Arbeitsintegration in Europa: Die Reise geht weiter

03.07.2023 Matthias von Bergen besucht im Rahmen seines Forschungsurlaubs Organisationen und Projekte «guter Praxis» in Europa, bei denen die Integration und Inklusion von Menschen mit Behinderungen im Bereich Arbeit im Zentrum steht. Nach seiner Reise durch Katalonien, die Niederlanden und Belgien, stellen wir nun Projekte aus Österreich, Finnland und Deutschland vor.

Leistungserbringer LebensGross, Graz (Österreich)

Alle Menschen haben ein Anrecht auf eine sinnvolle Tätigkeit, die ihnen entspricht. Das ist der Grundsatz von LebensGross in Graz. Angebote, die dies konsequent umsetzen, sind «Step by Step» sowie «Teilhabe an der Arbeitswelt» (TaB). Im Rahmen von Step by Step wird individuell eine Arbeitsstelle bei einer externen Unternehmung für eine Person mit einer Behinderung gesucht. Die Anstellung erfolgt über LebensGross, die auch den branchenüblichen Lohn (Tariflohn) übernimmt. Das Land Steiermark beteiligt sich an den Kosten. Ziel ist, dass die Person von der externen Unternehmung übernommen wird.

Job-Coaching im regulären Arbeitsmarkt der Stadt Helsinki (Finnland) 

In den grossen Gemeinden Finnlands sind in den letzten Jahren Dienste zur unterstützten Beschäftigung aufgebaut worden: Menschen mit Behinderungen werden in den regulären Arbeitsmarkt begleitet. Im Supported Employment Service der Stadt Helsinki arbeiten aktuell 13 Job-Coaches, die rund 250 Menschen mit einer Behinderung unterstützen, davon sind aktuell 150 in einer Stelle. Die Zuweisung erfolgt über die städtische Beratungsstelle für Menschen mit Behinderung. Die Teilnahme ist freiwillig. Vorab wird geklärt, welche Vorkenntnisse, Ausbildungen und Erfahrungen vorliegen. Begleitet vom Job-Coach wird eine Stelle in einem Betrieb des regulären Arbeitsmarkts gesucht. Nach einem erfolgreichen unbezahlten Praktikum stellt der Arbeitgebende die Person an und erhält im Gegenzug Lohnsubventionen durch den Staat, die bis 70% betragen können. Zusätzliche Sicherheit erfährt der Arbeitgebende durch den Job-Coach, der Praktikum und Anmeldung begleitet. Meistens, so die beiden Job-Coaches, mit denen ich sprechen konnte, seien die Arbeitgebenden beeindruckt von der Leistung der Teilnehmenden im Rahmen der Praktika. So komme vielfach ein Arbeitsvertrag zustande. Der Arbeitskräftemangel hilft, Stellen für Menschen mit Behinderungen zu finden. Sie arbeiten zum Beispiel in Küchen, in der Reinigung und als Helfer*innen in Spitälern und Pflegeeinrichtungen.

Interessant ist, dass die Rentenleistung während zwei Jahren nach Stellenantritt «pendent» gehalten werden kann. Falls der oder die Arbeitnehmer*in innerhalb von zwei Jahren den regulären Arbeitsmarkt wieder verlassen und an einen geschützten Arbeitsplatz zurückkehren will, muss sie keinen neuen «IV-Antrag» stellen.

Ein Kanal in den regulären Arbeitsmarkt - die «Arbeitskanal AG» in Finnland

Die Työkanava Oy, am ehesten mit «Arbeitskanal AG» zu übersetzen, ist ein Projekt der sozialdemokratischen Regierung von Sanna Marin und seit dem Sommer 2022 operativ. Työkanava Oy versteht sich als Unternehmen und nicht als soziales Angebot. Die Firma gehört zu 100 Prozent dem finnischen Staat. Vorbild ist die staatliche Samhall-Organisation in Schweden. Samhall ist einer der grössten Arbeitgeber in Schweden mit rund 600 Standorten. Im Unterschied zum schwedischen Modell führt die finnische «Arbeitskanal AG» keine eigenen Betriebe. Der Arbeitseinsatz erfolgt in Partnerbetrieben des regulären Arbeitsmarkts. Anvisiert werden vor allem Betriebe in Branchen wie Reinigung, Immobilienunterhalt und Hilfsdienste im Gesundheitsbereich. Ziel ist es zu zeigen, dass Inklusion funktioniert. 

