Menschen mit Beeinträchtigungen im Arbeitsmarkt integrieren

08.05.2023 Wie machen das eigentlich andere Länder? Dieser Frage geht Dozent Matthias von Bergen seit März 2023 in seinem Forschungsurlaub nach. Der Spezialist für die Integration von Menschen mit Beeinträchtigungen besuchte innovative Organisationen in Europa. Mit uns teilt er seine Erkundigungen über Projekte, in die er während seines Forschungsurlaubs Einblick erhalten hat. Die Suche nach vorbildlichen Praxisbeispielen führte ihn auf seiner Reise nach Spanien, die Niederlande und Belgien.

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BFH-Dozent Matthias von Bergen (hinten 2. v.l.) mit Teilnehmenden im Projekt «Inclusivadora»

Puzzeln in Katalonien: Projekt Inclusivadora

Menschen, die mit einem Down-Syndrom leben, haben besondere Schwierigkeiten, am Arbeitsmarkt teilzuhaben – das ist nicht nur in Spanien so. Im Projekt «Inclusivadora» der Organisation Fundació Catalana Síndrome de Down FCSD werden Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung und ihre Angehörigen dabei unterstützt, eine eigene Geschäftsidee zu entwickeln und umzusetzen. 

Die Idee dabei ist, sich eine Arbeitsstelle nach eigenen Vorstellungen und Neigungen zu schaffen. So ist z.B. eine Gruppe aus fünf Personen (davon zwei Familienangehörige) dabei, eine «Discape Box» (Disability Escape Box) zu entwickeln. Diese soll Behinderung für Schulkinder mittels Virtual Reality erfahrbar machen. Dabei arbeitet die Gruppe mit einem professionellen Game-Entwickler und einer Schule zusammen.

Um die Finanzierung sicherzustellen, beteiligt sich die Projektgruppe an einer Ausschreibung für gemeinwohlorientierte Start-Ups, die aktuell von der Stiftung einer grossen Bank durchgeführt wird. In diesem Rahmen kann die Gruppe der Inclusivadora, wie alle Teilnehmenden der Ausschreibung, von der Unterstützung durch Expert*innen für Marketing, Finanzen etc. profitieren, die in Online-Workshops erfolgt.

Ich durfte bei einer Projektsitzung der Gruppe dabei sein. Dabei war eindrücklich zu sehen, mit welchem Engagement die Teilnehmenden dabei waren und welche kreativen Ideen dabei diskutiert wurden. Eine junge Frau aus der Gruppe meinte: «Mit einer kognitiven Behinderung zu leben fühlt sich an, wie wenn man ein Puzzle zusammensetzen soll und die Teile dazu nicht findet.» 

Katalonische Genüsse durch La Fageda 

Die sozial-wirtschaftliche Basisinitiative «La Fageda» in Santa Pau hat sich in den letzten 40 Jahren zu einem modernen Produktionsbetrieb für Joghurt, Glace und Konfitüre entwickelt. Man findet ihre Produkte in vielen Läden Kataloniens. Der Betrieb von La Fageda beschäftigt rund 350 Mitarbeitende. Davon sind ca. 60% Menschen aus der Region mit einer kognitiven oder einer psychischen Beeinträchtigung.  

Zum Betrieb gehören unter anderem Viehweiden und 150 Kühe, die einen Teil der nötigen Milch produzieren. Das Ziel des Betriebs ist, Menschen mit kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen aus der Region eine sinnvolle Arbeit und ein weitgehend normales Leben zu ermöglichen. Das Ergebnis, auf das sie stolz sind, sind hochwertige Produkte, die am Markt bestehen. 

Besonders interessant: La Fageda ist nicht nur Arbeitsstätte, sondern ein Ort der Teilhabe, auch für Menschen, die keiner Erwerbsarbeit (mehr) nachgehen: Viele ältere Mitarbeitende bleiben auch nach der Pensionierung. Im Nachbarort Lot verfügt die Stiftung zudem über Wohnungen, die sie an ihre Mitarbeitenden vermietet.

Ich konnte mich vor Ort mit Albert Rieare, Verantwortlicher Kommunikation, und dem Gründer Cristóbal Colón austauschen. Sie haben mir erzählt, wie die soziale Ausrichtung von La Fageda bewusst auch als Marketinginstrument eingesetzt wird. Aktuell steht insbesondere die Entwicklung des Netzwerks mit der lokalen Wirtschaft und die Erweiterung der Zielgruppe auf junge Erwachsene auf der Agenda.

