Vom Hochgehen, um runterzukommen

06.05.2025 Hinter dem Bahnhof Biel entsteht zur Zeit der Campus Biel/Bienne. Dort werden künftig die technischen Disziplinen der Berner Fachhochschule untergebracht. Joni Merz, der an der BFH Literarisches Schreiben studiert, hat sich mit der Baustelle literarisch auseinandergesetzt. Auszüge aus dem Text lesen Sie auf der Bauwand rund um die Baustelle. Hier können Sie den gesamten Text von Joni Merz lesen:

Von hier oben sieht gar nicht alles kleiner aus. Die Stadt und der Himmel sind grösser geworden. Meine Hände irgendwie auch. Sie zittern leicht, während ich diese Worte schreibe. Nicht aus Angst, sondern weil der Kran sich dreht. Es vibriert und surrt und zischt. Weiss gar nicht, wie all die Dinge heissen. Das Drahtseil bewegt sich. Der Kranführer hat gesagt, dem Drahtseil darf ich nicht ankommen.

«Das kann dich mitreissen.» 

Ansonsten ist es ganz angenehm hier. Sonnenschein, leichter Wind, ein paar Wolken.

Um ehrlich zu sein: Ich hatte gehofft, etwas Angst zu verspüren. Nicht zu viel (will ja wieder heil runterkommen und alles), aber so ein bisschen. Weil über Gefühle lässt sich immer gut schreiben. Mein Dad zum Beispiel hat Höhenangst. Der macht schon die Krise, wenn ich auf dem Fenstersims esse (oben im vierten Stock). Ich hab dafür Angst, vor vielen Menschen zu sprechen. Reden zu halten. Gar nicht mein Ding. Der Kranführer macht das seit 14 Jahren. Also nicht Reden halten, sondern Krane steuern, oben in der Kabine, allein. Unter ihm: Glas. Ich hab ihn gefragt, ob er nie Angst habe, und er hat gemeint, kommt auf die Windstärke an. Er heisst Daniel und sitzt wie ein Busfahrer, links und rechts ein Joystick, Knöpfe, vor ihm ein Bildschirm, auf dem live gezeigt wird, was sich unten am Boden abspielt.

«Ist wie Fernsehen.»

70 Meter unter uns wird gerade ein halbrund gewölbtes, zwei Tonnen schweres Teil entgegengenommen. Die drei Männchen schauen hoch, zwei davon machen winkende Armbewegungen. Über das Funkgerät kommen rauschende Durchsagen rein.

Ich schreibe alles auf, was mir interessant erscheint:

Plastiktüten Coop, eine zusammengeknüllt, eine voll, drei, vier Red Bull, Cola, Klimaanlage, Gummibären Fruchtsaft-Ostermischung (500 Gramm).
 

Ich frage nach und finde heraus, dass das Teil, auf dem wir stehen, je nach Wissensstand Obendreherkran, Turmdrehkran, Turmkran oder einfach Kran genannt wird.

Für den Aufstieg haben wir knapp zehn Minuten gebraucht — 16 Plattformen, 262 Sprossen, 73 Meter Höhe. Die Bauleiterin ist voran gegangen. Ich habe mir sieben Mal das rechte Knie und zwei Mal den Kopf angestossen (Helm sei Dank). Was man sonst noch tragen muss: eine orange Leuchtweste, ein Paar spendabel geschnittene Gummistiefel und zwei Gartenhandschuhe.

Ich verlasse die Kabine, steige die Leiter hoch und spaziere auf dem waagrechten Arm umher, darauf bedacht, dem bedrohlichen Drahtseil nicht zu nahe zu kommen. Es wird wieder aufgespult. Manchmal kommt es vor, dass ein Drahtseil einen anderen Kran berührt. «Dann kommt die Geschichte ins Wanken.» Auf dieser Baustelle stehen bereits drei, alle schön auf unterschiedlicher Höhe eingestellt. Der vierte wird gerade aufgebaut. Eines Tages werden es fünf sein.

Ich schaue auf dem Handy nach. Nichts gegen Kraniche, aber der Schnabel ist etwas kurz und der Hals jetzt nicht mega lang. Wenn, dann sollte diese Einrichtung eher «Stor» oder «Gira» genannt werden.

Was die Leute unten auf der Strasse betrifft: Mir fällt nichts Besseres als Strichmännchen ein. Kleine farbige Striche, die sich in alle Richtungen bewegen, stehenbleiben, umherschauen, hochschauen. Gewiss: Es sind nicht nur «Männchen». Aber «Ameisen» trifft’s auch nicht wirklich. Wenn, dann «aufrecht gehende Ameisen, die individuelle Entscheidungen treffen». Oder «Strichmenschen».

Was es sonst noch zu sehen gibt: die insgesamt zwölf Turmkrane über die Stadt verteilt (gelb der Verkaufsschlager), die Gleise des Bahnhofs, die ein- und ausfahrenden Züge, der rote Bus, der in Nidau an einer Ampel wartet, der Bielersee im Südwesten, die Tauben, die von Dach zu Dach fliegen.

Ich könnte den ganzen Tag hier verbringen. Meinem Dad werde ich erst erzählen, dass ich oben war, wenn ich wieder unten bin.

Der Autor: Joni Merz

Bevor Joni Merz ans Literaturinstitut gekommen ist, hat er zweieinhalb Jahre mit seiner Grossmutter zusammengelebt und Philosophie studiert. Jetzt lebt er in einer WG neben dem Stadtpark von Biel und verdient sein Geld mit Katzen, Buchstaben und Fotos – manchmal auch mit einem Hund. Wenn sein Studium an der HKB beendet ist, wird er sich (vermutlich) um ein Praktikum bei SRF oder ARTE bemühen und in eine grössere Stadt weiterziehen. Was bleibt, sind seine Hobbys: Velotouren, Brettspiele, Kochen und Notizbücher.

Joni Merz

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