Die Wissenschaft hat gesprochen: So muss sich unser Ernährungssystem ändern

03.02.2023 Die Zukunft unserer Ernährung muss die Grenzen des Planeten berücksichtigen. Am Schweizer Ernährungssystemgipfel hat ein wissenschaftliches Gremium aus über 40 Forschenden den Weg zu diesem Ziel aufgezeigt.

«Die Ziele des Bundesrats stimmen gut mit den Empfehlungen überein», sagt Wirtschaftsminister Guy Parmelin. Über 40 Forschende übergaben ihm am Schweizer Ernährungssystemgipfel einen Leitfaden, der detailliert beschreibt, wie ein nachhaltiges, soziales und gesundes Ernährungssystem in wenigen Jahren erreichbar ist.

Lukas Fesenfeld, Leiter des wissenschaftlichen Gremiums, bestätigt später, dass der Bundesrat tatsächlich in die richtige Richtung arbeite. Das Ernährungssystem müsse von der Politik aber viel schneller umgebaut werden als aktuell geplant und vor allem: «Einzelmassnahmen reichen nicht, es braucht das ganze Package.» 

Pionierarbeit der Schweizer Wissenschaft – mit internationaler Ausstrahlung

Zum ersten Mal wurde für ein Land ein wissenschaftlich fundierter, umfassender Handlungspfad zur Neuausrichtung des Ernährungssystems ausgearbeitet. Damit übernimmt die Schweiz international eine Vorbildfunktion.

Dem wissenschaftlichen Gremium gehören Forschende der namhaften Schweizer Forschungsinstitute an. Von der Berner Fachhochschule sind gleich zwei Departementen beteiligt: das Departement Gesundheit und die Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften HAFL.

Erfahren Sie mehr zur Umsetzung von UN-Zielen auf nationaler Ebene: Was genau ist der Ernährungssystemgipfel und wer steht dahinter? 

In ihrem Leitfaden definieren die Wissenschaftler*innen zuerst elf messbare Ziele, die wiederum dazu dienen, die globalen Nachhaltigkeitsziele (SDG) der UN zu erreichen. Die elf Ziele des Schweizer Wissenschaftsgremiums betreffen wichtige ökologische Themen wie Stickstoff- und Phosphorverluste, Pestizide, Bodennutzung, Artenvielfalt, Wasserverbrauch, Treibhausgase, aber auch soziale Themen wie existenzsichernde Einkommen, Gesundheitsrisiken in der Landwirtschaft und Kinderarbeit. Wir schauen uns zwei Ziele genauer an:

Ziel 1: Anpassung der Ernährung

Nicht alle Lebensmittel sind gleich gesund und manche belasten die Ökosysteme stärker als andere. Wir sollten also mehr gesunde, nachhaltig produzierbare Nahrungsmittel essen und die Menge an belastenden Produkten reduzieren. Konkret bedeutet das: 

  • Deutlich mehr Gemüse aus standortangepasster, lokaler und saisonaler Produktion
  • Mehr Vollkorngetreide und Hülsenfrüchte in grösserer Sortenvielfalt sowie industriell unverarbeitete Kartoffeln
  • Deutlich weniger verarbeitete Milchprodukte, Ersatz durch pflanzliche Alternativen mit Kalziumzusatz
  • Weniger Speiseöle, geeignete Öle zum Braten und Rösten
  • Deutlich weniger Fleisch, Alkohol und Süssgetränke – bei diesen Produkten braucht es die grösste prozentuale Änderung gegenüber dem heutigen Konsum.

Ziel 8: Reduktion von Lebensmittelabfällen

Bis 2030 sollen die vermeidbaren Lebensmittelabfälle und -verluste halbiert werden. Rund 25 Prozent der Umweltbelastung aus der Schweizer Ernährung entstehen durch Food Waste. 330 kg Lebensmittel werden pro Kopf und Jahr zwar produziert aber nie konsumiert.

