«Vielleicht bringt Verzicht eben auch Freude»

15.12.2022 Die Krisen der Gegenwart lassen uns über das Thema Suffizienz nachdenken. Was bedeutet der Begriff und wie kommen wir zu einem suffizienteren Lebensstil? Prof. Dr. Tobias Fritschi, Leiter des Instituts Soziale Sicherheit und Sozialpolitik an der Berner Fachhochschule BFH, über Einschränkungen, Lebensqualität und die Rolle von Trends.

Portrait von Tobias Fritschi
Tobias Fritschi, Leiter des Instituts Soziale Sicherheit und Sozialpolitik an der BFH. Bild: zvg

Stichwort Energiekrise. Herr Fritschi, haben Sie bei sich zuhause die Heizung schon runtergeschraubt?

Ja, das habe ich. Aber nicht erst jetzt. Ich mache mir die Gedanken zum Umgang mit planetaren Ressourcen schon länger und werde es auch weiterhin tun.

Suffizienzmassnahmen zu ergreifen, fällt Ihnen im Alltag also nicht besonders schwer?

Ich bin nicht dafür bekannt, das kleine Menu zu wählen. Dafür fällt es mir leicht, einen Nachmittag nur mit einem Buch in der Badi zu verbringen, statt in den Europapark zu fahren. Ein grosser Teil der persönlichen Freiheit besteht für mich auch darin, Dinge nicht zu tun.

Was ist mit Suffizienz denn eigentlich genau gemeint?

Suffizienz bedeutet Genügsamkeit. Wer einen suffizienten Lebensstil pflegt, verbraucht weniger Ressourcen. Es geht also um eine Nachhaltigkeitsstrategie, die das eigene Verhalten ins Auge fasst. Der Begriff ist entsprechend abzugrenzen von demjenigen der Effizienz und der Konsistenz (siehe Box).

Können Sie weitere Beispiele nennen, wie so ein suffizienter Lebensstil aussehen könnte?

Der Gedanke des Teilens ist wichtig. Dass man beispielsweise nicht alle Gegenstände selbst anschafft oder eine Wohnung mit anderen teilt. Suffizient wäre auch ein Lebensstil, der in Richtung Selbstversorgung geht, also wenn man zum Beispiel Gemüse im eigenen Garten oder auf dem Balkon anpflanzt. Dabei geht es nicht nur darum, etwas selbst zu produzieren, sondern auch darum, was man dabei empfindet.

Wie meinen Sie das?

Bei der Suffizienz spielen die eigenen Bedürfnisse eine wichtige Rolle. Also die Frage, welche Bedürfnisse ich habe und inwiefern ich diese einschränken kann. Dabei ist festzuhalten, dass die Bedürfnisbefriedigung beispielsweise nicht nur über den Konsum einer Tomate funktioniert, sondern vielleicht auch darüber, dass man sie selbst gezogen hat. Was ich sagen will: Es geht bei der Suffizienz nicht per se um Einschränkung, sondern darum, mit weniger Konsum eine gleich hohe Lebensqualität zu erreichen.

Welche Rolle kommt der Suffizienz in der ganzen Nachhaltigkeitsdiskussion zu?

Bei der Suffizienz können wir uns im Vergleich zu den Bereichen Effizienz und Konsistenz noch am meisten verbessern. Gerade das Beispiel Schweiz zeigt, dass Food Waste, Wohnflächen- oder Energieverbrauch in den letzten Jahren ständig gestiegen sind. Fakt ist: Würden alle Menschen so leben wie wir, bräuchte es etwa fünf bis sechs Mal den Planeten Erde.

Sprechen wir dabei nur von ökologischen Aspekten der Nachhaltigkeit?

Nein – und das ist mir sehr wichtig. Nachhaltigkeit bedeutet ja, dass wir uns heute so verhalten, dass künftige Generationen einen gleich hohen Lebensstandard haben können wie wir. Dazu braucht es aus meiner Sicht eine Verschiebung zwischen der sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Nachhaltigkeit. Denn wenn wir den Lebensstandard erhalten wollen, ohne dass wir so viel materielle Ressourcen verbrauchen, müssen wir ins Soziale oder beispielsweise in die geistige Entwicklung investieren.

Woran denken Sie genau?

Wir müssen mehr soziale Netzwerke und Strukturen schaffen, die nachhaltig funktionieren. Ein Spielplatz im Quartier beispielsweise, der durch einen Verein breit abgestützt ist und sich selber finanziert. Solche Grundinfrastrukturen ermöglichen es den Menschen, ihre Bedürfnisse zu erfüllen, ohne selbst zusätzliche Ressourcen zu beanspruchen. Weiter bin ich überzeugt, dass die Stärkung des Geistigen – ich denke an Bildung, Weiterentwicklung im Beruf und so weiter – ein starker Hebel ist, um vom materiellen Verbrauch etwas wegzukommen.

