Falsche und richtige Strategien

Die meisten Digitalisierungsstrategien könnten auch vor 25 Jahren schon formuliert worden sein. Sie gehen von einer linearen Transformation ohne Disruptionen aus. Das ist kurzsichtig und blockiert die Entwicklung des Unternehmens.

Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass Digitalisierungsstrategien eigentlich alle sehr vertraut klingen? Nur ganz selten geht es dabei um eine wirklich substanzielle Änderung der Geschäftstätigkeit. Es werden oftmals auch keine Ansprüche an die unternehmensinterne IT in Bezug auf Geschwindigkeit und Qualität der Umsetzung von Innovationen formuliert. Meist beschränken sich die Strategieformulierungen zur digitalen Transformation auf abstrakte Willensbekundungen. Sie gehen davon aus, dass die Zukunft eine lineare Fortsetzung der Vergangenheit ist. Zwar mit viel mehr digitalen Ressourcen, aber ohne grundlegende Neuausrichtung der Firmenziele. Dafür enthalten sie oft schöne, grafisch innovative Darstellungen der Strategien, wie wir sie aus Werbeprospekten und Lehrbüchern kennen.

Was macht wirksame Strategien aus?

Förderlich ist das nicht. Wirksam sind nur Digitalisierungsstrategien, die Klartext sprechen. Und dazu gehören:

  • Eine verbindliche Auslegeordnung in Form einer Beschreibungdes Ist-Zustands, der die Herausforderungen benennt und sich dabei auf wesentliche, möglichst konkrete Aspekte beschränkt.
  • Leitlinien für das Handeln, die eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit den identifizierten Herausforderungen und/oder eine überprüfbare Zielbeschreibung in Bezug auf die Auslegeordnung (den Soll-Zustand) ermöglichen.
  • Eine überschaubare Menge von kohärenten, konkreten Massnahmen zur Bewältigung der Herausforderungen respektive zur Erreichung des Ziels.

Das ist notwendig und ausreichend. Mehr schadet sogar. Denn Menschen können sich nur kurze Strategien merken. Und auch das nur, wenn diese eine konkrete Relevanz für ihr eigenes Tun haben. Wenn aber Mitarbeitende die Strategie nicht kennen, dann ist es auch nicht möglich, von ihnen ein strategiekonformes Verhalten einzufordern. Allenfalls kann optional die Strategie in einem Begleitdokument noch genauer erklärt werden, beispielsweise indem benannt wird, was nicht getan werden soll. Notwendig ist dies jedoch nicht. Denn es sollte eigentlich selbstverständlich sein, dass die beschriebenen Massnahmen Priorität gegenüber allem anderen haben, was auch noch nützlich wäre. Und dass es Konsequenzen hat, wenn Ressourcen für Nebensächliches blockiert werden. Andernfalls sind die Mitarbeitenden genau dann mit anderem beschäftigt, wenn ihre Mitarbeit für die Umsetzung der identifizierten Massnahmen entscheidend wäre.

Die Ursache

So weit, so einfach. Warum sind nun trotzdem so viele Strategien zur digitalen Transformation dermassen nichtssagend? Warum wirken sie so gut gemeint und banal? Warum enthalten sie dennoch keinen Klartext, fördern stattdessen beliebige Vielfalt und blockieren dadurch sogar noch die Zusammenarbeit?
Die Ursache ist einfach gefunden und ein grosses Problem zugleich: Die digitale Transformation findet in unserer Vorstellung oftmals nicht statt. Wir sehen diese zwar bei anderen, übersetzen sie aber nicht auf unsere eigene Geschäftstätigkeit. Darum:

  • planen Führungskräfte die Zukunft so, als ob es die digitale Transformation gar nicht gäbe;
  • enthalten die Strategiedokumente zur digitalen Transformation keine disruptiven Elemente;
  • existiert selten die Absicht, mit der eigenen Firma in neue Märkte vorzudringen;
  • fehlt das Bewusstsein, dass Konkurrenten aus anderen Märkten in den eigenen Markt eindringen könnten;
  • werden Fortschritte bisheriger Konkurrenten bei der Technologienutzung ebenso wenig berücksichtigt wie anstehende Regulierungen.

