«Man muss sich selbst verstehen, um mit Diversität umgehen zu können»

24.05.2022 Warum ist die Sensibilität für Diversität im Umgang mit Menschen im Gesundheitssystem wichtig, und welche Herausforderungen stellen sich dabei den Gesundheitsfachpersonen? Eva Soom Ammann und Paola Origlia Ikhilor lehren und forschen dazu an der BFH und erläutern, wie Diversität auch mit Ungleichheiten zu tun hat.

Ihr beide setzt euch an der BFH für einen differenzierten Umgang mit Diversität in der Gesundheitsversorgung ein. Woher kommt euer Engagement, und was reizt euch am Thema?

Paola Origlia Ikhilor: Mein Engagement gründet in meiner Biografie und beruflichen Laufbahn. Als Tochter einer italienischen Migrationsfamilie hatte ich gezwungenermassen schon immer eine gewisse Affinität zum Thema, und als Hebamme kommt man mit den unterschiedlichsten Menschen in Kontakt. Mein Einsatz bei «Ärzte ohne Grenzen» in Kambodscha stärkte dieses Interesse. Als eine der ersten Absolvent*innen besuchte ich 2004 einen Nachdiplomkurs, in dem es darum ging, die transkulturelle Kompetenz der Gesundheitsfachpersonen zu stärken. Indem ich mich aktiv mit dem Thema auseinandersetzte, wurde mir bewusst, dass ich auch aufgrund meiner Herkunft Benachteiligung erlebt hatte.

Eva Soom Ammann: Mich interessierte in meinem Sozialanthropologie-Studium der Diskurs dazu, wie unterschiedliche Gemeinschaften auf der Welt zusammenleben. Ich wollte wissen, woher diese Vielfalt kommt und warum es in Gesellschaften manchmal so schwierig ist, damit umzugehen. Je länger ich mich mit dem Thema beschäftigte, desto deutlicher wurde mir, dass das Thema Diversität sehr komplex ist. Auch die verschiedenen Kategorisierungen von Diversität, die wir Menschen bilden, um unsere Wahrnehmung der Welt zu ordnen – also beispielsweise Alter, Geschlecht oder Ethnizität –, sind in sich komplex und verändern sich immer wieder. Eine Frage aber bleibt: Wie stellen wir Gerechtigkeit her, nicht nur in Theorie, sondern auch in der Praxis? Ich denke nicht, dass es uns jemals abschliessend gelingen wird, aber es ist mir ein Anliegen, einen Beitrag dazu zu leisten.

Inwieweit hat sich der Umgang mit Diversität in der Gesundheitsversorgung in den letzten Jahren verändert?

Paola Origlia Ikhilor: In den vergangenen drei Jahrzehnten ging sehr viel. Früher unterschied man hauptsächlich den Diversitätsaspekt der Herkunft, und im Unterricht setzte man sich mit Kultur, Tradition oder Religion auseinander. Heute differenziert man weitere Aspekte wie sexuelle Orientierung, geistige und körperliche Fähigkeiten oder sozialer Status. Die Vielfalt der Menschen ist so gross, man kann sie unmöglich abschliessend vermitteln. Der Fokus der Lehre hat sich deshalb auch weg vom «Verstehen von anderen Kulturen» hin zur Selbstreflexion verschoben. Die Gesundheitsfachpersonen müssen sich ihrer eigenen Bilder und Vorurteile bewusst sein, um auf ihr Gegenüber eingehen zu können. Man muss vor allem sich selbst verstehen, um mit Diversität umgehen zu können.

Welche Bedeutung hat die Diversität in der heutigen Gesundheitsversorgung?

Eva Soom Ammann: Im schweizerischen Gesundheitssystem hat das Thema eine grosse Bedeutung. Dies hat zwei Gründe: Zum einen werden in unserem Land gesellschaftliche Werte wie Individualität und Freiheit gross geschrieben. Autonomie und Selbstbestimmung in der Gesundheitsversorgung sind folglich sehr wichtig, und dies resultiert in Anforderungen, die sehr divers sein können. Zum anderen führt die zunehmende Globalisierung dazu, dass Gesellschaften grundsätzlich diverser werden.

