«Alle Menschen sollten im Alter Krafttraining machen»

22.03.2023 Die Sportaktivität der älteren Bevölkerung nimmt in der Schweiz zu. Trotzdem absolviert ab 75 Jahren kaum noch jemand ein Krafttraining. Ein enormes gesundheitliches Potenzial liegt hier brach, sagt Physiotherapeutin Romina Ghisoni.

Krafttraining Ü65
Krafttraining im Alter: Senior*innen sollten von gut geschultem Fachpersonal angewiesen werden. (Foto: Adobe Stock)

Bei Untätigkeit nimmt die Muskelmasse ab, die Fasern werden dünner und weniger. Dieser Prozess beschleunigt sich ab etwa 60 Jahren. Das Syndrom der Sarkopenie, wie der übermässige Muskelschwund im Alter genannt wird, betrifft fünf bis 13 Prozent der Menschen zwischen 60 und 70 Jahren und wahrscheinlich jeden zweiten Menschen über 80 Jahren. Mit wenig Skelettmuskelmasse ist nicht nur die funktionelle Leistungsfähigkeit eingeschränkt, auch das Risiko für Stoffwechselkrankheiten steigt. Durch den gleichzeitigen Abbau von Kapillaren im Muskelgewebe erfolgt die Sauerstoff- und Nährstoffversorgung nur noch eingeschränkt. Im Muskelgewebe kommt es unter anderem zu Entzündungsprozessen und hormonellen Veränderungen. Die Muskulatur ist das wichtigste hormonelle Organ. Über 300 Hormone werden von ihr beeinflusst.

Bewegung ist gut, aber nicht gut genug

Es ist allgemein anerkannt, dass regelmässige Bewegung im Alter die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit länger erhält. Unterschätzt wird hingegen die Bedeutung von Krafttraining, sagt Sportphysiotherapeutin Romina Ghisoni: «Wenn Sie auf dem Boden liegen und wieder aufstehen wollen, hilft ein gutes Herz-Kreislaufsystem nur wenig. In dieser Situation müssen Sie für den Schwung, den Sie benötigen, ihr anderthalb bis zweifaches Körpergewicht mit reiner Muskelkraft stemmen.»

Besonders Fast Twitch Fasern, auch schnelle Muskelfasern genannt, sind im Alter wichtig. Sie produzieren die Explosivkraft, die uns hilft, drohende Stürze aufzufangen. Eine Muskelreaktion innert 35 bis 90 Millisekunden sowie die Kraft, die ein Mensch in den ersten 25 Grad Kniebeugung produzieren kann, entscheiden darüber, ob er stürzt oder nicht. Selbst die Folgen eines Sturzes sind mit reduzierter Muskelmasse gravierender. Der Grund: Die Maximalkraft korreliert mit der Knochendichte, einem wichtigen Parameter für Osteoporose. Je weniger Muskeln, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, sich bei einem Sturz etwas zu brechen.

Es ist nie zu spät, mit Krafttraining zu beginnen

Mit Wandern und rein bewegungsorientiertem Turnen lassen sich diese Risiken nicht abwenden. Um die Muskelmasse zu erhöhen und sie im Alter auf einem genügenden Niveau zu halten, benötigt es intensive Kraftleistungen. Krafttraining setzt den Muskelstammzellen den richtigen Reiz, damit sie neues Muskelgewebe produzieren. «Im Vorteil ist, wer bereits früher ein strukturiertes Krafttraining absolviert hat und deshalb bereits über mehr Muskelzellen verfügt», sagt Romina Ghisoni. «Es lohnt sich aber in jedem Alter, mit Krafttraining zu beginnen; selbst mit 100 Jahren.»

Das muss nicht zwingend im Fitnesscenter geschehen. Auch zu Hause lässt sich ein effektives Krafttraining durchführen. «Die Hilfsmittel spielen eine untergeordnete Rolle. Viel wichtiger ist, dass den Muskeln ein genügend grosser Reiz gesetzt wird», so Ghisoni. Das bedeute jedoch nicht möglichst hohe Gewichte; auf die richtige Auslastung komme es an. Senior*innen sollten deshalb von gut geschultem Fachpersonal angewiesen werden. Hier braucht es in Zukunft auch mehr interdisziplinäre Arbeit, betont die Physiotherapeutin: «Kraftaufbau folgt nicht nur aus Krafttraining allein, es braucht die richtige Ernährung, Regeneration, eine Berücksichtigung der Medikation und mentale Unterstützung.»

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Krafttraining im Alter

Zur Person

Romina Ghisoni
Romina Ghisoni, MSc in Sports Physiotherapy, Sportphysiotherapeutin und Personal Health Coach. Romina Ghisoni hat langjährige Erfahrung als Sportphysiotherapeutin und Athletiktrainerin. Sie betreute unter anderem erwachsene und jugendliche Spitzensportler*innen des HC Davos.

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