«Bei der Erstellung des Leitfadens konnte ich meine Perspektive aus der Ernährungswissenschaft einbringen», sagt Sonja Schönberg, die im wissenschaftlichen Gremium mitwirkte: «Die Ziele 1 und 8 sind sowohl für die Aus- und Weiterbildung bei uns an der BFH Gesundheit als auch für die Tätigkeit der Ernährungsfachpersonen relevant.»
 

Massnahmen – die Wege zu den Zielen

39 politische Massnahmen schlägt die Wissenschaft vor, um die ambitionierten Ziele zu erreichen. Sie sind zu vier zeitlich gestaffelten und strategisch aufeinander abgestimmten Paketen zusammengefasst:

Paket 1: Einführung eines Transformationsfonds

Er soll eine ganze Reihe von Massnahmen finanzieren: Informationskampagnen, Ernährungsberatung, Bildungsangebote, oder die Förderung einer nachhaltigen und gesunden Ausser-Haus-Verpflegung. Des Weiteren ist er auch dafür gedacht, soziale Ungleichheiten auszugleichen, die sich bei der Umsetzung der Massnahmen ergeben können, sowie Investitionshilfen zu leisten.

Paket 2: Lenkungsabgaben und ein erster Teil regulatorische Massnahmen

Dabei sollen die Kosten und Gewinne dieses Transformationsprozesses fair unter den betroffenen Akteur*innen der Wertschöpfungskette verteilt werden.

Paket 3: Agrarpolitische Massnahmen und Unterstützung für den ländlichen Raum

Darunter fallen zum Beispiel Investitionsbeihilfen für Landwirtschaftsbetriebe oder die steuerliche Begünstigung von Geringverdienenden in der Landwirtschaft.

Paket 4: Weitere regulatorische Massnahmen

Dabei handelt es sich um einschneidende Massnahmen, die eine vorgängige Weiterentwicklung des Transformationsprozesses erfordern.

Viele dieser Massnahmen sollen gemäss Plan bis 2030 umgesetzt sein. Aber wie realistisch ist das überhaupt?

«Wir müssen jetzt schnell handeln»

«Es gibt keine Alternative», sagt Matthias Meier von der BFH-HAFL. Er hat ebenfalls an den Empfehlungen mitgearbeitet und betont die Dringlichkeit: «Die Massnahmen sind weitreichend und mögen bei vielen zuerst auf Ablehnung stossen. Aber man muss sie unter den Vorgaben der Nachhaltigkeitsziele – den Sustainable Development Goals (SDGs) der UN und den Zielen nach Pariser Klimaabkommen – sehen. Zu beiden hat sich die Schweiz verpflichtet. Wenn wir diese Ziele erreichen wollen, dann ist das nur noch mit einschneidenden Massnahmen möglich. Im gesellschaftlichen Diskurs müssen wir jetzt einen Weg verhandeln, mit dem die Mehrheit leben kann und der eine schnelle Umsetzung des ganzen  Massnahmenbündels ermöglicht.»

«Neue Aufgaben warten auf die Ernährungsberatung»

Wie geht es an der BFH Gesundheit In Sachen Ernährungszukunft weiter? «Massnahme 1b im Leitfaden sieht u.a. den Ausbau der Ernährungsberatung vor. Sie soll Konsument*innen befähigen, nachhaltige Ernährungsentscheidungen zu treffen», so Mitautorin Sonja Schönberg: «Wir bilden an der BFH Gesundheit die Ernährungsfachpersonen der Zukunft aus und weiter. Dabei wollen wir uns noch breiter aufstellen und unsere Aufgabe neu verstehen. Wir gestalten den Konsum im Ernährungssystem mit – in der individuellen Ernährungsberatung und -therapie und immer stärker in neuen Berufsfeldern, in denen wir uns Personengruppen, Institutionen und Systemen zuwenden. Wir können in der Klinik, der Gesundheitsförderung und wo immer wir uns mit unseren Kompetenzen einbringen, tagein, tagaus zu genussvollem Essen innerhalb der planetaren Grenzen beitragen. Dazu gibt es noch viel zu entdecken – je früher, desto besser! Packen wir’s an!»

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