertinnen, Experten und ihren weniger gut informierten Patientinnen, Patienten; andererseits können die Patientinnen, Patienten die Behandlungsqualität von Leistungserbringenden nicht direkt beobachten. Informationsasymmetrien können zu einem Problem werden, wenn das Einkommen der Fachpersonen vom Umfang der erbrachten Leistungen abhängt und somit Anreize zu einer verschwenderischen oder sogar medizinisch schädlichen Überversorgung entstehen. Fehlende Beobachtbarkeit der Behandlungsqualität ist ungünstig, weil der Wettbewerb zwischen den Leistungserbringenden nicht zu besserer Behandlungsqualität führt, wenn die Patientinnen und Patienten nicht zwischen guter und schlechter Qualität unterscheiden können. 

In der Vergangenheit hat sich die Forschung stark auf das Verhalten und die Behandlungsqualität von Ärztinnen, Ärzten konzentriert, da diese traditionellerweise über die Leistungserbringung entschieden haben. Mit der Stärkung der Rolle von Gesundheitsberufen und der steigenden Autonomie müssen in Zukunft aber auch die Wirkungen von monetären und nicht-monetären Anreizen auf das Verhalten von Pflegefachpersonen, Physiotherapeutinnen, Ernährungsberatern und Hebammen ebenso wie der Einfluss der Behandlungsqualität auf die Nachfrage untersucht werden. 

An unserem Institut analysieren wir aktuell das Entscheidungsverhalten von Ärztinnen, Ärzten in Feldexperimenten und anhand von Real-World-Daten, wie beispielsweise Krankenkassendaten oder Spitalstatistiken. Zudem planen wir Projekte zur Schätzung des Einflusses von Qualitätsindikatoren auf Entscheidungen von Patientinnen, Patienten im stationären Bereich.

Das Institut für Gesundheitsökonomie vereint Kompetenzen aus verschiedenen Bereichen der Gesundheitsökonomie und verfolgt die Strategie, quantitative Evidenz zur Unterstützung von Entscheidungstragenden im Schweizer Gesundheitswesen zu generieren.

Rahmenbedingungen für neue Rollen der Gesundheitsberufe

Organisationen im Gesundheitswesen agieren in einem sich stetig verändernden komplexen System, in welchem viele Elemente miteinander interagieren. Gesundheitsorganisationen sind deshalb täglich mit dynamisch-komplexen strategischen und operativen Fragestellungen konfrontiert, welche jedoch sehr gut mit einem systemwissenschaftlichen Ansatz beantwortet werden können. Die Systemwissenschaft versucht, die Struktur von Systemen zu analysieren, um deren Verhalten zu beschreiben und die zukünftige Entwicklung zu modellieren. Die World Health Organization (WHO) hat systemisches Denken auch als Kernkompetenz im Bereich «Health Systems Strengthening» definiert.

Die sich verändernde Rolle der Gesundheitsberufe hat auch wichtige Implikationen für die Organisation der Leistungserbringung innerhalb der Betriebe und im Gesundheitswesen allgemein. Eine systemische Betrachtung der Folgen von neuen Rollen und Kompetenzen ist eine wesentliche Voraussetzung, um die Erfolgschancen von Anpassungen der klinischen Praxis zu steigern und die Rahmenbedingungen für neue Rollen der Gesundheitsberufe zu verbessern.

Gegenwärtig führt das Institut für Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik innerhalb des Nationalen Forschungsprogramms 74 «Smarter Health Care» eine Studie zur Nutzung von Simulationsmodellen für die Evaluation von neuen Modellen zur Versorgung von chronisch erkrankten Menschen in der Schweiz durch. Darüber hinaus arbeitet das Institut zusammen mit Projektbeteiligten aus angewandter Forschung, Beratung und Notfallmedizin an einem von Innosuisse geförderten Projekt zur Entwicklung von Entlastungsstrategien für die Schweizer Notfallversorgung. Anhand eines virtuellen Zwillings des Universitären Notfallzentrums des Inselspitals Bern und mittels eines systemdynamischen Modells wird in diesem Projekt auch die Notfallversorgung im Kanton Bern evaluiert.

Das Institut für Gesundheitsökonomie vereint Kompetenzen aus verschiedenen Bereichen der Gesundheitsökonomie und verfolgt die Strategie, quantitative Evidenz zur Unterstützung von Entscheidungstragenden im Schweizer Gesundheitswesen zu generieren. Dabei achten wir auf die Verwendung aktueller empirischer Methoden und treiben den Einsatz von Feldexperimenten, Simulationsmodellen und maschinellem Lernen in der Gesundheitsökonomie konsequent voran.