Die Arbeit als Hebamme im Geflüchtetencamp – ein Erfahrungsbericht

11.01.2024 Wie steht es um die perinatale Gesundheitsversorgung im Geflüchtetencamp auf Lesbos? Hebamme und BFH-Mitarbeiterin Lynn Huber hat als Teilnehmerin der Summer School on Refugee and Migrant Health einige Tage vor Ort verbracht und berichtet hier von ihren Eindrücken.

Im vergangenen Jahr habe ich als Teilnehmerin an der Summer School on Refugee and Migrant Health sieben Tage auf Lesbos verbracht und im Geflüchtetencamp wichtige Erfahrungen gesammelt. Wir waren eine Gruppe von 12 Personen, aus verschiedenen Ländern und mit unterschiedlichen Hintergründen, die alle im Gesundheitswesen arbeiten oder zu Gesundheitsthemen forschen. 

Es ist für mich nicht das erste Mal in einem Geflüchtetencamp ausserhalb der Schweiz. Neu dazugekommen ist aber mein beruflicher Hintergrund als Hebamme. Was ich hier beschreibe, ist mein Erfahrungsbericht. 

Der erste Eindruck und unser Besuch im Camp

Mein erster Eindruck auf Lesbos ist positiv. Ich wohne in einem netten kleinen Hotel, die Insel ist schön, die Menschen sind freundlich. Das Leben geht seinen gewohnten Gang. Wären da nicht vielerorts einschlägige Graffitis, könnte man vielleicht vergessen, warum wir eigentlich hier sind. Es ist nicht der gewohnte Inselurlaub, der mich und meine Kolleg*innen nach Lesbos führt. Wir wollen hier neue Erkenntnisse über die medizinischen Bedürfnisse und Schwierigkeiten von Migrant*innen und Geflüchteten gewinnen. Ausserdem wollen wir die verschiedenen Akteure vor Ort kennenlernen und uns mit ihnen vernetzen. Wir besuchen das Camp als Gruppe, es liegt ca. 15 Minuten mit dem Bus von der Hauptstadt Mytilini entfernt. Irgendwo im Nirgendwo, direkt an der Küste. Alles wirkt sehr ordentlich. Container stehen neben grossen Zelten, neben sonstiger Infrastruktur. Durchdringende Anonymität. Alles ist vereinheitlicht. 

Die Polizei ist im Camp präsent, ebenso die Frontex und einige internationale Organisationen. Viele Kinder rennen herum, Frauen waschen Wäsche an den Brunnen, die Menschen tragen Kleidung verschiedenster Mode. Das Ganze sieht aus wie ein kleines Dorf mit einer sehr gemischten Bevölkerung. Die Sonne scheint, das Camp ist umgeben vom Meer, das uns blau glitzernd entgegenstrahlt. Soweit der Schein. 
 

Alles wirkt sehr ordentlich. Container stehen neben grossen Zelten, neben sonstiger Infrastruktur. Durchdringende Anonymität. Alles ist vereinheitlicht.

Lynn Huber
Lynn Huber Hebamme und Gründerin von ONEDU

Eine Flucht mit Hindernissen

Im neuen Camp, das nach dem Brand von Moria im Jahr 2020 errichtet worden ist, leben derzeit 5000 Menschen (Stand Oktober 2023). Bis Anfang November werden es insgesamt 10‘286 Personen sein, die mit Booten aus der Türkei auf die Insel kommen. Die Zeltkapazitäten könnten noch erweitert werden. Aber die Versorgung der Menschen ist schon jetzt am Limit. Es ist das Hauptcamp auf der Insel, fast alle kommen hierher. Sie steigen in der Türkei in Schlepperboote und machen die Überfahrt. Sie ist kurz – man sieht die Türkei am Horizont, das Land ist gerade mal 1,5 Stunden Luftlinie entfernt. Aber die Überfahrt endet für viele tödlich, wenn die Boote überfüllt und die See stürmisch ist. Hat man es an Land geschafft, den Angriff der lokalen Neonazis überlebt, wird man registriert und ins Camp gebracht. Offiziell dauert die Prüfung des Antrags dann 30 Tage, legt man Rekurs gegen die Ablehnung ein, etwas länger. Und jetzt kommt der Haken: Griechenland hat die Türkei 2021 für fünf der häufigsten Nationalitäten der Geflüchteten als sicheren Drittstaat erklärt. Das bedeutet, dass alle, die über die Türkei nach Griechenland gekommen sind, wieder zurück und die Asylanträge von der Türkei geprüft werden müssen. Die Türkei nimmt die Menschen aber nicht zurück. So bleibt ein Grossteil von ihnen ohne Aufenthaltsstatus auf Lesbos «hängen». Daraus ergeben sich Biografien des Wartens, ein Leben, geprägt von Frustration und Langeweile, Kinder ohne Schulbildung, Kranke ohne medizinische Versorgung.