Zielgruppe sind Menschen mit Behinderung, die eine Rente oder eine Teilrente erhalten und arbeiten möchten sowie können. Die Zuweisung erfolgt über die Arbeitsämter. Die Anstellung erfolgt direkt durch Työkanava, welche die Mitarbeitenden den externen Partnerfirmen «ausleiht». Die Mitarbeitenden erhalten einen normalen Lohn, die Partnerunternehmen zahlen einen reduzierten Stundensatz, abhängig von der Leistungsfähigkeit der Mitarbeitenden. Der Fehlbetrag von rund zwei Dritteln wird durch den Staat gedeckt. Die Mitarbeitenden und die Firmen werden jeweils durch ein Tandem von Työkanava begleitet: je eine Person für die Mitarbeitenden und eine für die Firmen. Aktuell ist die «Arbeitskanal AG» noch in der Aufbauphase. Angestrebt wird, so längerfristig 1000 bis 2000 Stellen im regulären Arbeitsmarkt anbieten zu können.

Unicus Finland – ein Personalverleiher für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen 

Unternehmen des Informatiksektor suchen verzweifelt nach Arbeitskräften. Gleichzeitig finden viele Menschen, die von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) betroffen sind, keine Arbeit. Hier setzt die Firma Unicus an. Sie spricht Personen an, die von Autismus betroffen sind und Erfahrung oder zumindest Interesse an IT haben, bietet ihnen eine bis zu sechsmonatige Grundausbildung und stellt sie dann als «Consultants» direkt an. Unicus verfügt über ein breites Netzwerk an Unternehmen, die IT-Projekte realisieren. Diesen stellt Unicus – im Sinn eines Personalverleihs - Mitarbeitende für ihre Projekte zur Verfügung. Oft dauern die Verträge drei bis vier Monate, teilweise mehrere Jahre. Manchmal ergeben sich aus den Mandaten der Consultants auch Anstellungen durch die Kunden. 

Unicus wurde in Norwegen gegründet und arbeitet ebenfalls in Schweden, Finnland und den Niederlanden. Vorbild war die dänische Organisation «Specialisterne». Hinter Unicus steht eine norwegische Beteiligungsgesellschaft. Ziel ist nicht ein finanzieller Gewinn, sondern die Förderung der Teilhabe von Menschen, die von Autismus betroffen sind. 

Während in der Schweizer Diskussion meist die UN-Behindertenrechtskonvention, Wahlmöglichkeiten und Chancengleichheit betont werden, stehen etwa in den Niederlanden, Flandern und Finnland deutlicher die Bekämpfung des Arbeitskräftemangels und damit Konzepte des «aktivierenden Sozialstaates» im Zentrum.

Matthias von Bergen
Matthias von Bergen Dozent

Leben lernen, Berlin – Bildungsinstitut und Kiezladen

Leben lernen begleitet Personen mit schwerer oder schwerster Beeinträchtigung und hohem Unterstützungsbedarf. Es sind Menschen mit starken kommunikativen Barrieren, vor allem aufgrund kognitiver und psychischer Beeinträchtigungen. Schwerpunktmässig bieten sie Wohnen und Arbeit an. Es gibt eine Vielfalt von Angeboten in unterschiedlichen Settings.

Enterability – Beratung von Menschen mit Behinderung bei der beruflichen Selbständigkeit

Seit 2004 gibt es in Berlin eine Fachstelle, die Menschen mit einer Behinderung dabei unterstützt, am Arbeitsleben teilzuhaben, indem sie eine selbständige Tätigkeit aufbauen. Voraussetzung für die Beratung bei Enterability ist, einen Schwerbehindertenausweis zu haben und in Berlin wohnhaft zu sein. Zudem muss eine erste Projektidee für die Selbständigkeit vorliegen. Zunächst geht es darum abzuklären, ob ein Selbständigkeitsprojekt überhaupt realistisch ist. Hier brauche es, so der Geschäftsleiter Manfred Radermacher, eine offene und ehrliche Diskussion darüber, was Selbständigkeit im konkreten Fall überhaupt heisse. In der persönlichen Beratung würden die Einschränkungen offen thematisiert. Es gehe nicht um Träumereien, sondern um Geschäftspläne und Finanzen. Die Beratung ist sehr individuell und dauert zwischen sechs Wochen und zwölf Monaten. Ergänzend gibt es ein Kursangebot, das auf die konkreten Bedürfnisse der Teilnehmenden zugeschnitten ist: von Buchhaltung über Marketing bis zu steuerrechtlichen Fragen. Rund ein Drittel der Teilnehmenden gründet schliesslich auch eine eigene Einzelfirma. Darunter gibt es beispielsweise eine Kunstvermittlerin mit einer Sehbehinderung, einen Sweetstore-Betreiber, der mit zwei Beinprothesen läuft, einen jungen Mann, der ein Café für Hörende und Nicht-Hörende aufgemacht hat oder eine ehemals suchtkranke Frau, die heute als selbständige Rechtsberaterin unterwegs ist. Hauptgrund für die Selbständigkeit, so Radermacher, sei praktisch immer die höhere Flexibilität bezüglich der Gestaltung der Arbeitszeit.