Wenig Ertrag für die nahe Zukunft

Weil radikale Transformationen in unserer Vorstellung für unseren eigenen Bereich unwahrscheinlich sind, sehen wir die Gefahren und die Chancen der Transformation nicht. Fast noch am häufigsten – aber auch das sind Einzelfälle – ist zu beobachten, dass in Unternehmen über die Zukunft in 20 oder 30 Jahren nachgedacht wird. Das liefert zwar intellektuell bereichernde Perspektiven, bringt aber wenig für die nahe Zukunft.
Meist gibt es nicht einmal zur Datenbewirtschaftung konkrete Aussagen in den Strategien zur digitalen Transformation. Stattdessen wird diese abstrakt und unverbindlich angesprochen – im Sinne von: «Daten sind ein wichtiges Asset, deren Bedeutung in Zukunft stark zunehmen wird.» Das stimmt zwar, ist aber allgemein bekannt.
Die Erkenntnis allein genügt nicht für eine konsequente Umsetzung. Unternehmen benötigen vielmehr konkrete strategische Leitlinien, wozu und wie Daten bewirtschaftet werden sollen. Die effektive Datenbewirtschaftung verlangt nämlich fast immer die Zusammenarbeit vieler Akteure im Unternehmen. Und dafür braucht es strategische Richtlinien. Ansonsten machen die Akteure alle, was ihnen aus ihrer lokalen Perspektive sinnvoll erscheint – oder sie machen gar nichts. Beides blockiert den Fortschritt.

Die Konsequenzen

Fehlt ein aussagekräftiges Strategiedokument zur digitalen Transformation, dann führt das in der Regel dazu, dass auf der einen Seite das wirklich Wichtige nicht getan wird und auf der anderen Seite Überflüssiges und Nebensächliches Ressourcen verschlingt. Man verzettelt sich.
Vielleicht gelingen lokale Initiativen, unter dem Strich bringen sie aber wenig Nutzen, da sie nicht von anderen Aktivitäten profitieren können. Auch unternehmensweite Initiativen sind teils ohne Strategie möglich. Das setzt jedoch voraus, dass mindestens informell eine vernünftige strategische Ausrichtung existiert.
Das eigentliche Problem aber ist meist nicht das Fehlen eines Strategiedokuments, sondern die Blindheit gegenüber den Entwicklungen. Und zwar, weil:

  • neu entstehende, disruptive Geschäftspraktiken und Geschäftsmodelle für die eigene Geschäftstätigkeit ausgeschlossen werden;
  • die Benchmarks im Bereich technischer und organisatorischer IT-Maturität unbekannt sind. So werden triviale Nutzungsformen von Technologie mit führender IT-Praxis verwechselt;
  • die Gefahr transversaler Inn vationen unterschätzt oder gänzlich geleugnet wird. Man bleibt fokussiert auf die alten Konkurrenten und die alten Marktgrenzen.

Die mentalen Modelle, mit denen Entwicklungen im Markt erklärt oder prognostiziert werden, werden nicht an die ökonomischen Gesetze digitaler Märkte angepasst. So bleibt IT eine zu managende Ressource, die «alignt» werden muss, statt den radikalen Fortschritt zu «enablen». Vor allem aber werden die Treiber der digitalen Transformation ignoriert. Neue Arbeitsressourcen werden ebenso vernachlässigt wie das globale Matching von Angebot und Nachfrage, die radikale Personalisierung, das Bezahlen mit Daten oder das permanente Deployen von Innovationen, die wachsende Bedeutung smarter Produkte und die neue Macht der kundenorientierten Geschäftsökosysteme.

