Köpfe der Forschung: Claudio Bacciagaluppi

14.02.2024 Der promovierte Musikwissenschaftler Claudio Bacciagaluppi beschäftigt sich mit geistlicher Musik im 18. und musikalischer Ausbildung im 19. Jahrhundert. Mit uns spricht er über sich und angewandtes Forschen.

Porträtaufnahme von Claudio Bacciagaluppi, braun-graues Bart- und Kopfhaar. Er lächelt mit offenem Mund in die Kamera. Grauer Studio-Hintergrund.

Nach seinem Studium der Musikwissenschaft doktorierte Claudio Bacciagaluppi an der Universität Fribourg zu den Messkompositionen von Giovanni Battista Pergolesi. Er führte zahlreiche Forschungsprojekte mit Stipendien der Paul Sacher Stiftung und finanziellen Beiträgen des SNF durch. Nach Stationen an der Fonoteca Nazionale Svizzera und dem RISM Digital Center, wo er immer noch tätig ist, forscht er heute im Institut Interpretation und leitet zwei SNF-Projekte.

Claudio Bacciagaluppi, du wurdest in der Nähe von Mailand geboren. Wie führte dich dein Weg an die Universität Zürich, um Musikwissenschaft zu studieren?

Das war eher Zufall! Ein Grund dafür war, dass ich bereits Schriftdeutsch konnte, weil ich die Schweizer Schule in Mailand absolvierte. Diese war bei uns Familientradition: Meine anglikanische Grossmutter hatte die damals sogenannte internationale Schule protestantischer Familien aus konfessionellen Gründen besucht. In den Dreissigerjahren kam mein Vater ebenfalls in die Schweizer Schule, als einzige nicht-faschistische in Mailand.
Der zweite, ziemlich praktische Grund war, dass mein älterer Bruder zu dieser Zeit gerade an der ETH sein Mathematikstudium abgeschlossen hatte und mein bester Schulfreund ebenfalls in Zürich sein Studium anfangen wollte: Ich «erbte» die Möbel meines Bruders und hatte gleichzeitig einen idealen WG-Partner.

Weshalb war es dir nach deinem Doktorat wichtig, praxisnah zu forschen?

Auch in diesem Fall waren es in erster Linie die Lebensumstände, die den Entschluss für mich fassten. Nach der Erfahrung in der Fonoteca bewarb ich mich bei Elisabeth Oester an der Musikbibliothek der damaligen Hochschule für Musik und Theater (HMT) in Bern. Danach holte mich Roman Brotbeck in die Forschung. Aus den Jahren als Musikbibliothekar ist mir die Freude geblieben, zusammen mit dem Nachwuchs zu arbeiten, und seit ich 2011 den Job bei RISM habe, ist meine Begeisterung für Quellenforschung noch mehr gewachsen. Nach meinem Post-Doc im Jahre 2015 schlug ich mit Giulia Giovani, heute Professorin in Siena, Martin Skamletz ein Forschungprojekt zur Musikbibliothek des Konservatoriums Neapel vor, wofür er gleich zusagte. Seitdem bin ich wieder an der HKB. An unseren Projekten am Institut Interpretation, wo ich auch für die Koordination des Forschungsfelds Musiktheorie verantwortlich bin, arbeiten meistens studierte Musiker*innen und Musiktheoretiker*innen. 

In mehreren SNF-Projekten hast du dich mit Musikausbildungen im 18. und 19. Jahrhundert in Italien und Frankreich beschäftigt. Welche Erkenntnisse kamen dabei zutage?

Die wichtigste Erkenntnis ist eine Relativierung der grundsätzlichen Organisation der Musikausbildung. Die Aufteilung des Unterrichts in einzelne Fächer wie Gehörbildung, Harmonielehre und Kontrapunkt ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, die auf der Gründung der Konservatorien als öffentliche Schulen für professionelle Musikausbildung basiert. Dadurch entstand die Notwendigkeit, eine grössere Anzahl von angehenden Musiker*innen möglichst systematisch und effizient auszubilden, um auch «messbare» Prüfungsergebnisse vergleichen zu können. Heute werden diese Fächer, zumindest im deutschsprachigen Raum, viel lebendiger und weniger strikt getrennt unterrichtet als noch in meiner Jugendzeit. 
Die zweite grosse Erkenntnis ist der fortwährende europaweite kulturelle Transfer von Repertoire und pädagogischen Ansätzen. Das bedeutet nicht, dass Kompositionen oder Theorien in anderen Ländern ohne grössere Anpassungen übernommen wurden – doch generell wird in unserer Wahrnehmung die gewaltige Zirkulation von Menschen, Ideen und Partituren in den vergangenen Jahrhunderten unterschätzt. In mehreren Projekten konnten wir nämlich den Transfer von Noten und Unterrichtsmethoden vom Konservatorium Neapel nach Paris oder von pianistischen Ansätzen von Wien nach Mailand verfolgen. 

Heute bist du in Zürich zuhause, früher hast du in Basel gewohnt. Bist du deshalb mit deinem neusten SNF-Agora-Projekt der Familie Sarasin auf den Spuren?

Ja und nein! Natürlich habe ich Basel persönlich sehr gerne und in der Universitätsbibliothek, wo die Musiksammlung des Baslers Seidenfabrikanten Lukas Sarasin aufbewahrt ist, fühle ich mich wie zuhause. Das neue Vermittlungsprojekt gründet aber in meinen Jahren als Doktorand und Post-Doc an der Universität Fribourg. Mein Kollege und Mitverantwortlicher im Projekt, Christoph Riedo, heute Professor der Musikwissenschaft an der Universität Genf, teilte schon damals mit mir das Interesse an der Musikpraxis in den bürgerlichen Musikkollegien in der Schweiz des 17. und 18. Jahrhunderts, worüber ich dann ein Buch schrieb, «Artistic Disobedience» (in Open Access zugänglich). Ausserdem initiierten wir damals bei RISM eine Reihe von Veröffentlichungen historischer Musikinventare, an die wir nun anknüpfen. Sarasins Hausmusiker, Jacob Christoph Kachel, verfasste nämlich um 1760–1790 einen Katalog seiner zirka 1'000 Musikstücke. Zwar ist nur etwa ein Drittel davon in der UB Basel erhalten, die meisten anderen Werke lassen sich aber dank den jeweils notierten Notenanfängen eindeutig identifizieren. Darum werden wir ab März 2024 nicht nur eine Wanderausstellung im Historischen Museum Basel organisieren – mit weiteren Stationen in Zürich, Bern und Luzern – sondern auch eine Online-Ausstellung mit Digitalisierungen aus anderen Archiven und Bibliotheken zur virtuellen Rekonstruktion der Sarasin’schen Sammlung. Parallel finden Konzerte und Workshops für Gymnasiast*innen und Laienorchester statt, für die wir unsere Expertin in Musikvermittlung gewinnen konnten, Irena Müller-Brozović.

Wir sind gespannt! Vielen Dank für dieses Gespräch.

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