Gesundheitsversorgung ist politisch

Die EU finanziert das Camp, Griechenland muss es betreiben. Es herrscht ein Hin und Her zwischen den Zuständigkeiten des griechischen Staates, der NGOs und der EU. Die Insel ist eine wichtige EU-Aussengrenze und nimmt einen Grossteil der Geflüchteten auf, die über die Türkei kommen. Ich frage mich, warum das Camp und vor allem die Verteilung der Menschen auf andere europäische Staaten nicht von der EU geregelt wird. Aber das ist politisch. Wie so oft geht es nicht um die effizienteste, geschweige denn die menschlichste Lösung, es geht um Politik. Und so ist auch die Gesundheitsversorgung keine neutrale Sache. Wer sie wann und wie in Anspruch nehmen kann, ist politisch, und wer und wie darüber entscheidet, ist es auch.

Das Camp verfügt über eine eigene kleine medizinische Station. Es gibt auch lokale Hebammen. Ihr Arbeitsraum ist ausgestattet mit einer Liege, einem kleinen Ultraschall und einem CTG-Gerät. Sie machen die normalen Kontrollen für alle. Sie haben vorher im lokalen Krankenhaus gearbeitet und es gibt keine NGOs mehr für Sexuelle und Reproduktive Gesundheit im Camp. Es gebe nicht so viele Schwangere mit Komplikationen, sagen sie. Wenn dann doch, würden sie im Krankenhaus untersucht. Dieser Aussage widerspricht eine Hebamme, die für eine NGO ausserhalb arbeitet.

Es herrscht ein Hin und her zwischen den Zuständigkeiten des griechischen Staates, der NGOs und der EU.

Lynn Huber
Lynn Huber Hebamme und Gründerin von ONEDU

Widersprüchliche Aussagen gibt es hier viele. Abends versuchen wir gemeinsam in der Gruppe, die kleinen Teile dieses grossen Mosaiks zusammenzufügen. Wir, die Gruppe, die hergekommen ist, um etwas zu lernen. Wir sind wie Schwämme, die Eindrücke aufsaugen und dann gemeinsam verarbeiten. Wir diskutieren viel, besprechen unsere Einblicke, wechseln Perspektiven. 

Wir hören die offiziellen Seiten der Campleitung und der grossen Organisationen, die an die Versorgung beteiligt  sind. Wir hören die Aussagen der NGOs, der Dolmetscher*innen, der Gesundheitsfachpersonen. Alle haben ihre offizielle und inoffizielle Sicht der Dinge und «vieles ist nicht so, wie es scheint».  Einen Teil des Kurses absolvieren wir zusammen mit den Studierenden des Master-Studiengangs Global Health der Universität Athen. Es ist bereichernd, die griechische Perspektive so noch mehr zu verstehen. Aber es ist auch ernüchternd – wie kann eine Pflegekraft mit 900 Euro Lohn über die Runden kommen? Es macht mir wieder bewusst: Auch Griechenland ist nicht frei von Problemen und die Aufgabe als «Grenzpolizei für Europa» zu fungieren, ist mit dem ohnehin schon überlasteten Gesundheitssystem schwierig.

Berührungspunkt Schwangerschaft

Immer wieder kommen mir Familien mit Kindern entgegen, die die viel befahrenen Strassen entlang gehen. Gruppen junger Männer in Fussballtrikots raufen sich ausgelassen, einzelne Migrant*innen fischen am Hafen, Männer gehen eng umschlungen mit Mappen voller Papiere. Viele warten. Ich versuche, ihre Sprachen zu erraten. Denn auf der Insel hört man zahlreiche: Von Arabisch über Amharisch bis Tigrinisch. Von Somali über Dari bis Farsi und Urdu. Dann wieder Französisch und Englisch, türkische und kurdische Sprachfetzen.  Und immer wieder Griechisch mit allen möglichen Akzenten. 

