«Medikamente erhöhen die Lebenserwartung»

18.03.2024 Menschen in der Schweiz nehmen immer mehr Medikamente. Für Niklaus Meier, Gesundheitsökonom an der BFH, kein schlechtes Zeichen. Medikamente seien mit dafür verantwortlich, dass unsere Lebenserwartung steige.

Die Bevölkerung in der Schweiz schluckt immer häufiger Medikamente. Gemäss der neusten Gesundheitsbefragung des Bundes ist der Anteil Personen, die eine Woche vor der Erhebung ein Medikament zu sich genommen hat, innert dreissig Jahren von 38 auf 55 Prozent gestiegen. Insbesondere der Gebrauch von Schmerzmitteln hat sich seit 1992 mehr als verdoppelt. Niklaus Meier, Gesundheitsökonom im Departement Gesundheit der BFH, erläutert im Interview die Gründe für diese Zunahme.

Der Konsum von Medikamenten nimmt in der Schweiz seit 30 Jahren zu. Sind wir eine kranke Gesellschaft geworden?

Nein, das Gegenteil trifft zu. Der Gesundheitszustand der Menschen ist alles in allem sehr gut, er hat sich in den letzten 30 Jahren deutlich verbessert. Der einfachste Indikator dafür ist die Lebenserwartung. Sie ist über die Jahrzehnte hinweg laufend gestiegen und hat einzig während der Corona-Pandemie eine kleine Delle erfahren. Wir werden im Schnitt immer gesünder und nicht kränker.

Was sind denn die Gründe für den seit Jahren ansteigenden Konsum von Medikamenten?

Wir werden immer älter und es stehen heute bessere, wirkungsvollere Medikamente zur Verfügung, um Krankheiten zu behandeln. Mit zunehmendem Alter entwickeln Menschen mehr und vor allem chronische Erkrankungen. Neue Medikamente haben deren Behandlung wirkungsvoller gemacht, wodurch die Patient*innen länger leben und folglich auch länger Medikamente einnehmen müssen.

Das lässt sich anhand einiger Zahlen illustrieren: 2002 waren in der Schweiz rund 500'000 Personen 75-jährig und älter, 11 Prozent von ihnen nahmen ein Mittel gegen Cholesterin, 40 Prozent eines gegen Bluthochdruck. 2022 betrug die Zahl der 75-jährigen und älteren Menschen zirka 800'000, 33 Prozent davon schluckten ein Medikament gegen Cholesterin und 55 Prozent eines gegen Bluthochdruck. Die Alterung der Gesellschaft und die Zunahme der medikamentösen Behandlung chronischer Krankheiten wirken multiplikativ.

Neue Medikamente haben die Behandlung von chronische Erkrankungen wirkungsvoller gemacht.

Niklaus Meier
Niklaus Meier Gesundheitsökonom

Warum nimmt über ein Sechstel mehr Frauen als Männer regelmässig Medikamente?

Frauen leben noch immer länger als Männer, im Durchschnitt sind es knapp vier Jahre. Da vor allem im Alter der Konsum von Medikamenten zunimmt, schlägt sich dieser Umstand in der Statistik nieder. Interessant ist, dass es beim Konsum von Medikamenten bei Frauen und Männern ab 55 Jahren kaum einen Unterschied gibt. Bei den 15- bis 54-Jährigen hingegen greifen mehr Frauen zu Medikamenten, insbesondere zu Schmerzmitteln. Die Gründe dafür dürften vielschichtig sein.

Schmerzmittel sind besonders verbreitet. Jede vierte Person nimmt solche Medikamente. Woran liegt das?

Zum grössten Teil handelt es sich um die gleichen Gründe wie beispielsweise beim Bluthochdruck: Mehr ältere Menschen nehmen mehr Medikamente, insbesondere gegen chronische Erkrankungen. Allerdings beobachten wir, dass sich seit der Jahrtausendwende die Verschreibung von Opioiden fast verdoppelt hat. Das ist wegen der Suchtgefahr, die von diesen Medikamenten ausgeht, nicht unproblematisch. In den USA haben wir gesehen, dass eine zu lockere Verschreibung von Opioiden eine massive Zunahme von Abhängigkeiten ausgelöst hat. Das ist bedenklich. Wir sollten als Gesellschaft den Einsatz von Opioiden im Auge behalten.

Grafik, die veranschaulicht, wie der Konsum von Schmerzmitteln, Mitteln gegen Bluthochdruck und Herzmedikamenten seit 1992 angestiegen ist.
Der Medikamentenkonsum in der Schweiz hat sich in den vergangenen 30 Jahren stetig gesteigert.

Die Schweizer Bevölkerung schätzt ihre Gesundheit als gut ein. Gleichzeitig werden immer mehr Medikamente konsumiert. Liegt da nicht ein Widerspruch vor?

