Forschen für die Versorgungssicherheit

30.06.2022 Prof. Dr. Beat Reidy und sein Team von der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften (HAFL) haben Formeln zur Berechnung von Nahrungsmittel- und Flächenkonkurrenz zwischen Mensch und Tier erarbeitet. Das klingt abstrakt, ist aber wichtig für die Diskussionen zur Versorgungssicherheit – und soll konkret helfen, die Schweizer Milchwirtschaft klimafreundlicher und effizienter zu machen.

Les vaches transforment des éléments nutritifs non utilisables par l’homme en aliments précieux, par exemple du lait à partir de l’herbe.
Kühe wandeln für den Menschen nicht nutzbare Nährstoffe in wertvolle Nahrungsmittel um: zum Beispiel Gras zu Milch. Bild: zvg

Sie wollten immer reden. Waren interessiert, kooperativ, offen. Die Leiter*innen von Bauernbetrieben, mit denen Beat Reidy für sein Forschungsprojekt sprach, haben bei ihm einen bleibenden Eindruck hinterlassen: «Bei heiklen Themen wie Stickstoffdüngung oder ökologische Ausgleichsflächen können Landwirt*innen sehr zurückhaltend reagieren», sagt er. «Bei unserem Forschungsprojekt zu Nahrungsmittel- und Flächenkonkurrenz war das anders: Sie wollten mitreden und genau wissen, wie ihre Bilanz bei der Nahrungsmittelproduktion ausfällt.»

10 Milliarden Menschen ernähren

Was ist das für ein Forschungsprojekt, das bei den Landwirt*innen so grosses Interesse weckte? Es kommt nicht von ungefähr, dass Forscher*innen sich immer intensiver mit möglichst effizienter Nahrungsmittelproduktion beschäftigen. Denn in Zukunft müssen wir auf immer weniger Platz Nahrungsmittel für immer mehr Menschen herstellen. Gemäss Prognosen der UNO sollen bis 2050 knapp 10 Milliarden Menschen auf der Erde leben. In der Schweiz leben dann nach Schätzungen des Bundesamts für Statistik (BfS) mehr als 10 Millionen Menschen, rund doppelt so viele wie 1990. Wir beanspruchen für unsere Ernährung immer mehr natürliche Ressourcen. Nach wie vor steigt weltweit der Bedarf nach tierischen Nahrungsmitteln, der Platz für deren Produktion wird allerdings immer knapper. 

Kühe und andere Wiederkäuer können für den Menschen nicht nutzbare Nährstoffe in wertvolle Nahrungsmittel umwandeln, zum Beispiel Gras einer Alpweide zu Milch. Essen die Kühe allerdings nur Gras, begrenzt das ihre Milchleistung. Deshalb wird den Tieren auch Kraftfutter in Form von Getreide oder Soja verfüttert – also Nahrungsmittel, die der Mensch durchaus selber essen könnte. Hier stellen sich grundsätzliche Fragen: Ab welchem Punkt würden wir von einem höheren Nährwert profitieren, wenn wir die Nahrungsmittel selber einnehmen würden, anstatt sie erst an Tiere zu verfüttern (Nahrungsmittelkonkurrenz)? Und unter welchen Bedingungen ist es besser, anstelle von Tierfutter Kartoffeln oder Gemüse anzupflanzen (Flächenkonkurrenz)?

Das Dilemma messen

Die beiden Grössen Nahrungsmittel- und Flächenkonkurrenz beschreiben also das Dilemma zwischen dem Anbau von Futtermitteln für die Milchproduktion und Nahrungsmitteln für den Menschen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der sogenannten «Feed-Food Competition». «Diesem Aspekt wurde in der Bewertung von Produktionssystemen bisher wenig Beachtung geschenkt», sagt Beat Reidy. «Dabei ist es gerade vor dem Hintergrund einer weiter wachsenden Weltbevölkerung wichtig, die begrenzten landwirtschaftlich nutzbaren Flächen möglichst effizient für die Nahrungsmittelproduktion einzusetzen.» Voraussetzung sei allerdings, dass diese «Konkurrenz» zwischen Tier und Mensch bemessen werden könne.

Dafür haben Beat Reidy und sein Team von der HAFL zusammen mit Agroscope, dem Kompetenzzentrum des Bundes für landwirtschaftliche Forschung, in besagtem Projekt gesorgt: Sie entwickelten Formeln zur Ermittlung der Nahrungsmittel- und Flächenkonkurrenz. Anschliessend wandten sie diese Berechnungsmethoden für 25 Milchproduktionsbetriebe in der ganzen Schweiz an. «Wir mussten in unsere Berechnungen komplexe Fragestellungen einbeziehen: Welche Nahrungsmittel sind für Menschen zumutbar? Oder: Wie gross ist ihr Hunger?», erläutert Beat Reidy. 

