Wie Rassismus im Hochschulkontext hör- und besprechbar wird

20.03.2024 Rassismus wahrnehmen, darüber sprechen und die eigenen Verstrickungen darin gezielt reflektieren: Professionell mit Rassismuskritik umzugehen, will gelernt sein. Die BFH hat sich mit dem Projekt «Empowerment und Verlernen von Rassismus» auf diesen Weg gemacht. Nun ziehen die Projektmitarbeitenden Bilanz.

Foto: Bild von Studierenden der Sozialen Arbeit BFH

In der letzten obligatorischen Coaching-Sitzung mit einer rassifizierten Studierenden sprachen wir über das Studium und das bevorstehende Praktikum. Plötzlich zögerte sie, verstummte, schwieg. Nach einer langen Pause sagte sie: «Ich habe Angst, im Praktikum Rassismus zu erleben.» Daraufhin berichtete sie ausführlich von bisherigen Rassismus-Erfahrungen und was es bedeutet, als rassifizierte Person an einer Hochschule zu studieren, an der Rassismus kaum thematisiert wird, an der die meisten Studierenden und alle Lehrpersonen weiss sind. 

Wie kann es sein, dass ich bisher so blind war für die gelebte Realität und die Befürchtungen dieser Studentin?

Stefanie Duttweiler
Stefanie Duttweiler Dozentin im Bachelor Soziale Arbeit

Das Gespräch hat mich, Stefanie Duttweiler, sehr bewegt. Wie kann es sein, dass ich bisher so blind war für die gelebte Realität und die Befürchtungen dieser Studentin? Wie kann es sein, dass diese Studentin erst nach nahezu drei Jahren Coaching über ihre Erfahrungen sprechen kann? 

Ich (und andere Lehrpersonen und Studierende) haben die strukturellen Hürden nicht erkannt und so wahrscheinlich zum Schweigen, (un-)bewussten Zurückhalten, Nicht-Erzählen von Zugestossenem, von Erfahrungen und Gefühlen der Studentin beigetragen. Wurde sie also unbewusst zu einem «testimonial smothering» (Dotson, 2011, zitiert nach Heinemann & Keser, 2021) angeregt, um die Beziehungen zu Lehrpersonen und Mitstudierenden nicht zu belasten? ( «Testimonial smothering» bezeichnet den Umstand, dass ein Mensch seine Erfahrung nicht zur Sprache bringt, weil er mit abwehrenden Reaktionen des Gegenübers rechnet, Anm. d. Red.).

Das Gespräch zeugte aber auch von der Möglichkeit des Auf-Hörens. Die Pause, die im Gespräch zwischen der Studentin und mir entstand, öffnete einen anderen Raum – auch innerhalb des bestehenden hierarchischen Gefüges. «Listening is, in this sense, the act of authorization toward the speaker. One can (only) speak when one’s voice is listened to» (Kilomba, 2010: 21f). Anders gesagt: Es ist möglich, dass das routinisierte Sprechen ins Stocken gerät und das Schweigen über Rassismus aufbricht, sofern es auf ein öffnendes Hören trifft. Die Menschen, die Rassismus erfahren, drücken das schon immer aus, nur hören wir es nicht.

Ein Projekt mit doppelter Ausrichtung

Doch warum ist es für Nicht-Direktbetroffene so schwer, Rassismus wahrzunehmen? Warum werden die Erfahrungen rassifizierter Studierender zum Schweigen gebracht? Das wirft Fragen auf, die auch für die Soziale Arbeit zentral sind, an den institutionellen Kontext (der weisse, stark hierarchisierte Raum), an das Setting Coaching (die*der weisse Coach/Sozialarbeitende) und an die persönliche Sensibilität der beratenden Person.

Diese Fragen wurden zum Ausgangspunkt des Projekts «Empowerment und Verlernen von Rassismus – ein exemplarischer Lernprozess für die Hochschule» (Laufzeit 2021 bis 2023), das vom Verein swissuniversities gefördert wurde. Es beinhaltete einen «Verlernraum» für weisse Lehrpersonen sowie ein Empowerment-Gefäss für rassifizierte Studierende. Hinter dieser doppelten Ausrichtung stand die Einsicht, dass das Wahrnehmen von Rassismus, das Sprechen darüber und die gezielte Reflexion auf die eigenen Verstrickungen einen Teil der Professionalität von Lehrpersonen und (zukünftigen) Praktiker*in­nen Sozialer Arbeit darstellt. 

Im Projekt wurde dies sowohl auf Seiten der Lehrpersonen als auch der Studierenden versucht.

