«In der Sorgekrise das Ermutigende sehen» – Wie die BFH Wirkung erzielt

06.05.2024 Die BFH bündelt ihre vielfältigen Kompetenzen seit rund einem Jahr entlang strategischer Themenfelder. Eines davon ist die Caring Society, die sorgende Gesellschaft. Erfahren Sie, was es mit diesem Begriff auf sich hat, wo die Soziale Arbeit eine Rolle übernimmt und ob die BFH mit ihrem Engagement schon Wirkung erzielt.

Dr. Carolin Fischer hat in Berlin, Bielefeld und Oxford studiert und leitet seit rund einem Jahr das strategische Themenfeld Caring Society der BFH.
Dr. Carolin Fischer hat in Berlin, Bielefeld und Oxford studiert und leitet seit rund einem Jahr das strategische Themenfeld Caring Society der BFH.

Was versteht die Berner Fachhochschule unter einer Caring Society?

Carolin Fischer: Der Begriff Caring Society beschreibt eine Gesellschaft, in der die Sorge um das körperliche, geistige und soziale Wohlergehen von Menschen ganz zentral ist. Es geht um die Sorge und Verantwortung für Menschen in sämtlichen Lebenslagen. Damit sind insbesondere Menschen in vulnerablen, marginalisierten Situationen gemeint, ihnen gilt innerhalb des Themenfelds eine besondere Aufmerksamkeit – dies hat sich auch bei der Förderung von Projekten in diesem ersten Jahr gezeigt. Diese Sorge umeinander setzt Solidarität und Inklusion voraus. Sie hat also individuelle und systemische Dimensionen. Hier schliesst die BFH mit ihren verschiedenen Departementen an. 

Mir ist wichtig, dass unser Verständnis der Caring Society breit ist. Es stützt sich unter anderem auf Beiträge der feministischen Sozialforschung der 1980er- und 1990er-Jahre. Care steht für die menschliche Sorge um- und füreinander. Diese ist gleichermassen lebensstiftend und lebenserhaltend. Care bezeichnet sowohl ein universelles, menschliches Bedürfnis als auch bestimmte Formen von Aufmerksamkeit, Empathie und Verantwortungsbewusstsein.

Wie kann das Thema für die BFH sinnvoll eingegrenzt werden?

Die Eingrenzung muss in Bezug auf ihre Departemente und Kompetenzbereiche erfolgen. Nur so kann die BFH Glaubwürdiges zur Debatte beitragen. Aus diesem Grund haben wir fünf Schwerpunkte für das Themenfeld definiert: Generationen und Alter, mentale Gesundheit und Wohlergehen, Care at Home, Caring Spaces – wobei wir Räumlichkeit im geographisch-physischen, sozialen und digitalen Sinne verstehen – sowie Soziale Gerechtigkeit, Diversity und Partizipation. Diese Schwerpunkte erlauben die Anschlussfähigkeit der unterschiedlichen Disziplinen innerhalb der BFH.

Was kann die gesellschaftliche Wirkung sein, wenn die BFH das strategische Ziel einer sorgenden Gesellschaft verfolgt?

Die wissenschaftliche und praxisorientierte Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Dimensionen, Erfordernissen und Potenzialen einer Caring Society soll vorankommen. Angesichts zahlreicher Krisen erleben wir, wie dringlich diese ist. Die Sorgekrise gibt es seit langem. Sie bezieht sich auf die Engpässe im Gesundheitssystem, doch das ist nur ein Aspekt. Hinzu kommt die routinemässige Ausbeutung von Sorgearbeit durch den Markt. Beispiele sind die fortgesetzte Inanspruchnahme unbezahlter Arbeit vor allem von Frauen im Haushalt oder die Ausbeutung unterbezahlter Pflegekräfte. Care-Arbeit hat sich mit den Care-Berufen zunehmend professionalisiert. Das hat mitunter die negative Folge, dass Fürsorge nicht für alle im gleichen Masse erreichbar ist, weil sie an finanzielle Hürden gebunden ist. Entsprechend ist es wichtig, wo immer möglich, die essenziellen und überlebensnotwendigen Aspekte von Care hervorzuheben. Wir dürfen nicht ignorieren, dass wir als Menschen alle auf Fürsorge angewiesen sind und dass dieses Angewiesensein uns auch verbindet. Es geht auch um das gesellschaftliche Miteinander in einem allgemeinen Sinn.