Paola Origlia Ikhilor: Unser Gesundheitssystem ist auf Durchschnittsbürger*innen und ihre Bedürfnisse ausgerichtet. Für Gutverdienende gibt es beispielsweise speziell ausgerichtete Angebote und Privatkliniken mit Leistungen aus der Hotellerie. Benachteiligte Gruppen, die keine politische Lobby haben oder für deren Bedürfnisse die wirtschaftlichen Interessen fehlen, haben es schwer. Hier herrscht eine Ungleichheit mit weitreichenden Folgen.

Welche Folgen hat diese Ungleichheit?

Eva Soom Ammann: Sie hat nachhaltige Auswirkungen auf die Gesundheit von Benachteiligten. Nicht nur sind deren Lebensbedingungen belastend für die Gesundheit, sie haben grundsätzlich auch schlechteren Zugang zum Gesundheitssystem und somit auch schlechtere Chancen zum Erhalt oder zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit. Das wirkt sich auf den ganzen Lebenslauf aus, Benachteiligungen können sich kumulieren. Dem entgegenzuwirken, ist aber komplex: Ungleichheit ist einerseits strukturell angelegt, andererseits ist auch von der Situation abhängig, wann welche Diversitäten Ungleichheit oder Ausschluss verursachen. Nicht jeder Diversitätsaspekt führt automatisch zu Ungleichheiten. Diversitäten können sich aber in bestimmten Situationen gegenseitig verstärken.

Paola Origlia Ikhilor: In der Geburtshilfe kommt es aufgrund der Ungleichheit häufiger zu Komplikationen bei Mutter und Kind, zu Frühgeburten oder operativen Geburten. Wichtig sind nicht nur Behandlungen, sondern auch die Vorsorge. Benachteiligte Frauen nutzen solche Angebote oftmals weniger, weil sie sie nicht finden, nicht verstehen oder sich bei der Beratung missverstanden fühlen. Letzteres bezieht sich nicht nur auf Migrantinnen, sondern beispielsweise auch auf Frauen mit alternativen Lebensentwürfen, die sich mit dem gängigen Versorgungskonzept nicht identifizieren können.

Eva Soom Ammann: Auch wenn man es in der Schweiz gerne so auslegt, dass jede Person für ihr eigenes Glück verantwortlich ist, trifft das bezüglich Gesundheit leider nicht zu. Man kann gesundheitsbelastende Lebenssituationen nicht unbedingt eigenständig ändern. Man kann auch nicht dafür verantwortlich gemacht werden, deshalb krank zu sein. Nicht selten haben marginalisierte Gruppen schon Ausschlusserfahrungen gemacht, wenn sie mit dem Gesundheitssystem in Kontakt kommen. Gerade strukturelle Benachteiligung wirkt sich somit nachhaltig auf lebensweltliche Erfahrungen aus und beeinflusst damit auch Interaktionen mit Fachpersonen im Gesundheitswesen. Und selbst wenn letztere in guter Absicht und professionell handeln, spielen dabei Ungleichheiten eine Rolle. Dies führt manchmal dazu, dass Menschen Gesundheitsinstitutionen sehr misstrauisch begegnen oder diese gänzlich meiden. Als Gesundheitsfachperson muss man sich dessen bewusst sein.

Fokus Diversität
Paola Origlia Ikhilor (links) und Eva Soom Ammann setzen sich an der BFH für einen differenzierten Umgang mit Diversität im Gesundheitswesen ein.

Wie kann der Umgang mit Diversität in der Gesundheitsversorgung gelingen?

Paola Origlia Ikhilor: Die Wissenschaftlerin Kristine Sørensen, die umfassend zu Gesundheitskompetenz geforscht hat, bringt es aus meiner Sicht gut auf den Punkt: Wir haben derzeit ein hochkomplexes Gesundheitssystem, was sehr viele Kompetenzen von den Nutzenden erfordert, um sich darin bewegen zu können. Hier muss ein Paradigmenwechsel passieren, hin zu einem kompetenten System, das der Komplexität der Nutzenden gerecht wird.

Ist eine solche Forderung denn überhaupt realistisch?