Unsicherheit im Umgang mit Rassismus ist nicht das Problem, sondern der Versuch sie zu vermeiden. Schnell ein korrektes Wort über die Gefühle zu kleistern, schlägt keine Brücke, sondern macht das Gegenteil.

Tzegha Kibrom
Tzegha Kibrom Expertin für Rassismuskritik und Dekolonialisierung

Verlernen

Im Verlernraum für Lehrende trafen sich zwölf weisse Lehrpersonen des Departements Soziale Arbeit über anderthalb Jahre einmal monatlich mit Coach und Antirassismusexpertin Tzegha Kibrom, die uns mit Inputs, Fragen und dem Teilen eigener Erfahrungen durch einen intensiven Prozess begleitete. Dazu gehörte auch die Auseinandersetzung mit den eigenen rassistischen Bildern, Verhaltensweisen und Impulsen. Dies wahrzunehmen, erwies sich als ausgesprochen herausfordernd. Rassismus ist immer noch ein Tabuthema – insbesondere, wenn man als weisse Lehrperson und weisse*r Sozialarbeiter*in mannigfaltige Privilegien geniesst (auch wenn sie wie Selbstverständlichkeiten erscheinen), wenn man den Habitus einer Wissenden erworben hat und sich auf der Seite der Guten wähnt.

Verlernen setzt hier an und erfordert «ein aktives, kritisches Denken und Handeln, welches bereit dazu ist, das Risiko einzugehen, die eigene Position zu hinterfragen» (Castro Varela, 2017). Es geht also darum, den Selbstverständlichkeiten des eigenen Handelns, der eigenen Deutungs- und Erfahrungszusammenhänge und der eigenen Privilegien auf die Spur zu kommen. Die Expertin Kibrom formuliert es so: «Ich glaube, um etwas loslassen zu können, muss man erst mal verstehen, an was man haftet, an was man sich hält. Denn nur das, was einem bewusst ist, kann einen nicht mehr so beherrschen und nicht mehr so kontrollieren» (Kibrom & Duttweiler, 2022, S. 3). 

«Verlernen» erweist sich als ein anspruchsvolles Programm. So wurde gleich zu Beginn die grosse Verunsicherung spürbar, die ein solcher Prozess mit sich bringt. Für Kibrom war es daher wichtig, dass wir diese Gefühle der Verunsicherungen wahrnahmen. Mehr noch: Dass wir – bei aller Empathie – erkennen, dass es eine unüberbrückbare Kluft der Erfahrungen gibt. «Die Unsicherheit an sich ist eigentlich nicht das Problem, sondern eher der Versuch, sie zu vermeiden. […] dass wir diese Gefühle übertünchen; dass wir immer wieder versuchen, diese Gefühle unter den Teppich zu kehren; dass wir versuchen, schnell ein korrektes Wort drüber zu kleistern und glauben, dann aus dem Schneider zu sein. Aber das schlägt keine Brücke, sondern macht genau das Gegenteil» (Kibrom & Duttweiler, 2022, S. 5).

Während des Prozesses wurde immer wieder deutlich, wie viel Zeit und Vertrauen ein solcher Prozess verlangt, um das zu thematisieren, was anliegt, und die eigenen Emotionen und Verunsicherungen anzusprechen. Es braucht Selbstverantwortung, um sich auf den Weg der persönlichen Veränderung – und der Veränderungen in der Institution – zu machen, sowie die Sicherheit einer Gruppe und die begleitende Sorgfalt einer erfahrenden und erfahrenen Moderatorin.

Ein wichtiger Punkt für die Praxis Sozialer Arbeit ist meiner Ansicht nach, dass ein Bewusstsein dafür geschaffen wird, dass die Auseinandersetzung mit Rassismus zu einer professionellen Haltung gehört.

Rahel Meteku
Rahel Meteku Mitglied des Projektteams, Studentin

Empowern

Der Empowerment-Raum für rassifizierte Studierende wurde von Gina Buonopane und Rahel Meteku eröffnet. Im Verlaufe des Prozesses entstand daraus die Gruppe RASA (rassismuskritische Soziale Arbeit), die neben zahlreichen Gruppentreffen zum Austausch auch verschiedene Veranstaltungen für Studierende durchgeführt und eine Ausstellung zum Thema Rassismus an der Hochschule erarbeitet hat (zur Vertiefung vgl. impuls 1/23). 

«Das Vernetzen und der Austausch mit anderen rassifizierten Student*innen ist extrem wertvoll, um ins Handeln hinein und aus der Ohnmacht hinauszukommen», sagt Projektmitglied Gina Buonopane. «Ich habe das Gefühl, wir haben wahnsinnig viel Energie aus der gemeinsamen Wut und anderen Emotionen schöpfen können. Gleichzeitig stellt es sich als besonders schwierig heraus, im weissen Raum der Hochschule und den damit einhergehenden Strukturen aktiv zu werden. Wir hätten zum Beispiel sehr gerne einmal mit einer rassifizierten Dozierenden gesprochen, aber wo sind diese Personen?»