Verharren in altbewährten Denkmodellen

Aber so logisch es früher war, dass die Arbeit von Mitarbeitenden ausgeführt wurde, die von ihren Vorgesetzten geführt wurden, so fragwürdig ist es, heute ausschliesslich auf die eigenen Angestellten zu setzen. Der Einbau von künstlicher Intelligenz in die Arbeitsprozesse, die Nutzung von Gig-Ökonomie-Dienstleistungen und hochspezialisierten Freelancern für Kurzzeit-Jobs, die Nutzung der Crowd für spezielle Aufgaben oder auch das viel weiter als bisher gehende Outsourcen sind neue Möglichkeiten, die den Konkurrenzkampf verändern.
Entsprechendes gilt für die oben aufgezählten anderen Treiber der digitalen Transformation. Sie alle stellen «Game Changer» dar, die aber viele CEOs noch nicht in ihre mentalen Modelle über das Funktionieren von Unternehmen und Märkten integriert haben.
In der Verwaltung und der Politik wird ebenfalls in altbewährten Denkmodellen verharrt. Die Direktkommunikation zwischen den Mächtigen und dem Volk, das Predictive Policing, Deep Fakes, die hohe Ambiguität in politischen Kampagnen oder auch die machtpolitische Bedeutung von Regulierungen werden als Randerscheinungen abgetan, auf die man auch in fünf bis zehn Jahren noch reagieren könne – falls es sich denn tatsächlich herausstellt, dass die Entwicklung schiefläuft.
Die Folge ist, dass die radikalen Veränderungen erst fünf vor zwölf, oft aber auch erst zehn nach zwölf vorgenommen werden – in einer Situation, in der das Scheitern ernsthaft schadet. Das schafft einen Erfolgszwang, der alle stresst und ein Lernen verunmöglicht. Dies wiederum führt dazu, dass das jeweilige Unternehmen als Arbeitgeber unattraktiv wird und sich schwertut, junge Talente anzuziehen.
So angenehm es in ruhigen Zeiten ist, die digitale Transformation weit von sich wegzuschieben, so hart trifft es dann die Mitarbeitenden und die Geschäftsleitung, wenn die Veränderungen sich nicht mehr aufschieben lassen.

Das neue IT-Problem

Besonders krass ist das Nichtsehen technischer Entwicklungen. Viele Führungskräfte überschätzen die technische und organisatorische IT-Maturität ihres Unternehmens stark. Sie meinen beispielsweise, ihr Unternehmen sei in Bezug auf die Zusammenarbeit mit anderen besonders fit, weil es Zoom oder Teams eingeführt hat. Der eigentliche Benchmark wäre hier aber, innert weniger Tage ein digitales Dienstleistungsangebot zu erstellen, das gemeinsam mit einem anderen Unternehmen erbracht wird. Solch ein «Digital Venturing» kann heute realisieren, wofür man früher ein Joint Venture gründen musste.
Dieser Benchmark ist ein hehres Ziel und man mag trefflich darüber streiten, ob überhaupt ein Unternehmen ihn erreichen kann. Viel realistischer ist deshalb der Benchmark, eigene Dienstleistungen innerhalb weniger Tage zu realisieren. Aber auch hier zeigt sich, dass nur wenige Führungskräfte es sich tatsächlich vorstellen können, durch Konfiguration plus Plug&Play neue Dienstleistungen zu realisieren. Ihr mentales Modell sieht vor, dass neue Dienstleistungen in monatelanger Arbeit programmiert werden müssen.

