Digitalisierung: Hohe Hürden für Arme und psychisch Kranke

15.11.2023 Menschen in Armut oder mit schweren psychischen Erkrankungen können mit der Digitalisierung kaum Schritt halten. Sie brauchen einfach zu bedienende Geräte und gezielte Beratung, um nicht abgehängt zu werden. Dies zeigt eine Studie der BFH.

In der Schweiz leben über 700'000 arme Menschen und mehrere Zehntausend mit schweren psychischen Beeinträchtigungen. Die BFH hat mit einer Studie untersucht, wie sich die zunehmende Digitalisierung auf diese vulnerablen Personen auswirkt. Auslöser war ein Gedankenaustausch zwischen zwei Forscherinnen.

Emanuela Chiapparini forscht als Leiterin des Instituts Kindheit, Jugend und Familie im Departement Soziale Arbeit seit Jahren unter anderem zum Thema Armut. Anna Hegedüs führt im Departement Gesundheit eine Förderstelle der Stiftung Lindenhof, bei der es um Forschung zur ambulanten psychiatrischen Pflege geht. «Wir haben im Gespräch festgestellt, dass armutsbetroffene Menschen und solche mit schweren psychischen Erkrankungen durch die Digitalisierung vor ähnlichen Herausforderungen stehen», erinnert sich Emanuela Chiapparini.

Betroffene einbezogen

Die beiden Forscherinnen wollten es genauer wissen. Eine gemeinsame Studie sollte aufzeigen, vor welchen Hürden in Armut lebende Menschen und solche mit schweren psychischen Beeinträchtigungen in ihrem Alltag durch die Digitalisierung stehen und wie sich die Hindernisse überwinden lassen.

Wir haben im Gespräch festgestellt, dass armutsbetroffene Menschen und solche mit schweren psychischen Erkrankungen durch die Digitalisierung vor ähnlichen Herausforderungen stehen.

Emanuela Chiapparini
Emanuela Chiapparini

In einem ersten Schritt werteten das Duo sowie ihre Mitarbeiterinnen Daniela Willener und Kristina Domonell 43 Studien aus, die sich um digitale Grundkompetenzen und die Nutzung digitaler Instrumente durch sozial benachteiligte Personen drehten.

In einem zweiten Schritt bezogen sie gezielt die Sichtweise der Betroffenen und von Fachpersonen ein. Dazu führten die vier Frauen Gesprächsrunden durch, um Erfahrungen der beiden Gruppen mit der Nutzung digitaler Instrumente und gegenseitige Fragen aufzunehmen. Zur Freude der Studienverfasserinnen sagten alle sieben angefragten Betroffenen spontan zu, wie Emanuela Chiapparini hervorhebt. «Dadurch erhielten wir einen direkten Blick auf die Schwierigkeiten, mit denen diese Menschen im Alltag konfrontiert sind.»

Digitalisierung bremst soziale Interaktion

Die Ergebnisse der Studie sind ernüchternd: «Die Betroffenen schaffen es nicht, einen Computer oder ein Smartphone zu bedienen, wenn es ihnen schlecht geht», erklärt Emanuela Chiapparini. Überdies verfügten viele von ihnen nicht über einen geregelten Zugang zum Internet und es mangle ihnen oft am Wissen, um die digitalen Geräte wirkungsvoll einzusetzen.

Der digitalen Nutzung weichen sie aber noch aus einem anderen Grund aus. Von Armut betroffene und psychisch schwer erkrankte Menschen bevorzugen den persönlichen Kontakt, um ihrer sozialen Isolation mindestens punktuell zu entfliehen, hält Emanuela Chiapparini fest: «Sie kaufen ein Zugbillett lieber am Schalter anstatt über eine Smartphone-App», was wiederum nicht helfe, ihre digitalen Kompetenzen zu stärken.

Die Betroffenen schaffen es nicht, einen Computer oder ein Smartphone zu bedienen, wenn es ihnen schlecht geht.

Emanuela Chiapparini
Emanuela Chiapparini

Ein anderes Problem sei, dass Betroffene bei der Nutzung digitaler Geräte oft keine ausreichende Unterstützung bekämen. «Den Fachpersonen fehlt die Zeit, um den Klient*innen zu zeigen, wie sie auf dem Smartphone eine Information finden oder Zugang zu ihrem Bankkonto erhalten», erläutert Emanuela Chiapparini. Oder es mangle auch den Fachleuten an den entsprechenden Fähigkeiten.

Zugang und Bildung

Gemäss den Studienverfasserinnen braucht es drei Dinge, um den Betroffenen im täglichen Umgang mit der Digitalisierung Hürden aus dem Weg zu räumen:

  • eine einfach zugängliche und günstige Infrastruktur (Netzzugang und Geräte) sowie erschwingliche Bildungsangebote für die Nutzung digitaler Instrumente,
  • Zeitfenster für Fachpersonen wie Psychotherapeut*innen oder Sozialberater*innen, um ihre Klient*innen im Umgang mit digitalen Geräten zu betreuen und ihnen den Nutzen von Online-Inhalten aufzuzeigen,
  • Mitarbeit sogenannter Peers bei der Vermittlung digitaler Kompetenzen; diese Expert*innen aus Erfahrung haben gemeinhin den besten Zugang zu Betroffenen.

Des Weiteren richtet die Studienleiterin einen Appell an die Industrie: Unternehmen sollten bei der Entwicklung von Geräten oder Anwendungen die Erfahrungen der Betroffenen einbeziehen und ihre Bedürfnisse aufnehmen. Mit einfach zu handhabenden Geräten würde ein grosses Hindernis im Alltag dieser Personen wegfallen.

Angebote verzahnen

Zusammengefasst plädiert Emanuela Chiapparini dafür, persönliche und digitale Angebote für die Betroffenen gezielt zu verzahnen. «Mit einer App allein lassen sich nicht alle Probleme lösen». Durch die Förderung des digitalen Know-hows und persönlicher Begleitung gewinne die Unterstützung dieser Menschen an Effektivität und sorge dafür, dass sie von der Gesellschaft nicht abgehängt würden.

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