Nein, denn Medikamente leisten einen grossen Beitrag zu einer höheren Lebensqualität und Lebenserwartung. Studien haben gezeigt, dass von der Steigerung der Lebenserwartung zwischen 1990 und 2015 etwa ein Drittel auf das Konto von Medikamenten geht. Die Todesfallrate bei Krebs und bei Herzerkrankungen ist massiv gesunken, ein grosser Teil davon dank Medikamenten. Das bedeutet aber nicht, dass die Bilanz bei allen Medikamenten gleich positiv ist.

Wird der Trend zu mehr Medikamenten also andauern?

Davon gehe ich aus. Wir werden immer älter und die Forschung bleibt aktiv. Die Zulassung neuer Medikamente dürfte weitergehen.

Medikamente sind auch ein Kostenfaktor. Wie stark verteuern sie das Gesundheitswesen?

Medikamente verteuern das Gesundheitswesen nicht überdurchschnittlich. Ihr Konsum nimmt zu, so wie die Gesundheitskosten als Ganzes. In den letzten Jahren haben Medikamente konstant 10 bis 11 Prozent der Gesamtkosten ausgemacht. Sie haben das Kostenproblem weder verschärft noch gelindert.

Es wäre heikel zu verlangen, den Konsum von Medikamenten um einen bestimmten Wert zu senken.

Niklaus Meier
Niklaus Meier Gesundheitsökonom

Es gibt immer mehr Medikamente gegen seltene Krankheiten. Eine Krankheit gilt als selten, wenn pro 10'000 Personen weniger als fünf von ihr betroffen sind. Solche Medikamente sind oft teuer. Tragen sie überdurchschnittlich zum Wachstum der Gesundheitskosten bei?

Medikamente gegen seltene Krankheiten kommen nicht oft zur Anwendung, eben weil die Krankheiten nicht häufig auftreten. Entsprechend müssen die Kosten für Forschung und Entwicklung auf eine geringere Menge umgelegt werden, was die Medikamente teuer macht. Gesamthaft verursachen diese Medikamente aber nur einen kleinen Teil der Gesundheitskosten.

Allerdings weist die Medikamentengruppe eine hohe Dynamik auf. Rund die Hälfte der Neuzulassungen ging in den letzten Jahren auf das Konto von Medikamenten gegen seltene Krankheiten. Bei den Patient*innen handelt es sich auch nicht um eine Randgruppe: Wir kennen unterdessen zwischen 7'000 und 10'000 seltene Krankheiten, in der Schweiz sind knapp eine halbe Million Menschen betroffen. Aus Sicht der Erkrankten ist jede neue Therapie zu begrüssen. Als Gesellschaft müssen wir uns jedoch der Frage stellen, wie viel die Behandlung einer Krankheit kosten darf. Wir stecken da in einem Dilemma, das im Spannungsfeld zwischen Politik, Medizin, Wirtschaft und Ethik diskutiert werden muss.

Der BFH-Experte: Niklaus Meier

Niklaus Meier ist Gesundheitsökonom und arbeitet am Institut für Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik im Departement Gesundheit der BFH. Seine Forschungsschwerpunkte sind Assessments von Gesundheitstechnologien und Medikamente gegen seltene Krankheiten.

Gibt es Mittel, um den Konsum von Medikamenten zu bremsen?

Es wäre heikel zu verlangen, den Konsum von Medikamenten um einen bestimmten Wert zu senken, denn eine lineare Reduktion könnte Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung haben. Bei individuellen Typen von Medikamenten wäre aber eine Überprüfung durchaus angebracht. Antibiotika beispielsweise werden zu oft verschrieben, manchmal sogar bei viralen Infekten, gegen welche sie gar nicht nützen. In der Onkologie werden Behandlungen zum Teil auch dann fortgeführt, wenn bereits klar ist, dass sie nur mit geringer Wahrscheinlichkeit das Leben der Patient*innen verlängern werden und eine Fortsetzung der Therapie eventuell gar nicht im besten Interesse der Betroffenen liegt.

Auf der Ebene des Gesamtsystems sehe ich vor allem zwei Sparmöglichkeiten: die weitere Erhöhung des Anteils an Generika und die Preisgestaltung von Medikamenten. Generika haben bei uns einen Marktanteil von 17 Prozent, in Deutschland beispielsweise machen sie 80 Prozent des Gesamtvolumens aus. Die Medikamentenpreise wiederum liegen in der Schweiz teilweise deutlich über denjenigen in umliegenden Staaten. Da liegt einiges an Sparpotenzial drin.

Gesundheitsökonom Niklaus Meier erklärt einer Zuhörerin etwas mithilfe eines Whiteboards.
Gesundheitsökonom Niklaus Meier erklärt im Interview, wie der ansteigende Medikamentenkonsum in der Schweiz einzuordnen ist.