Die strategischen Themenfelder der BFH

Ihrem Zielbild folgend positioniert sich die BFH in den drängendsten Themen unserer Zeit: «Nachhaltige Entwicklung», «Humane Digitale Transformation» und «Caring Society». Dafür bündelt sie ihre vielfältigen Kompetenzen. Jeder Bereich der BFH leistet seinen wirkungsvollen Beitrag für einen verantwortungsvollen gesellschaftlichen Wandel.

Mehr erfahren 

Das Themenfeld Caring Society soll also Antworten auf eine bestehende Sorgekrise liefern?

Ja, genau. Wir befinden uns in vielerlei Hinsicht in einer gesellschaftlichen Schieflage. Dem will die BFH begegnen, indem sie Menschen und Projekte fördert, die Ansatzpunkte für Lösungen bieten. Die Erkenntnisse, die aufgrund der interdisziplinären Herangehensweise gewonnen werden, kann die BFH dann wiederum in den übergeordneten Diskurs einer sorgenden Gesellschaft einbetten und einbringen. Das hilft, die Entwicklung nicht nur negativ zu sehen, denn so rückt das Positive der Caring Society in den Vordergrund. Es ist freudvoll, das Miteinander fürsorglich und verantwortungsvoll zu gestalten. 

Lassen Sie uns auf die konkreten Projekte schauen. Wo hat die BFH schon angesetzt, um dieses Ziel zu erreichen?

Es gibt verschiedene Projekttypen: solche mit Forschungsfokus, andere mit Fokus auf die Lehre und nochmal andere mit dem Ziel der (inter-)nationalen Vernetzung. Der vierte Typus zielt auf den Dialog zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit ab. Im Kontext der Sozialen Arbeit ist etwa ein Projekt aus der Sparte öffentlicher Diskurs zu erwähnen, das in Zusammenhang mit der Public Health Palliative Care Conference steht, die im Oktober in Bern stattfinden wird. Das Institut Alter hat im Hinblick auf die Konferenz gemeinsam mit der Hochschule der Künste HKB einen Stadtrundgang entwickelt, der verschiedene Stationen rund um das Lebensende verbindet und veranschaulicht. Das Projekt geht den Fragen nach: Wie können wir kritische Lebensereignisse wie den Tod nahestehender Personen bewältigen, und wie können wir einander Wissen darüber und Erfahrungen damit zugänglich machen?
    Ein Projekt mit Forschungsfokus ist das Projekt Connect, in dem es um ältere Menschen in prekären Wohnsituationen geht. Das Projekt zielt darauf ab, diese Personengruppe sichtbar zu machen. Damit könnten Ansätze für begleitetes oder betreutes Wohnen für diese Zielgruppe entwickelt werden. In einem weiteren Projekt geht es um die Auseinandersetzung mit dem Wohlergehen von trans und nonbinären Menschen.
    Im Bereich Lehre wäre die Entwicklung eines CAS zu nennen, der sich der frühkindlichen Förderung annimmt und die Kreativität ganz junger Menschen ins Zentrum stellt.
    All diese Projekte werden aus dem Themenfeld mit finanzieller Unterstützung ins Rollen gebracht. Es arbeiten immer mehrere Departemente mit, was eine kreativere und ganzheitlichere Herangehensweise ermöglicht. So soll eine Caring Society auch anschlussfähig für Disziplinen sein, die sich nicht in erster Linie dem Thema Care verpflichtet fühlen. Die rege Beteiligung der Künste im Themenfeld etwa ist ein Gewinn, denn sie eröffnen ganz andere Zugänge zum Thema.

Wir dürfen nicht ignorieren, dass wir als Menschen alle auf Fürsorge angewiesen sind und dass 
dieses Angewiesensein uns auch verbindet

Dr. Carolin Fischer
Dr. Carolin Fischer Leitung Themenfeld Caring Society BFH

Was verändert dieser Blick auf die ganze Lebensspanne von der Kindheit bis zur Hochaltrigkeit und allem zwischendrin?