Eva Soom Ammann: Wir sind auf dem Weg, aber es bewegt sich nicht alles gleich schnell. In den vergangenen Jahren wurden elaborierte Konzepte entwickelt, die den professionellen Umgang mit Diversität im Gesundheitswesen erleichtern sollen. Die Schweizer Gesundheitsfachpersonen sind sehr gut ausgebildet, in Berufen, die hoch differenziert sind. Sie lernen zunehmend, interprofessionell zusammenzuarbeiten. Der Weg hin zu einem System, das sich kompetent der Komplexität von Betroffenen annimmt, ist aber noch weit. Nicht zuletzt auch, weil Reglementierungen, Abrechnungslogiken, Arbeitsorganisation und Statusunterschiede es noch erschweren, dass sich das System individuellen Situationen und Verläufen flexibel anpassen kann.

Dann sind die Gesundheitsfachpersonen im Grunde bereits fähig, auf die Komplexität des Individuums einzugehen, das Gesundheitssystem lässt es aber aufgrund seiner eigenen Komplexität zu wenig zu?

Eva Soom Ammann: Wir haben mittlerweile viel Wissen dazu, dass Gesundheitssysteme, wie andere gesellschaftliche Systeme auch, Menschen in Kategorien einordnen müssen, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Herausfordernd ist, dass im Kategorisieren situativ eben auch immer Ausschluss passiert oder Selbst- und Fremdkategorisierungen nicht übereinstimmen. Und genau damit müssen nicht nur Fachpersonen, sondern auch Organisationen und Gesundheitssysteme kompetent und reflektiert umgehen können. Das ist eine schwierige Aufgabe, gerade in der Hektik des Alltags.

Paola Origlia Ikhilor: Hinzu kommt, dass Diversitätskompetenz nicht mit dem Abschluss des Studiums erlangt ist. Wir müssen uns immer wieder von Neuem mit Konzepten, Kategorien, Bedürfnissen und Denkweisen auseinandersetzen. In der Praxis braucht es viel Eigeninitiative, um trotz starrer Schemata auf die Diversität des Gegenübers eingehen zu können. Da gibt es Fachpersonen, die sich verausgaben und andere, die resigniert dem Schema folgen.

Können die Gesundheitsfachpersonen das Gesundheitssystem ändern, damit es mehr Platz
hat für die Diversität?

Eva Soom Ammann: Ja! Zwar verändert sich das System nur sehr langsam, aber er ist bereits in Bewegung. Und je mehr kompetente Fachpersonen initiativ und gleichzeitig reflektiert zur Veränderung beitragen, desto besser gelingt es.

Paola Origlia Ikhilor: Auch kleine Schritte können dazu beitragen, das System nachhaltig zu verbessern. Man muss nicht gleich ganze Abteilungen umkrempeln. Ein System ändert sich auch allmählich, indem wir beispielsweise laufend Prozesse oder Abläufe optimieren. Da hilft bereits ein angepasstes Anamneseschema, um die Bedürfnisse und Bedarfe von Menschen im Gesundheitswesen besser zu erfassen und somit die Behandlung zu verbessern.

Wie bereitet die BFH die Gesundheitsfachpersonen auf den Umgang mit der Diversität in ihrem Berufsfeld vor?

Eva Soom Ammann: Um mit Diversität und Ungleichheiten umgehen zu können, brauchen Gesundheitsfachpersonen transkulturelle (neu auch transkategorial genannte) Kompetenz, die wir im Studium bereits seit 20 Jahren vermitteln. Dafür ist narrative Empathie wichtig, das heisst, auf das Gegenüber einzugehen, es als Mensch in seiner Komplexität zu verstehen, indem Fachpersonen offen fragen und zuhören. Des Weiteren müssen Gesundheitsfachpersonen gesellschaftliche Zusammenhänge kennen, um die unterschiedlichen Lebensbedingungen von Menschen besser nachvollziehen zu können. Es geht bei der transkategorialen Kompetenz aber immer auch um eine professionelle Haltung, für die Selbstreflexion wichtig ist. Also das kritische Nachdenken darüber, wie wir unsere Haltungen als Vertreter*innen des Gesundheitssystems sowie auch als individuelle Personen in Interaktionen einfliessen lassen.

