Fortschritte bei der Armutsbeobachtung

22.05.2023 Armutsbekämpfung und -prävention benötigen fundierte Grundlagen. Das Modell für ein Armutsmonitoring der Caritas und der Berner Fachhochschule BFH bietet dafür vielfältige Möglichkeiten. Für den Kanton Baselland hat die BFH vor Kurzem ein solches Monitoring eingerichtet. Damit lassen sich die Armutslage erkennen und die ergriffenen Massnahmen überprüfen.

In der Schweiz verfügen überraschend viele Menschen nicht über ein Einkommen, das für ein Leben über dem Existenzminium ausreicht. Im Jahr 2020 waren es 8,5 Prozent der Wohnbevölkerung, das sind 722 000 Menschen. Diese Menschen sind im öffentlichen Leben wenig sichtbar. In den letzten Jahren nahm die Armut sogar zu (BFS, 2022). Somit ist es einem immer grösseren Teil der Bevölkerung nicht möglich, mit dem steigenden Wohlstand Schritt zu halten. Das wirft Fragen nach den Ursachen und Folgen dieser Entwicklung auf. Nur wenn Veränderungen richtig verstanden werden, können geeignete Massnahmen ergriffen werden. Aus diesem Grund beauftragte das Parlament im Juni 2020 den Bundesrat, ein nationales Armutsmonitoring einzurichten (WBK SR, 2019). Bis ein solches realisiert ist, wird es jedoch noch mehrere Jahre dauern (Dubach, 2022).

Aktuell stellt das Bundesamtes für Statistik (BFS) zwar Kennzahlen zur Verfügung, die Einblicke in die gesamtschweizerische Armutssituation ermöglichen. Für die Bekämpfung von Armut sind jedoch in erster Linie Kantone, Gemeinden und Städte zuständig. Hier ist die Datenlage meistens ungenügend. Viele Kantone wissen kaum über die finanziellen Verhältnisse und die Armutsbetroffenheit ihrer Bevölkerung Bescheid. Deshalb hat die Caritas Schweiz zusammen mit der BFH ein Modell zur Armutsbeobachtung in den Kantonen ausgearbeitet (Fluder et al., 2020). Es nutzt Innovationen in der Datenverarbeitung und macht so eine massgeschneiderte Armutsbeobachtung auf Kantonsebene möglich. Die BFH steht mit verschiedenen Kantonen im Austausch und unterstützt sie bei Bedarf bei der Umsetzung – beispielsweise im Kanton Baselland, in dem die Grundlagen für ein regelmässiges Armutsmonitoring gelegt wurden (Hümbelin et al., 2022). Dieses Beispiel ist besonders interessant, weil die Systematik im Umgang mit der Armutsthematik überzeugt.

Das Monitoring als Teil einer gesamtheitlichen Armutsstrategie

Seit 2020 verfügt der Kanton Baselland über eine fachlich fundierte Strategie gegen Armut (Basel-Landschaft, 2022a). Sie umfasst 46 konkrete Massnahmen zur Armutsprävention und -bekämpfung. Basierend auf einem breiten Verständnis von Armut werden verschiedene Handlungsfelder definiert und Zuständigkeiten der Departemente festgelegt. Im Bereich Bildungschancen geht es etwa um Massnahmen der frühen Förderung im Vorschulalter. Beim Thema Erwerbsintegration sind Massnahmen zur Qualifizierung von Sozialhilfebeziehenden vorgesehen. Zudem werden die Themen Wohnversorgung, gesellschaftliche Teilhabe, Alltagsbewältigung und die soziale Existenzsicherung bearbeitet. Diese Massnahmen werden durch das Armutsmonitoring gerahmt. Mit diesen detaillierten Kennzahlen liegen Grundlagen für die Überprüfung und Entwicklung der Massnahmen vor. Zudem schafft das Monitoring Transparenz und Sichtbarkeit für die Armutsthematik und sensibilisiert die Öffentlichkeit. So war bisher nicht bekannt, wie viele Menschen im Kanton von Armut betroffen sind. Mit dem Pilot des Armutsmonitorings liegen nun erste Fakten vor.

Grafiken

Armutsbetroffenheit im Kanton Baselland

Das Modell der Caritas und der BFH basiert auf Steuer­daten, die mit den Bevölkerungs- und Sozialleistungsdaten verknüpft werden. Die Verknüpfung erfolgt anonymisiert und unter strikter Einhaltung des Datenschutzes. Damit ist es möglich, die finanzielle Situation der Bevölkerung zuverlässig abzubilden. Die verschiedenen Indikatoren erfassen unterschiedliche Facetten der Armutsthematik. So orientiert sich der Indikator «absolute Armut» an der Definition des Bundesamtes für Statistik und misst, wie gross die Zahl der Menschen mit einem Haushaltseinkommen unterhalb des sozialen Existenzminimums ist. Danach gelten 16 000 Menschen im Kanton als arm. Dies entspricht einer absoluten Armutsquote von 6,1 Prozent. Mit der «Armutsgefährdung» kann zudem abgebildet werden, wie viele Menschen unmittelbar oberhalb der Armutsgrenze leben. Diese Quote liegt bei 12,2 Prozent. Zu den 16000 Armutsbetroffenen kommen somit gleich viele Menschen hinzu, die bei geringfügigen Einkommenseinbussen von Armut betroffen wären. 