Warum tun wir uns mit Genügsamkeit denn eigentlich so schwer?

Ich denke, wir suchen zu oft nach der einfachen Lösung. Ein Beispiel: Wenn wir in die Ferien fliegen, dann müssten wir uns fragen, was das eigentliche Bedürfnis ist, das wir mit der Reise befriedigen wollen. Um einige Bedürfnisse wie Wärme, Wasser, Zweisamkeit abzudecken, müssten wir nicht zwingend eine grosse Reise unternehmen. Aber statt uns diese Frage zu stellen und entsprechend zu handeln, greifen wir rasch nach Konsumgütern, die das perfekte Sorglospaket versprechen. Hier könnten wir übrigens von Menschen in eingeschränkten Lebenslagen lernen und schauen, wie sie es schaffen, mit möglichst wenig Konsum eine möglichst hohe Lebensqualität zu erreichen.  

Was müsste Ihrer Meinung nach ändern, damit wir suffizienter werden?

Suffizienz müsste cool sein, ein gutes Image haben und zum Trend werden. Trends werden von jungen Menschen gesetzt, sie werden nicht verordnet. Ich bin aber überzeugt, dass noch mehr Spielräume geschaffen werden könnten, die es den Menschen ermöglichen, einen anderen Lebensstil auszuprobieren.

Bedeutet Suffizienz auch Wirtschaftsrückgang?

Ja. Man weiss heute, dass Wachstum nie zu weniger Verbrauch führt. Ich kann neue Produkte entwickeln, die effizienter sind und trotzdem werden am Ende mehr Ressourcen verbraucht.

Heisst das, wir müssen von unserem Wohlstand abgeben?

Ja, vom Wohlstand. Aber nicht von der Wohlfahrt. Wohlstand meint Geld, Konsumgüter und so weiter. Wohlfahrt bezieht sich darauf, wie gut es den Menschen geht.
Wenn weniger Konsum mehr Lebensqualität bedeutet, wenn Freiheiten bewusster wahrgenommen und genützt werden, dann müssen wir auch nicht mehr so viel konsumieren, wie wir es aktuell tun.
Wir sehen beispielsweise in Studien, dass Menschen, die weniger arbeiten, glücklicher sind. Unabhängig vom Einkommen oder davon, was sie arbeiten. Das sind klare Hinweise dafür, dass die Lebensqualität nicht nur mit den verfügbaren Mitteln oder dem Konsum zusammenhängt, sondern beispielsweise auch mit dem Vermeiden von Belastungen.

Gibt es vergangene Krisen, aus denen wir in Bezug auf die Energiekrise lernen können?

Ja, Corona zum Beispiel. Da haben wir bewusster wahrgenommen, was uns wichtig ist oder wie wir mit einem eingeschränkten Aktionsradius unsere Bedürfnisse befriedigen. Das hatte einen grossen Lerneffekt und führte auch zu mehr Lebensqualität. Bei einer Umfrage, die wir mit Arbeitnehmer*innen vor, während und nach der Coronakrise durchführten, hat sich das deutlich gezeigt. Denn auch wenn es eine schwierige Zeit war und viele Menschen arbeitslos wurden, haben wir jetzt einen steigenden Beschäftigungsgrad, eine höhere Zufriedenheit am Arbeitsplatz, ein verändertes Bewusstsein. Diese Chance der Krise sehe ich auch jetzt: Es sieht vielleicht wie eine Einschränkung aus, dass wir aufgrund der Klima- und anderen Krisen auf Dinge verzichten müssen. Aber vielleicht bringt Verzicht eben auch Freude.

Zur Person

Prof. Dr. Tobias Fritschi forscht zur Frage, wie Menschen in eingeschränkten Lebenslagen dazu befähigt werden können, ihre Ziele zu verwirklichen. Er leitet das Institut Soziale Sicherheit und Sozialpolitik und unterrichtet zu Case Management und sozialer Wirtschaft.

Drei Strategien der Nachhaltigkeit

Effizienz, Suffizienz und Konsistenz sind drei Strategien der Nachhaltigkeit. Während Suffizienz Verhaltensänderungen der Menschen ins Auge fasst, geht es bei der Effizienz um den Produktionsprozess, also um die Frage, wie Ressourcen ergiebiger eingesetzt werden können. Die Konsistenz wiederum zielt auf einen Wandel in der Produktion ab. Hier geht es darum, Ressourcen und Technologien einzusetzen, welche naturverträglich sind – also solche, die das Ökosystem nutzen, ohne es zu zerstören.