Paola Origlia Ikhilor: Das klingt einfach, die Umsetzung ist aber herausfordernd. Wir müssen uns bewusst sein, dass wir die Klient*innen oder das Umfeld, in welchem sie sich bewegen, nicht unseren Schemata anpassen können. Wir müssen sie dort abholen, wo sie stehen, auch wenn es unseren Wertvorstellungen widerspricht.

Gibt es konkrete Beispiele für diverse Ungerechtigkeit im Gesundheitssystem?

Paola Origlia Ikhilor: Beispielsweise müssen Betroffene den Sachverhalt eines Gesundheitsproblems verstehen, damit sie der Therapie zustimmen und sie befolgen können. Obschon das Verständnis der Sprache essenziell ist für das Erbringen und den Erfolg einer Gesundheitsleistung, werden Übersetzungen von Krankenkassen nicht übernommen. Zudem bräuchte es für sozial schwächer gestellte Personen mehr niederschwellige Präventionsangebote, welche in den Lebenswelten der Nutzer*innen stattfindet und nicht in einer weit entfernten Klinik. Denn bereits der Weg dahin kann ein Hindernis für sie darstellen.

Eva Soom Ammann: Neben dem lebensweltlichen Kontext sind vertrauensbasierte Beziehungen auch ganz wichtig, um mit Diversität und Ungleichheiten im Gesundheitswesen umgehen zu können. Nicht nur strukturell benachteiligte Gruppen, die erschwerten Zugang zu Gesundheitsleistungen haben, sondern auch Menschen mit chronischen Erkrankungen oder komplexen Gesundheitssituationen profitieren von einer längerfristigen Begleitung durch Fachpersonen. Hier verspreche ich mir viel von den in der Schweiz noch jungen Advanced-Practice-Rollen. Sie haben das Potenzial, mit ihrer Kompetenz einen wichtigen Beitrag zur integrierten Gesundheitsversorgung zu leisten – insbesondere dort, wo sie Betroffene in ihren lebensweltlichen Bezügen ernst nehmen und zusammen mit ihnen im Gesundheitswesen Kontinuität herstellen können.

Was wünscht ihr euch für die Zukunft?

Paola Origlia Ikhilor: Gesundheitliche Ungleichheit ist sehr gut belegt und findet sich in allen Ländern, betrifft fast alle Erkrankungen und alle Altersgruppen. Sie hält sich seit Jahrzehnten stabil bzw. verschärft sich teils sogar. Der Lebenslauf ist entscheidend für eine gute Gesundheit: Was in der frühesten Kindheit passiert, hat Auswirkung aufs ganze Leben. Sowohl in der Forschung als auch in der Praxis sollten unbedingt Massnahmen weiterentwickelt werden, die benachteiligte Gruppen von Beginn weg in ihrer Gesundheit stärken.

Eva Soom Ammann: Ich wünsche mir, dass wir in der Schweiz weiterhin das Privileg haben, den manchmal vielleicht anstrengenden, aber wichtigen Diskurs über Diversität zu führen. Wir erleben ja gerade mit dem Krieg in der Ukraine, wie rasch Diversitäten zu Ungleichheiten konstruiert werden können, wie verheerend sich das auf einzelne Leben auswirken kann, und wie emotional wir in der Schweiz darauf reagieren, während andere humanitäre Krisen auf der Welt uns weniger stark zu berühren scheinen. Ich wünsche mir, dass es uns gelingt, eine demokratische und tolerante Gesellschaft zu bleiben, die es sich leisten kann, für alle Menschen gerechte und gesunde Lebensbedingungen zu schaffen.

Paola Origlia Ikhilor

Fokus Diversität
Paola Origlia Ikhilor ist Hebamme MSc. Sie forscht und lehrt im Bereich der mütterlichen und kindlichen Gesundheit im Kontext sozialer Benachteiligung. Ehrenamtlich engagiert sie sich im Verein «mamamundo Bern», der die reproduktive Gesundheit von Migrantinnen fördert.

Eva Soom Ammann

Fokus Diversität
Eva Soom Ammann ist Sozialanthropologin und Gesundheitswissenschaftlerin. Sie forscht und lehrt zu Diversität und Ungleichheit und interessiert sich insbesondere dafür, wie verschiedene Nutzungsgruppen mit Gesundheitssystemen, Organisationen und Fachpersonen interagieren.

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