Es nimmt die ganze Thematik der Care aus der alleinigen, primären Verantwortung der Gesundheitsberufe heraus. Sie wird sozusagen auf die anderen Verantwortungsbereiche ausgedehnt. Durch die Öffnung für andere Wissenschafts- und Kompetenzbereiche kommt die Auseinandersetzung mit zum Beispiel der Gesundheitskrise auf eine andere gesellschaftliche Ebene. Das kann dazu beitragen, sie besser zu verstehen. Wir realisieren, dass diese Situation uns alle betrifft, dass wir alle von einem funktionierenden Gesundheitswesen profitieren. Der Begriff Caring Society kann so weit heruntergebrochen werden, dass er jeder einzelnen Person ein Handlungsfeld öffnet, sei es in der eigenen Familie, im Quartier, im beruflichen Umfeld oder auch im Rahmen grösserer Bewegungen. Wir brauchen das Bewusstsein, dass auch Menschen, die nicht in Sozialberufen sind, einen Riesenbeitrag leisten können. Eine Caring Society steht und fällt damit, dass wir uns für andere Menschen und deren Lebenslagen überhaupt erst interessieren.

Welche Rolle fällt der Sozialen Arbeit in der Caring Society zu?

Die professionelle Soziale Arbeit hat die Rolle eines professionellen Caregivers. Die Grundidee einer Caring Society lebt nun, wie erläutert, davon, dass alle mitmachen, weil dieses Thema alle betrifft und alle ihren Beitrag leisten können. Allerdings gibt es spezifische Bedürfnislagen bestimmter Gruppen, für die spezifisches Know-how nötig ist, das nur durch eine umfangreiche Ausbildung zustande kommen kann. Es braucht Kenntnisse über die Bedürfnisse in bestimmten sozialen Milieus und über bestimmte soziale Problemfelder. Und es braucht theoretische und praktische Ansätze, um diesen Bedürfnissen gerecht zu werden. Damit kommt der Sozialen Arbeit also auch in der Caring Society, in der idealerweise alle mitmachen, eine fundamentale Rolle zu.

Eine mögliche Wirkung wäre der soziale Zusammenhalt, der gestärkt wird. Wie könnte sich dieser manifestieren und wie kann man ihn messen?

Das kann sich ganz vielfältig zeigen. Das kann lokal sein, etwa in Form eines regeren Zusammenlebens im Quartier. Im Projekt «Social Kitchen», das im Bereich Diätetik umgesetzt wurde, ging es zum Beispiel darum, verschiedene Generationen rund um das Thema Kochen und Ernährung zusammenzubringen. Das Projekt «Vielfältiges Quartier für alle» entwickelt künstlerische und diversitätsreflektierte Interventionen mit dem Ziel, nachbarschaftliches Zusammenleben zu stärken und inklusive, sorgende Entwicklungen im Wohnumfeld zu fördern. 
    Sie fragen nach der Messbarkeit. Der Erfolg lässt sich am Zustand von Personen messen. Welchen Mehrwert erleben sie in ihrem Alltag? Inwiefern erleben sie eine Steigerung ihrer Autonomie, Handlungsfähigkeiten oder auch des psychischen und physischen Wohlergehens? Das wären erste Anhaltspunkte. Aber es geht ja nicht nur um die Betroffenen selbst. Geht es uns allen besser, wenn wir die Gewissheit haben, dass man sich um andere Menschen und wenn nötig auch um uns kümmert, wenn das vonnöten ist? Das wird schwer quantifizierbar sein, es kommt stark auf das Qualitative an. Das ist nicht von heute auf morgen umgesetzt, weil es ein Prozess ist, der schrittweise erfolgt. Doch es bewegt sich etwas, wenn wir die Debatte und konkrete Initiativen in verschiedenen Handlungsfeldern lancieren und sie dann unter dem thematischen Dach der Caring Society zusammenführen.

Was motiviert Sie persönlich, sich für das Thema einzusetzen?

Was ich am Themenfeld sehr schön finde, ist das Ermutigende. Das Themenfeld bietet einen grossen Spielraum. Mit ihren verschiedenartigen Projekten ermöglicht die BFH kleine Schritte hin zu einer Caring Society. Mein Ziel ist es, dass diese in ihrer Gesamtheit letztlich grössere Schritte in diese Richtung anstossen. 

Themenfeld Caring Society

Im Themenfeld Caring Society richten wir den Blick auf die Zusammenhänge zwischen Gesundheit, Lebensgestaltung und sozialen Lebenslagen. Die Lebensqualität und Gesundheit von Menschen jeden Alters zu fördern, ist das Ziel einer sorgenden, inklusiven Gesellschaft.

Weiterführende Informationen