«Den Familien machen die Krankenkassenprämien am meisten Sorgen»

30.04.2024 Anfang Juni stimmt das Schweizer Volk über die beiden Krankenkassen-Initiativen ab. Inwiefern sind steigende Gesundheitskosten ein Armutsrisiko? Oliver Hümbelin, Armutsforscher der BFH, zeigt im Interview auf, wen die steigenden Prämien am stärksten treffen.

Sind die Gesundheitskosten in der Schweiz ein Armutsrisiko? 

Prof. Dr. Oliver Hümbelin: Lebenshaltungskosten können generell zu einem Armutsrisiko werden. Die Schweiz besitzt einen sehr hohen Lebensstandard und ist entsprechend teuer. Im Vergleich zur EU bezahlt man in der Schweiz rund 75 Prozent mehr als im übrigen Europa. Auch wer sich bloss einen minimalen Lebensstandard leisten kann, muss bereits einiges aufwenden.

Spätestens seit der letzten Inflationsepisode, die einen Rückgang der Reallöhne mit sich brachte, werden die steigenden Krankenkassenprämien immer mehr zum Thema. Sie sind nämlich nicht im Teuerungsindex erfasst. Die Kostensteigerung ist aber noch stärker als die allgemeine Teuerung – im Durchschnitt 8.4 Prozent von 2023 auf 2024 – und die Prämien stellen einen beträchtlichen Teil der Haushaltsbudgets dar. Es erstaunt daher nicht, dass sich eine immer breitere Bevölkerungsschicht fragt, ob sie mit ihrem Einkommen über die Runden kommt. 

Wer ist von den steigenden Kosten am meisten betroffen? 

Grundsätzlich sind es Haushalte mit knappen finanziellen Mitteln, welche die steigenden Kosten am stärksten zu spüren bekommen. Dazu sind die jüngsten Zahlen des Bundesamtes für Statistik aufschlussreich: 10 Prozent der Bevölkerung lebt in Haushalten, die mit ihren finanziellen Mitteln nur schwer bis sehr schwer über die Runden kommen. Die am meisten betroffene Altersgruppe sind Minderjährige mit 14.8 Prozent. Bei den volljährigen Personen im Erwerbsalter sind es durchschnittlich 9.5 Prozent, bei den Personen im Pensionsalter sind es 6.1 Prozent. Dies weist bereits auf die spezifische Problemlage bei Familien hin.

Erhöht ist das Armutsrisiko bei Familien mit Kleinkindern (14.2 Prozent), Familien mit drei und mehr Kindern (15.8 Prozent) und Ein-Eltern-Haushalten (19.5 Prozent). Das bestätigt auch unsere aktuelle Studie, die anhand von Steuerdaten aufzeigt, welche Haushalte unmittelbar oberhalb der Armutsschwelle leben. 

Das ist vorwiegend ein strukturelles Phänomen. Es ergibt sich durch die höheren Auslagen von Familien und der Herausforderung, Beruf und Betreuungspflichten zu vereinbaren. Das kann besonders bei jungen Eltern kritisch werden, die sich beruflich noch nicht etablieren konnten und einen eher tiefen Lohn erhalten. Neu kommen hier nun die jüngste Teuerungsphase und eben die steigenden Krankenkassenprämien dazu. So zeigt das aktuelle Familienbarometer, dass die Krankenkassenprämien bei den Sorgen von Familien an erster Stelle stehen.

Abstimmung über zwei Krankenkassen-Initiativen: Es geht um Krankenkassenprämien

Am 9. Juni 2024 entscheidet das Schweizer Stimmvolk über zwei Volksinitiativen zur Krankenversicherung.

Prämien-Entlastungs-Initiative

Die «Prämien-Entlastungs-Initiative» sieht vor, dass Versicherte für die Krankenkasse höchstens eine Prämie bezahlen müssen, die 10 Prozent ihres verfügbaren Einkommens beträgt. Liegt die Gesamtprämie über diesem Wert, haben die Versicherten Anspruch auf eine Verbilligung.
Das Parlament hat einen indirekten Gegenvorschlag zur «Prämien-Entlastungs-Initiative» verabschiedet.

Kostenbremse-Initiative

Die «Kostenbremse-Initiative» will, dass der Bund Massnahmen ergreift, wenn die durchschnittlichen jährlichen Kosten in der Krankenversicherung pro Person um einen Wert steigen, der mehr als ein Fünftel über der Entwicklung der Nominallöhne liegt.
Das Parlament hat auch zur «Kostenbremse-Initiative» einen indirekten Gegenvorschlag beschlossen.
 

