Mit Lebensstil-Interventionen Menschen stärken und Gesundheitskosten reduzieren

21.03.2024 In der Schweiz leiden 2,3 Mio. Menschen an nichtübertragbaren Krankheiten. Deren Behandlung verursachen 80 Prozent unserer Gesundheitskosten. Veränderungen des Lebensstils wirken sich nicht nur positiv auf die Gesundheit und die Genesung der Patient*innen aus, sondern könnten Gesundheitsfachpersonen langfristig entlasten. Renato Mattli, Projektleiter Lebensstil-Interventionen an der BFH, über seine Arbeit und neue Ansätze für ein nachhaltiges Gesundheitssystem.

Lebensstil-Bereiche
Lebensstil-Interventionen beabsichtigen individuelle Verhaltensänderungen in Bereichen des täglichen Lebens wie Schlaf, Ernährung, Bewegung, Entspannung, soziale Beziehungen und die Unabhängigkeit von Suchtmitteln. Weitere Bereiche wie Umwelt sowie kognitive oder sexuelle Gesundheit werden je nach Zielgruppe zusätzlich miteinbezogen. Lebensstil-Interventionen haben zum Ziel, die körperliche, geistige und soziale Gesundheit langfristig zu stärken. Eingesetzt werden sie zur Vorbeugung sowie bei der Behandlung von Krankheiten. (Grafik: BFH)

Renato Mattli, Sie sind seit September 2022 als Projektleiter Lebensstil-Intervention bei der BFH tätig. Welches Ziel verfolgen Sie mit Ihrer Arbeit?

Renato Mattli: Wir möchten die Menschen befähigen, ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden durch Anpassungen ihres Lebensstils zu fördern. Zudem wollen wir Gesundheitsfachpersonen unterstützen, damit sie das Wohlbefinden ihrer Patient*innen steigern können. Dazu braucht es eine ganzheitliche Betrachtungsweise des Lebensstils, das heisst, es geht um Schlaf, Ernährung, Bewegung, soziale Beziehungen, Umgang mit Stress und Unabhängigkeit von Suchtmitteln. Je nach Zielgruppe beziehen wir auch Themen wie Umwelt oder sexuelle Gesundheit mit ein. Zudem machen wir uns für eine evidenzbasierte Umsetzung von Lebensstil-Interventionen stark und nutzen neue technologische Hilfsmittel.

Wie stellen Sie sich das konkret vor?

Renato Mattli: Lebensstil-Interventionen setzen bei den Ressourcen der Menschen an. Im Gesundheitswesen liegt diesbezüglich noch enormes Potenzial brach. Denn hier liegt heute primär der Fokus auf der Behandlung von Defiziten und Erkrankungen durch Fachpersonen. Demgegenüber stehen Menschen, die mit ihren Ressourcen selbst etwas zur Gesundheit beitragen möchten. Sie wären bereit, etwas für ihr Wohlbefinden zu tun, wissen aber nicht wie. Deshalb wollen wir an der BFH zusammen mit Gesundheitsfachpersonen wissenschaftlich erprobte Hilfsmittel entwickeln, die die Menschen – sowohl gesunde als auch kranke – in ihrem Alltag unterstützen.

Lebensstil-Interventionen setzen bei den Ressourcen der Menschen an. Im Gesundheitswesen liegt diesbezüglich noch enormes Potenzial brach.

Dr. Renato Mattli
Dr. Renato Mattli Projektleiter Lebensstil-Interventionen

Ist die Wichtigkeit des Themas nicht längst bekannt in der Bevölkerung und im Gesundheitswesen? 

Renato Mattli: Es gibt zahlreiche Studien, die aufzeigen, dass unser Verhalten einen massgeblichen Einfluss auf unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden hat. Wir wissen alle, dass sich regelmässige Bewegung, gesunde Ernährung, soziale Kontakte etc. positiv auf unsere physische und psychische Gesundheit auswirken. Und dennoch: Gemäss Bundesamt für Statistik leiden in der Schweiz 2,3 Millionen Menschen an nichtübertragbaren Krankheiten wie Diabetes, Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wovon ein grosser Teil durch den individuellen Lebensstil beeinflusst wird. Die sogenannten NCD (Anm. der Red.: Non-Communicable Diseases, nichtübertragbare Krankheiten) verursachen 80 Prozent unserer Gesundheitskosten. Aufgrund der Alterung der Gesellschaft wird sich die Situation weiter verschärfen. Wir müssen die Menschen befähigen, selbst etwas zu ihrem Wohlbefinden beitragen zu können. Deshalb braucht es zur Vorbeugung sowie bei der Behandlung von Krankheiten mehr Lebensstil-Interventionen. 

Nichtübertragbare Krankheiten sind die wichtigsten Todesursachen.
Lebensstil: Hohe Kosten, grosses Sparpotential

Aber machen das Gesundheitsfachpersonen wie Ernährungsberater*innen und Physiotherapeut*innen nicht sowieso schon? 