Ursprünglich erfolgte die Finanzierung von Enterability über Projektmittel, seit einigen Jahren übernimmt das Integrationsamt des Landes Berlin die Kosten im Rahmen eines Leistungsvertrages. Die Mittel dazu kommen von Unternehmen, bzw. von der Ersatzabgabe, die diese in Deutschland bezahlen müssen, wenn sie die Quote an Beschäftigten mit einer Behinderung nicht einhalten. 

Resümee – was nehme ich mit?  

Von meiner Reise durch sechs europäische Länder bleiben mir spannende, anregende und berührende Begegnungen –mit Leitungspersonen und Mitarbeitenden ohne und mit Behinderung. Alle Gesprächspartner*innen haben mir ihre Türen geöffnet. Sie waren bereit, ihr Wissen und ihre Erfahrungen zu teilen und sich mit mir über aktuelle Entwicklungen und Perspektiven auszutauschen. Das ist nicht selbstverständlich: Ganz herzlichen Dank dafür!
Aus den Begegnungen ist ein Netzwerk von Projektverantwortlichen der sechs Länder entstanden, das ich gerne weiter pflegen möchte. Es freut mich, dass auch sie an den Ergebnissen meines Sabbaticals interessiert sind. Hier schon ein paar Punkte vorweg:

  • Teilhabe an der Arbeitswelt und insbesondere am regulären Arbeitsmarkt ist überall ein Thema. Interessant sind die Unterschiede: Während in der Schweizer Diskussion meist die UN-Behindertenkonvention, Wahlmöglichkeiten und Chancengleichheit betont werden, stehen etwa in den Niederlanden, Flandern und Finnland deutlicher die Bekämpfung des Arbeitskräftemangels und damit Konzepte des «aktivierenden Sozialstaates» im Zentrum. Ziel ist die Steigerung der Erwerbsquote und die Reduzierung der «inactivity trap», in der viele Menschen mit Beeinträchtigungen steckten. So werden zusätzliche öffentliche Mittel für die Arbeitsinklusion und -integration primär volkswirtschaftlich begründet.
  • In den besuchten Ländern besteht überall ein ergänzender Arbeitsmarkt («Werkstätten» resp. Integrationsbetriebe) weiter. Im Unterschied zur Schweiz werden jedoch vielfach branchenübliche Löhne bezahlt. Die Beiträge des Staates respektive der Sozialversicherung fokussieren sich auf Lohnzuschüsse, die in der Regel von der Leistungsfähigkeit der Mitarbeitenden abhängen und auch an Firmen im regulären Arbeitsmarkt bezahlt werden.
  • Besonders erfolgreich scheinen Modelle des Job-Coachings resp. der «unterstützten Beschäftigung» zu sein, wo Menschen mit Beeinträchtigung in den regulären Arbeitsmarkt begleitet und unterstützt werden. 
  • Perspektiven bietet auch die Förderung der Selbständigkeit von Menschen mit Behinderungen, die dabei unterstützt werden, ihre eigenen Arbeitsplätze zu schaffen. 
  • Inklusionsmodelle sind stark von den nationalen Entwicklungspfaden geprägt. Die Vielfalt der Ansätze, Projekte und Angebote, dich ich kennengelernt habe, hinter denen teilweise unterschiedliche Begriffe von Arbeit stehen, sind auch Ausdruck der jeweiligen Rahmenbedingungen (Zuständigkeiten, Strukturen und Finanzierungssysteme). Teilweise richten sie sich auch an unterschiedliche Zielgruppen. 

Ich schaue nun auf das Schweizer System und unsere Angebote mit etwas anderen Augen. Trotz der Unterscheide ergeben sich zahlreiche Impulse und Perspektiven, die auch für die Schweiz interessant sind. Die Erkenntnisse werden in meine Arbeit an der BFH einfliessen – im Sinn eines Wissenstransfers in der Lehre und in Forschungs- und Entwicklungsprojekte. 

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Fachgebiet: Management im Gesundheits- und Sozialwesen, Caring Society + Alter