Gleich viel Milch – doppelt so viel Kraftfutter

Die Nahrungsmittelkonkurrenz war in den untersuchten Betrieben deutlich geringer als die Flächenkonkurrenz. Das heisst: Alle Betriebe erzeugten mehr Energie und Protein in Form von Milch und Fleisch, als es mit den Futtermitteln möglich gewesen wäre – also wenn die Menschen das Futter (z. B. Mais) selber gegessen hätten. Bezüglich Flächenkonkurrenz zeigte sich ein ganz anderes Bild: Die meisten Betriebe könnten mehr Nährwerte produzieren, wenn sie auf den Feldern direkt Ackerbau betreiben würden, anstatt darauf Futtermittel zu pflanzen. «Mit Milchwirtschaft konnte nur in Berggebieten mehr Nahrung produziert werden, weil dort der Ackerbau aus topografischen Gründen stark erschwert ist», sagt Beat Reidy.

Die Entwicklung in der Schweiz geht allerdings in eine andere Richtung: Milchwirtschaftsbetriebe werden immer grösser und konzentrieren sich im Mittelland. Gab es in der Schweiz 1950 noch rund 150’000 Milchbetriebe, waren es 2000 noch 28’000. Heute wird noch auf rund 18’000 Bauernhöfen Milch produziert. Dabei ist die produzierte Menge Milch seit 2000 konstant – das dafür eingesetzte Kraftfutter hat sich im gleichen Zeitraum hingegen verdoppelt. 

Effizienter und klimafreundlicher

Im gross angelegten Projekt «Klimastar» (www.klimastar-milch.ch) wollen nun unter anderem die Nahrungsmittelhersteller aaremilch, Emmi Schweiz und Nestlé Suisse die Produktion von Schweizer Milch effizienter und klimafreundlicher gestalten. Dabei werden die von der HAFL und Agroscope entwickelten Methoden zur Berechnung von Nahrungsmittel- und Flächenkonkurrenz angewendet. Konkret: 300 Milchviehbetriebe in der ganzen Schweiz erhalten eine Analyse ihres CO2-Fussabdrucks und der Nahrungsmittelkonkurrenz ihrer Milch. Daraus werden Reduktionsmassnahmen erarbeitet. Die Nahrungsmittelkonkurrenz kann unter anderem mit einem geringeren Kraftfuttereinsatz oder der Verfütterung von Nebenprodukten der Nahrungsmittelverarbeitung reduziert werden. Zu Letzteren zählen beispielsweise Rapsextraktionsschrot, Futterkartoffeln oder Biertreber. Fortschritte der Betriebe werden mit Prämien abgegolten. Bis 2028 sollen sie so ihre jährlichen Treibhausgasemissionen um 12’000 Tonnen CO2eq reduzieren und die «Feed-Food Competition» um 20 Prozent verbessern.

Finanziell unterstützt wird das Projekt vom Bundesamt für Landwirtschaft (BLW). Beat Reidy und sein Team begleiten es wissenschaftlich. Auch Prof. Dr. Jan Grenz, Professor für Nachhaltigkeit an der HAFL, ist am Projekt beteiligt. Er und sein Team kümmern sich dabei um Nachhaltigkeits- und Klimathemen. Sicher ist: Es ist wieder mit spannenden Gesprächen auf den Bauernhöfen zu rechnen.

Zur Person

Beat Reidy

Prof. Dr. Beat Reidy liess sich an der ETH Zürich zum Ingenieur Agronom ausbilden. Seine Dissertation schrieb er in der Gruppe Graslandwissenschaften und Ertragsphysiologie am Institut für Pflanzenwissenschaften der ETH Zürich. Nach mehreren Stationen in der Privatwirtschaft und in wissenschaftlichen Institutionen stiess er 2011 zur HAFL. Dort ist er heute Professor für Graslandnutzung und Wiederkäuersysteme. Er wuchs auf einem Bauernhof im Kanton Freiburg auf; als erster Bub nach drei Schwestern war er für die Übernahme des elterlichen Betriebs vorgesehen. Er entschied sich für die Wissenschaft, trotzdem betreibt er heute den Hof mit Mutterkühen, Schweinen und Saatgutproduktion zusammen mit einem Betriebsleiter.

Fachgebiet: News