Renato Mattli: Natürlich werden, sobald eine Person krank ist oder sie eine Diagnose erhält, nebst Medikamenten auch Aspekte des Lebensstils in die Behandlung mit einbezogen. Meiner Meinung nach passiert das aber noch sehr professionsspezifisch und nur in einem, maximal zwei Lebensstil-Bereichen. Wir sehen bei unseren Interventionen, dass es für die Betroffenen sehr wertvoll ist, die Zusammenhänge zwischen den Bereichen zu verstehen und zu erleben. Das Zusammenspiel zwischen Schlaf und Bewegung, idealerweise sogar draussen am Tageslicht, ist ein schönes Beispiel dafür: Bewegen wir uns am Tageslicht, macht uns das nicht nur müde, sondern stärkt zudem die innere Uhr. Dadurch verbessert sich die Schlafqualität. Haben wir gut geschlafen, fällt es uns wiederum einfacher, uns zu bewegen. Zudem ist ein gesundheitsfördernder Lebensstil sehr individuell, und nicht jeder Mensch braucht dasselbe zum gleichen Zeitpunkt. Wir müssen die Leute also im richtigen Moment abholen und individuell begleiten.  Diese Begleitung kann je nach Person auch sehr lange dauern. Hier entstehen unter Einbezug von technologischen Möglichkeiten kostenwirksame Lösungen. 

Gesundheitsfördernder Lebensstil ist sehr individuell, und nicht jeder Mensch braucht dasselbe zum gleichen Zeitpunkt. Wir müssen die Leute also im richtigen Moment abholen und individuell begleiten.

Dr. Renato Mattli
Dr. Renato Mattli Projektleiter Lebensstil-Interventionen

Braucht es mehr Sensibilisierung der Gesundheitsfachpersonen? 

Renato Mattli: Nein, denn: Gesundheitsfachpersonen wissen ja, dass es besser wäre, wenn ihre Patient*innen den Lebensstil ganzheitlich anpassen würden. Es fehlt ihnen aber an geeigneten Tools, an personellen und finanziellen Ressourcen und in Anbetracht der disziplinübergreifenden Lebensstil-Bereiche an Know-how, um die Patient*innen ganzheitlich anzuleiten. Es stellt sich die Frage: Wie kann eine Gesundheitsfachperson eine Ansprechperson für Lebensstil-Interventionen sein, ohne dass sie Expert*in in allen Bereichen ist?  Hier sehe ich unsere Aufgabe, ihnen etwas an die Hand zu geben. 

Haben Sie bereits Ideen?

Renato Mattli: Lebensstil-Interventionen sollen den Fachpersonen einen Nutzen bringen und auf keinen Fall ihre Arbeit zusätzlich belasten. Deshalb sehen wir grosses Potenzial in Blended-Care-Modellen und digitalen Angeboten. Bei unseren bisherigen Projekten haben wir eine grosse Offenheit der Beteiligten gegenüber digitalen Tools festgestellt. Zudem haben solche Tools Vorteile gegenüber anderen Formaten wie Lebensstil-bezogenen Broschüren: Wir können damit mit den Menschen interagieren, ihnen personalisierte Inputs und Struktur geben, fragen, wie es ihnen geht, sie anleiten und begleiten, erinnern. Das alles hilft enorm bei einer Verhaltensänderung. Ich bin überzeugt, dass es uns mit den richtigen Instrumenten für Lebensstil-Interventionen gelingt, die Menschen zu stärken und langfristig auch einen positiven Impact auf die Gesundheitskosten zu erzielen. 

Zur Person

Dr. Renato Mattli
Dr. Renato Mattli arbeitet an der Berner Fachhochschule als Projektleiter für Lebensstil-Interventionen. Dabei profitiert er von seinen vielseitigen Erfahrungen aus den Bereichen Bewegungs- und Sportwissenschaften, Public Health, Gesundheitsökonomie und klinischer Forschung. Er arbeitet in der Akademie-Praxis-Partnerschaft mit dem Inselspital in einem interprofessionellen Team mit dem wichtigen Bezug zur klinischen Praxis. Auch die Zusammenarbeit mit anderen Forschungsgruppen an der BFH, nicht nur innerhalb des Departements Gesundheit, ist ein wesentlicher Bestandteil seiner Arbeit.

Lebensstil-Interventionen im Fokus

Die Förderung eines gesunden Lebensstils gewinnt zunehmend an Bedeutung bei der Prävention von Krankheiten und bei der Rehabilitation nach Krankheitsfällen. Deshalb veröffentlichen wir an dieser Stelle eine Reihe von Beiträgen zu unserem Forschungsfeld Lebensstil-Interventionen. Auch das Symposium Fokus Gesundheit widmet sich diesem Schwerpunktthema mit ausgewiesenen Fachexpertinnen und Fachexperten.

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