Zögerliche Kundenorientierung

Ein dritter wichtiger Benchmark ist die Balance zwischen Top-down- und Bottom-up-Steuerung durch eine passende Gestaltung der Verantwortlichkeiten. Oft dominiert noch ein althergebrachtes Prozess- und Aufbauorganisationsverständnis, in dem scheinbar alles geordnet ist. In der Praxis trägt aber niemand wirklich die Verantwortung. Das Ergebnis ist, dass brauchbare Metriken fehlen, weil ihre Definition in der Kompetenz derer liegt, die fachlich nicht dazu imstande sind. Die damit verbundenen Probleme werden häufig nicht gesehen, weil auch in Bezug auf die Verantwortlichkeiten in alten Denkmustern verharrt wird.
Tatsächlich werden sogar noch viel selbstverständlichere Benchmarks nicht wirklich verstanden – beispielsweise in Bezug auf die Kundenorientierung bei der digitalen Transformation und in Bezug auf die digitale Unterstützung einer reibungslosen Geschäftstätigkeit. Zwar finden diese Aspekte alle notwendig und wichtig, aber es werden dabei mental Schranken gezogen, die vermeintlich selbstverständlich sind. Experimente? Nein, so arbeiten wir hier nicht. Co-Creation? So weit kommts noch. Alles von der Kundschaft her denken? Aber die sind gar nicht so daran interessiert. Medienbruchfreie Ende-zu-Ende-Prozesse? Überall geht das nicht. Transparenz über den Zustand der ablaufenden Transaktion? Aber das geht doch gar nicht. Weitgehende Prozessautomatisierung? Das geht natürlich auch nicht überall.
In der Vorstellung vieler Angestellten und CEOs findet die Digitalisierung in klar eingeschränkten IT-Sandkästen statt. Sie ist nur als durch Grenzen gezähmtes Wesen willkommen. Heilige Kühe darf sie schon gar nicht anfassen.

Der Weg aus der Sackgasse

Diese Probleme lassen sich nicht mit kluger Beratung und moderierten Stategieworkshops lösen. Noch weniger helfen partizipative Strategieprozesse. Notwendig ist Weiterbildung für die Führungskräfte – und idealerweise auch für die Mitarbeitenden. Nur wenn sich mindestens die oberen Kader eines Unternehmens die neuen ökonomischen Denkmodelle und die heutigen IT-Benchmarks zu eigen machen und in ihrer praktischen Strategie- und Führungsarbeit anwenden, kann es gelingen, sich den Herausforderungen der digitalen Transformation erfolgreich zu stellen. Das gilt für alle Unternehmen und auch für Ämter in der Verwaltung.
Der Entwurf einer wirkmächtigen Strategie sowie die damit verbundene Umsetzung verlangen neue mentale Modelle, wie Unternehmen und Märkte inmitten der digitalen Transformation funktionieren. Selbstverständlich sind sie auch auf die Bereitschaft zur Radikalität und zur Konsequenz angewiesen.
Im Widerspruch zu weitverbreiteten Klischees ist solch eine Radikalität jedoch nicht notwendigerweise menschenfeindlich – im Gegenteil. Eine konsequente Menschenorientierung
schafft ideale Voraussetzungen für den Einsatz von künstlicher Intelligenz.

Mut ist gefragt

Allerdings braucht es schon Mut und Verwegenheit – um nicht zu sagen Verrücktheit –, damit tatsächlich eine Strategie zur digitalen Transformation formuliert wird, die Klartext spricht. Denn zum einen sind Strategien, die Kon sequenzen nach sich ziehen, äusserst unbeliebt. Zum anderen stellen für viele die ökonomischen Modelle der digitalen Transformation eine Bedrohung für ihre wohlbehüteten Gärtchen dar. Und in aller Regel sind viele bereit, verbissen und mit äusserst hässlichen Methoden für ihre alten Denkmodelle zu kämpfen.
Bisweilen erinnert der Widerstand gegen die neuen Denkmodelle an den Widerstand gegen das heliozentrische Weltbild oder den Widerstand gegen die Automobilisierung. Vielleicht wird er erfolgreich sein, wahrscheinlich aber nicht. Gehören Sie nicht zu den Letzten, die sich an vordigitale ökonomische Weisheiten klammern!

Dieser Text ist in der Zeitschrift Computerworld 12/2021 - 1/2022 erschienen.

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