Armutsbetroffene ohne Sozialhilfe

Mit einem weiteren Indikator, dem «Nichtbezug von Sozialhilfe», wird überprüft, wie viele Armutsbetroffene ohne Unterstützung durch die Sozialhilfe leben. Der Anteil der Nichtbeziehenden ist mit rund einem Drittel der Betroffenen recht hoch. Es gibt also viele Menschen, die sich mit weniger Einkommen als dem Existenzminimum durchschlagen, ohne staatliche Hilfe zu beantragen. In dieser Gruppe sind die Working Poor besonders häufig vertreten. Die sozialräumliche Analyse zeigt, dass nichtbeziehende Armutsbetroffene besonders im östlichen Teil des Kantons, in ländlichen Gemeinden der Peripherie häufig sind (vgl. Abbildung 1). Hierfür kann die fehlende Anonymität in kleineren Gemeinden eine Rolle spielen (Hümbelin, 2019). Gleichzeitig ist die Zahl der Armutsbetroffenen in dieser Region deutlich geringer. In Anwil mit einer sehr hohen Nichtbezugsquote geht es um neun Menschen. Im Gegensatz dazu leben in Pratteln, das eine sehr hohe Sozialhilfequote hat, mit über 300 Menschen auch am meisten Nichtbeziehende.

Die Koppelung von Armut und Bürgerrechten

Die Indikatoren werden auch nach Bevölkerungsgruppen ausgewiesen und geben so Auskunft über besonders prekäre Lebenslagen. Daraus geht hervor, dass Menschen ausländischer Herkunft und mit eingeschränktem Aufenthaltsstatus ein besonders hohes Armutsrisiko haben (vgl. Abbildung 2). Im Vergleich zu den Schweizer*innen haben Niedergelassene (C-Ausweis) und Personen mit einer Aufenthaltsbewilligung (B-Ausweis) eine anderthalbmal höhere bzw. beinahe dreimal höhere Armutsquote. Markant höher ist die Armutsbetroffenheit bei vorläufig Aufgenommen, wiederkehrenden Kurzaufent­hal­ter*innen sowie Asylsuchenden (F-, L-, N-Ausweis). Das hat verschiedene Gründe. Zunächst erschweren mangelnde Sprachkompetenzen, fehlende oder nicht anerkannte Berufsqualifikationen und divergierende kulturelle Fertigkeiten im Alltag die Integration in den Arbeitsmarkt. Zudem ist der Zugang zum System der Sozialen Sicherung für Menschen ohne Schweizer Pass eingeschränkt (Hümbelin et al., 2021), denn mit fehlender Teilnahme am Arbeitsmarkt besteht kein Anrecht auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung und seit der Verschärfung des Ausländerrechtes droht bei einem Bezug von Sozialhilfe die Herabstufung des Aufenthaltsstatus.  

Auf dem Weg zu einer evidenzbasierten Armutspolitik

Mit dem Armutsmonitoring liegen dem Kanton erstmals zuverlässige und passgenaue Informationen zur Armutslage im Kanton und in den Gemeinden vor. Auf dieser Grundlage kann der Kanton zielgerichtete Massnahmen ergreifen (Basel-Landschaft, 2022b), die im näheren Lebensumfeld der Menschen ansetzen. Hier entfalten sie die beste Wirkung. Die Armutsstrategie sieht beispielsweise Massnahmen vor, die eine nachhaltige Erwerbsintegration von Menschen fördern, die einen erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Dazu gehören die spezifische Unterstützung für schwer vermittelbare Stellensuchende und die Sensibilisierung der Unternehmen. Auch zum Thema «Nichtbezug von Sozialhilfe» sieht der Kanton Massnahmen vor. So wird neu ein kantonales Assessmentcenter geschaffen. Dieses niederschwellige Angebot eignet sich insbesondere für anonyme Beratungen und baut dadurch soziale Hürden für Menschen ab, die in kleinen Gemeinden mit hoher sozialer Kontrolle leben. Der Kanton Baselland plant, das Monitoring alle drei Jahre zu wiederholen und die getroffenen Massnahmen zu überprüfen. Zu diesem Zweck hat er dem statistischen Amt die Leitung über das Projekt übergeben. Insgesamt zeigt das Beispiel dieses Kantons, wie wissenschaftliche Erkenntnisse in Abstimmung mit lokalen Anliegen und Gegebenheiten eingebunden werden können. Eine solche Art der Zusammenarbeit von Praxis und Forschung scheint uns vielversprechend, um Armut möglichst präventiv anzugehen und zu bekämpfen.

Mehr erfahren

Fachgebiet: Soziale Sicherheit, Institut Soziale Sicherheit und Sozialpolitik
Rubrik: Forschung