Was sind Ansätze, um bei den Gesundheitskosten die finanzielle Last zu lindern? 

Im Prinzip gibt es drei Möglichkeiten: Man bekommt erstens die Kosten in den Griff. Sie in absehbarer Zeit zu senken, scheint jedoch ein eher schwieriges Unterfangen, da der technische Fortschritt und die Alterung der Gesellschaft tendenziell mit einer Kostensteigerung verbunden sind. Beides führt zu einer erhöhten Nachfrage an Gesundheitsversorgung und lässt sich kaum beeinflussen. Dennoch ist es wichtig Massnahmen zur Reduktion der Kosten zu prüfen. 

Zweitens können andere Möglichkeiten der Finanzierung ins Auge gefasst werden. Beispielsweise könnten die Prämien stärker vom Einkommen abhängig gemacht werden. Heuten werden Haushalte mit geringen finanziellen Mitteln durch Prämienverbilligungen entlastet, aber im aktuellen System bezahlen mittlere bis sehr hohe Einkommen gleich viel. Ob man nun ein Jahreseinkommen von CHF 100'000 oder einer Million hat, spielt keine Rolle. Eine stärkere Umverteilung der Kosten von tiefen zu hohen Einkommen würde Menschen mit tiefen Einkommen entlasten. 

Drittens kann die Kaufkraft der Bevölkerung gestärkt werden. Man gibt einer Gruppe generell mehr Geld – wie dies nun etwa mit der 13. AHV-Rente vorgesehen ist – oder man unterstützt gezielt jene Haushalte, bei denen das Geld knapp ist. Dabei stellt sich natürlich die Frage der Finanzierung. Werden die Kosten etwa mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer getragen, spüren das Haushalte mit tiefen Einkommen wieder am stärksten. Ein Nullsummenspiel. Aktuell weisen einige Kantone Überschüsse bei den Steuern aus. Dies gezielt zur Entlastung von tiefen Einkommen einzusetzen, wäre eine sinnvolle Möglichkeit.

Selbst mit den Prämienverbilligungen wenden immer noch viele Haushalte deutlich mehr als 10 Prozent ihres Einkommens für die Krankenkassen-Prämien auf.

Prof. Dr. Oliver Hümbelin
Prof. Dr. Oliver Hümbelin Dozent und Armutsforscher BFH

Wie werden die bereits heute vorhandene Massnahmen genützt?

Mit den Prämienverbilligungen werden Menschen mit tiefen Einkommen gezielt entlastet. Das hat bereits heute einen stark armutsreduzierenden Effekt und wie unsere Studie im Kanton Basel-Landschaft gezeigt hat, werden dadurch viele Haushalte über die Armutsschwelle gehoben. Nun stellt sich die Frage, ob das aktuelle System ausreicht. Denn selbst mit den Prämienverbilligungen wenden immer noch viele Haushalte deutlich mehr als 10 Prozent ihres Einkommens für die Krankenkassen-Prämien auf. Und die Prämienverbilligungen erreichen auch nicht alle Haushalte, die es nötig haben, da in einigen Kantonen extra ein Antrag gestellt werden muss.

Als Letztes gibt es noch die Sozialhilfe, die Menschen unterhalb der Armutsgrenze unterstützt. Wir stellen aber fest, dass gerade Menschen mit sehr knappen Mitteln überdurchschnittlich häufig auf Sozialhilfe verzichten, da sie diesen Schritt scheuen. Sehr viele versuchen unabhängig zu bleiben und mit den vorhandenen Mitteln durchzukommen. Das birgt wiederum Risiken: die Gesundheit kann sich weiter verschlechtern, Armutslagen können sich verfestigen und an die nächste Generation weitergegeben werden, da Kinder in einer solchen Situation nicht so betreut und gefördert werden können, wie sie es bräuchten.

 

Oliver Hümbelin
«Eine stärkere Umverteilung der Kosten von tiefen zu hohen Einkommen würde Menschen mit tiefen Einkommen entlasten», sagt Dozent Dr. Oliver Hümbelin.

Prof. Dr. Oliver Hümbelin

Prof. Dr. Oliver Hümbelin ist Dozent am Institut Soziale Sicherheit und Sozialpolitik. Er forscht zur Ungleichheit und Armut in der Schweiz und analysiert dazu grosse Administrativ- und Registerdatensätze.