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Zirkuläres Bauen mit Schilf
27.11.2025 Ein Einfamilienhaus mit Schilfdach demonstriert eindrucksvoll, wie zirkuläres Bauen mit lokalen, regenerativen Materialien gelingt – als architektonisches und ökologisches Vorzeigeprojekt mit Modellcharakter.
Das Wichtigste in Kürze
- Ein Wohnhaus vereint konsequenten Holzbau mit einem Schilfdach als prägendes Element: regenerativ, lokal und klimaschonend.
- Der innovative Schilfdachaufbau wurde in Österreich behördlich zugelassen – ein Meilenstein für Naturmaterialien im Neubau, auch im dicht besiedelten Raum.
- Das Gebäude ist nicht nur Wohnhaus, sondern auch Reallabor für zukunftsweisendes, nachhaltiges Bauen.
In einer Einfamilienhaussiedlung am Neusiedler See in Österreich sticht ein Haus heraus, das nicht nur architektonisch, sondern auch gesellschaftlich Zeichen setzt. Das von Gilbert Berthold, Architekt und wissenschaftlicher Assistent an der BFH, realisierte Wohnhaus von Marina Rosa und Jacobus van Hoorne wurde 2024 mit dem Bauherr*innenpreis der Zentralvereinigung österreichischer Architekt*innen und dem Architekturpreis des Landes Burgenland 2025 ausgezeichnet. 2025 erhielt es zudem den Newcomerpreis bei «Häuser des Jahres» und wurde von «Trend» und «Architektur Aktuell» als «Beste Architektur Österreichs» prämiert. Mit seinem konsequenten Holzbau und einem Schilfdach als prägendem Element verbindet es architektonische Qualität mit ökologischer Verantwortung – regenerativ, lokal und klimaschonend.
Jacobus van Hoorne verkörpert den Forschergeist, der diesem Projekt zugrunde liegt. Nachdem er mehrere Jahre als Teilchenphysiker am CERN gearbeitet hatte, entschied er sich 2017, den Schilfschneider- und Schilfdachdeckerbetrieb seines Vaters im Burgenland zu übernehmen. Sein Ziel war es, dem traditionellen Handwerk neue Perspektiven zu eröffnen und das Potenzial von Schilf im zeitgenössischen Bauen unter realen Bedingungen zu beweisen. Gemeinsam mit Berthold entwickelte er einen Dachaufbau, der strengen Brandschutzauflagen standhielt und durch Realbrandversuche in Wien behördlich freigegeben wurde. Damit wurde Schilf als Dachmaterial im dicht bebauten Siedlungsgebiet wieder für den Neubau zugelassen.
Architektonisch überzeugt das Haus durch eine klare Verbindung von Geometrie und Material. Der Grundriss folgt einem s-förmigen Verlauf, der aus der Drehung des zentralen Wohnraums hervorgeht. Dieses zweigeschossige Atrium bildet das Herz des Hauses: lichtdurchflutet, zum Garten hin geöffnet und durch grosszügige Terrassen mit dem Aussenraum verbunden. Die Funktionsräume sind kompakt angeordnet, wodurch der Wohnraum umso grosszügiger wirkt. Die Dachkonstruktion mit parallel geführten Sparren spannt sanfte, gekrümmte Flächen auf, die sich gut für die Schilfdecke eignen. Jeder zusätzliche Neigungsgrad verlängert dabei die Lebensdauer des Daches um etwa ein Jahr – ein architektonisches Detail, das eng mit der Materiallogik verknüpft ist.
Schilf – der robuste Baustoff mit Tradition und Zukunft
Ans Wasser gebunden, wächst Schilf vor allem in Küstenregionen. Im Gegensatz zu Flachs, Hanf und Stroh ist Schilf ein härterer, beständiger, praktisch nicht verrottbarer Baustoff und eignet sich deshalb zur Dachdeckung. Aufgrund seiner grossen isolierenden Luftkammern in den Halmen weist er hervorragende Dämmeigenschaften auf und ist nahezu bruchsicher. Architekt Gilbert Berthold, wissenschaftlicher Assistent an der BFH begründet das Schilfdach seines Projektes eines Einfamilienhauses in Weiden am See wie folgt: «Ich habe Schilf als Dachmaterial gewählt, weil es ein lokal verfügbarer, schnell nachwachsender Rohstoff mit hervorragenden bauphysikalischen Eigenschaften ist. Es bietet eine bemerkenswerte Dämmleistung, ist diffusionsoffen, langlebig und am Ende seiner Lebensdauer kompostierbar. Im Projekt in Weiden am See hat sich gezeigt, dass Schilf nicht nur ökologisch, sondern auch kulturell und architektonisch relevant ist.»
Quelle: Mit nachwachsenden Stoffen klimaneutral und regenerativ bauen | BFH
Die Kombination aus lokal geerntetem Schilf und naturbelassener Eichenholzfassade schafft eine harmonische Einheit von Baukörper und Materialität. Das Dach, in seiner markanten Form, ist nicht nur ein funktionales Element, sondern auch Ausdruck einer modernen Interpretation traditioneller Handwerkskunst.
«Ich habe Schilf als Dachmaterial gewählt, weil es ein lokal verfügbarer, schnell nachwachsender Rohstoff ist, der ökologisch, kulturell und architektonisch relevant bleibt»
Die enge Zusammenarbeit zwischen Bauherrn und Architekt war entscheidend für die Realisierung. Für Berthold markierte das Projekt den Einstieg in seine Selbstständigkeit, die er nach vielen Jahren als Projektleiter in Zürich wagte. Über digitale 3D-Modelle konnte er die Vorfertigung des Holzbaus präzise begleiten und dadurch eine hohe bauliche Qualität sicherstellen.
Heute dient das Gebäude nicht nur als Wohnhaus, sondern auch als Studienobjekt und Ausstellungsraum für nachhaltiges Bauen. Es liefert Erkenntnisse zum Verhalten biobasierter Materialien, zur Energieeffizienz und zum Raumklima. Gleichzeitig fungiert es als Demonstrationsbau, der zeigt, dass Schilf auch in einer Neubausiedlung Bestand haben und Strahlkraft entwickeln kann.
Im Kontext der BFH nimmt das Projekt eine besondere Stellung ein. Der im August 2025 erschienene Beitrag zu nachwachsenden Baustoffen unterstreicht, wie vielfältig pflanzenbasierte Materialien – von Stroh über Flachs und Hanf bis hin zu Myzel – in Lehre und Forschung erprobt werden. Schilf fügt sich in diesen Kanon nahtlos ein, hebt sich jedoch durch seine aussergewöhnliche Dauerhaftigkeit und lange kulturelle Tradition hervor. Während viele Naturfasern primär als Dämmstoffe eingesetzt werden, zeigt das Haus am Neusiedler See in Österreich, dass Schilf in architektonischer Hauptrolle bestehen kann – technisch, ästhetisch und kulturell.
Damit ergänzt das Projekt die Forschungs- und Lehrtätigkeit der BFH- um ein anschauliches Beispiel, wie ein biobasierter Baustoff nicht nur theoretisch, sondern auch in der gebauten Realität neue Massstäbe setzen kann. Es zeigt Studierenden wie Fachleuten, dass regeneratives Bauen bereits heute erlebbar ist – mit Schilf als starkem Symbol für eine Baukultur, die Natur, Technik und Gesellschaft verbindet.