Ich bin berührt und fasziniert von den vielen Gruppen junger Frauen, die gemeinsam unterwegs sind. Ich erinnere mich an die Zeit, als ich und meine Freundinnen 18 bis 20 Jahre alt waren. Wie hätten wir das hier gemacht? Zusammen losziehen und dann…?

Lynn Huber, Hebamme und Sozialanthropolgin

Lynn Huber, Hebamme und Gründerin von ONEDU

Mitgründerin von ONEDU

Lynn Huber arbeitet aktuell an der Berner Fachhochschule BFH als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschung des Fachbereichs Geburtshilfe. 

Zusammen mit Patricia Frei hat sie die Online-Bildungsplattform ONEDU gegründet. Das Midwife Refugee Kit, ihr erster Kurs, ist ein selbstreflexives eLearning für Gesundheitsfachpersonen die mit geflüchteten Familien arbeiten. Es wird an der BFH als Wahlmodul im BSc und Msc Hebamme angeboten und ist vom Schweizer Hebammenverband zertifiziert. Mit Hilfe der Finanzierung des BRIDGE Proof of Concept Funds des SNF und der Innosuisse entwickelt sie aktuell mit den Hebammen Laura Widmer und Patricia Frei  einen video-basierten Geburtsvorbereitungskurs für Menschen mit Migrationsgeschichte, der in 16 Sprachen synchronisiert ist.

Ziel von ONEDU ist es, Gesundheitsfachpersonen für Rassismus und Ungleichheit in der Gesundheitsversorgung zu sensibilisieren und durch Bildung Zugänge und Austausch zu verbessern. 

Anderes Land, gleiche Situation?

NGO-Mitarbeiter*innen und Betroffene berichten von Spitalchaos wegen Überbelegung, von Ärger über versäumte Termine, von Mangel an Übersetzungen. Von falsch indizierten primären Sectios bei Frauen wegen Beschneidung und von abwesenden Partnern. Von Sprachbarrieren, die dazu führen, dass Eltern sich nicht von totgeborenen Kindern verabschieden können. Von nicht durchgeführten HIV-Kontrollen und erschwertem Zugang zu Abtreibung und Verhütung. Von fehlender Sensibilisierung für den Umgang mit Frauen die sexualisierte Gewalt erlebt haben und von wenig Verständnis für die Lebensumstände, in denen sich die Familien befinden oder aus denen sie kommen. 

Umso wichtiger ist es, dass wir uns als Gesundheitsfachpersonen in politischen Themen weiterbilden und uns u.a. für mehr für mehr gesundheitliche Chancengleichheit einsetzen.

Lynn Huber
Lynn Huber Hebamme und Gründerin von ONEDU

Aber Moment, war das jetzt auf Lesbos oder in der Schweiz? Ich fühle mich zurückversetzt in unser Land, wo wir mit den gleichen Problemen kämpfen. Und auch auf Lesbos stelle ich fest, dass bei den lokalen und internationalen Gesundheitsfachpersonen, die unter solch erschwerten Bedingungen arbeiten, wenig in ein nachhaltiges Arbeitsklima investiert wird. Spezifische Weiterbildungen fehlen ebenso wie Coaching, Intervision und psychologische Unterstützung. 

Aber auch hier geht es nicht um die effizienteste oder menschlichste Lösung. Die Gesundheitsversorgung ist politisch. Umso wichtiger ist es, dass wir uns als Gesundheitsfachpersonen in politischen Themen weiterbilden und uns u. a. für mehr für mehr Health Equity, also gesundheitliche Chancengleichheit, engagieren. Hierfür braucht es unter anderem solche Treffen, bei denen Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt gemeinsam lernen und reflektieren und mit neuen Inputs in ihre Länder zurückkehren. Das mache ich nach 10 Tagen mit schwerem Herzen, aber auch um viele Erkenntnisse reicher, um als Hebamme einen besseren Weg einzuschlagen. 

Besten Dank an die Organisation Now You See Me Moria, für die Erlaubnis, die Fotos zu verwenden. 

 

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