Kollegin Rahel Meteku ergänzt: «Ein wichtiger Punkt für die Praxis Sozialer Arbeit ist meiner Ansicht nach, dass ein Bewusstsein dafür geschaffen wird, dass die Auseinandersetzung mit Rassismus zu einer professionellen Haltung gehört. Meine Erfahrung zeigt, dass Sozialarbeiter*innen, die in der Praxis Rassismus ansprechen, oft als sensibel, unprofessionell oder mit ideologischen Werten behaftet abgestempelt werden. Daher wäre es hilfreich für die Praxis, wenn das Thema Rassismus an der Hochschule offensiver angegangen und nicht tabuisiert wird.» 

Weitere Informationen zum Projekt

Im Hochschulkontext werden weder die eigenen Erfahrungen mit rassistischen Ausgrenzungsdynamiken noch der strukturelle und institutionelle Rassismus genügend reflektiert. Das Entwicklungsprojekt schafft dazu Lernräume für Studierende of Color und für Lehrende. Es wurde von swissuniversities gefördert.

Weiterführende Informationen

Veränderungen anstossen – und wachsam bleiben

Auch wenn strukturelle Veränderungen der Hochschule herausfordernd sind, hat das Projekt Veränderungen angestossen. So besteht RASA nach Projektende weiter und setzt sich nun auch aus ehemaligen Studierenden zusammen. Zudem wird einmal pro Semester der Austausch zwischen Studierenden und Lehrpersonen weitergeführt. Auch ist das Thema Rassismus nun stärker und differenzierter im Curriculum verankert: Es wird in Einheiten im obligatorischen Grundstudium und in Vertiefungs- und Spezialmodulen aufgegriffen. Zudem werden diverse kleinere Formate der internen Weiterbildung in Lehre und Coaching genutzt, die Themen rassismuskritische Lehre und rassismussensibles Coaching zu diskutieren und in Fallbesprechungen zu konkretisieren. Darüber hinaus wird das Projekt in angepasster Form für alle Mitarbeitenden aller Departemente der BFH angeboten. Nicht zuletzt konnten wir unseren Ansatz bei verschiedenen Institutionen vorstellen, zum Beispiel an einer Tagung mit zahlreichen Diversity-Beauftragten und anderen Interessierten von Schweizer Hochschulen und nicht-akademischen Institutionen. 

Fazit

Wir erhoffen uns von all diesen Veränderungen nachhaltige Effekte. Dabei gilt es zu bedenken, was uns die Expertin Kibrom mit auf den Weg gegeben hat: «Massnahmen an der Hochschule als Ziel zu haben, ist wichtig, damit sich Strukturen verändern – aber wenn sich darunter die Haltung nicht verändert hat, werden wir das gleiche reproduzieren, allenfalls unter einem Deckmäntelchen. Für mich ist es daher wichtig, zu formulieren: Schlimmer als keine sind schlechte oder oberflächliche Diversity-Massnahmen. Denn dann ist es ganz klar whitewashing, auch wenn die Intention vielleicht eine andere ist.» 

Ob sich diese Haltung schon ausreichend verändert hat? Noch nicht genug, meint Projektmitglied Rahel Meteku, denn «es erfordert Energie, innerhalb eines Moduls oder eines Beratungsgesprächs an der Hochschule das Wort zu ergreifen, wenn von Dozierenden oder Studierenden rassistische Inhalte produziert werden – besonders in Situationen, in denen man nicht auf die Unterstützung anderer rassifizierter Personen oder weisser Allies zählen kann. In den Situationen, in denen ich auf rassistische Inhalte aufmerksam gemacht habe, musste ich damit rechnen, dass mein Gegenüber mit Abwehr reagiert. Deshalb äusserte ich mich mit Bedacht, doch dieses ständige Abwägen ist anstrengend.»

Massnahmen an der Hochschule als Ziel zu haben, ist wichtig, damit sich Strukturen verändern – aber wenn sich darunter die Haltung nicht verändert hat, werden wir das gleiche reproduzieren, allenfalls unter einem Deckmäntelchen.

Tzegha Kibrom
Tzegha Kibrom Expertin für Rassismuskritik und Dekolonialiserung

Literaturhinweise

Empowerment und Verlernen von Rassismus

Dieser Artikel ist erstmals im Printmagazin «impuls» erschienen.

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