Niederlande: Arbeit erleichtern mit inklusiven Technologien

Das Sozialunternehmen «Senzer» im niederländischen Helmond wird von sieben Gemeinden getragen. Ihr integriertes Angebot umfasst neben Arbeitsintegrationsangeboten für Menschen mit Distanz zum Arbeitsmarkt auch die kommunale Sozialhilfe und ein niederländisches Äquivalent unseres RAVs.

Ein Projekt von Senzer ist das Innovations-Lab. Dieses nutzt neue Technologien, um den Arbeitsplatz für Menschen mit Beeinträchtigungen bedürfnisgerecht anzupassen. So wurde etwa in Kooperation mit einer spezialisierten Firma ein «Operator-Support-System» entwickelt, das Anweisungen für komplexe Montagearbeiten Schritt für Schritt auf der Arbeitsfläche abbildet. So kann die Arbeit stark vereinfacht werden. 

Weitere Elemente von Senzer sind die Anpassung von Arbeitsabläufen und eine erleichterte Kommunikation (z.B. einfache Sprache, Visualisierungen), so dass auch Menschen mit einer Beeinträchtigung an einer angepassten Stelle eingesetzt werden können (so genanntes Job Design). Hier unterstützt Senzer Privatunternehmen bei der Planung und Umsetzung.  

Zurzeit sind diese Dienstleistungen sehr gefragt, da viele Firmen in den Niederlanden dringend nach Arbeitskräften suchen. Oder wie es mir Ton Janssen, Qualitätsingenieur bei Senzer, sagt: «Der Arbeitskräftemangel führt dazu, dass die Firmen der Privatwirtschaft sehr interessiert sind an der Anpassung von Arbeitsplätzen».

Belgien: Arbeitsplatzarchitekten 

Sterpunt Iclusief Ondernemen ist die Dachorganisation von 30 Non-Profit-Organisationen in Flandern, dem niederländisch sprechenden Teil Belgiens. Die «Werkplekarchitecten» (auf Deutsch: Arbeitplatzarchitekten) haben das Ziel, die Inklusion von Menschen mit Distanz zum Arbeitsmarkt zu fördern. Als solche zählen neben Menschen mit Behinderungen auch andere Personen, die aus den verschiedensten Gründen Mühe haben, auf dem Arbeitsmarkt Fuss zu fassen. 

Das Angebot umfasst insbesondere Beratungs- und Vermittlungsleistungen, so etwa die Abklärung, Beratung und Begleitung von betroffenen Personen und Unternehmen durch Job Coaches. Jüngst wurde auch ein spezielles Wiedereinstiegsprogramm entwickelt für Personen, die an Krebs erkrankt waren. 

Ein wichtiges Element bildet zudem die Sensibilisierung von Arbeitgebenden im regulären Arbeitsmarkt, wie mir Piet Lareu, Geschäftsleiter von Sterpunt Inclusief Ondernemen und Werkplekarchitekten, schildert. So vergibt die Dachorganisation ein Zertifikat für inklusive Unternehmen und alle zwei Jahre wird im Rahmen eines Events der «Inclusive Company Award» verliehen. So kombinieren die Arbeitsplatzarchitekten erfolgreich Projekt- und Lobbyarbeit.

Flandern: Individueel Maatwerk - Subjektfinanzierung im Bereich Arbeit

Wer in Flandern aufgrund einer Beeinträchtigung oder langdauernden Krankheit Anrecht auf Lohnsubventionen hatte, hatte bisher nur die Möglichkeit, in einem Integrationsbetrieb in geschützten oder angepassten Setting zu arbeiten. Ab Juni 2023 führt die Region Flandern zusätzlich ein neues Instrument ein, das «individueel Maatwerk». Dieses soll es Personen mit Einschränkungen erleichtern, eine Stelle auf dem regulären Arbeitsmarkt zu finden. 

Wer dieses Instrument wählt, bringt in seinem «Rucksack» eine Lohnsubvention und zusätzlich einen finanziellen Beitrag für die Begleitung oder das Coaching am Arbeitsplatz mit. Dies ermöglicht es Arbeitgebenden, ein internes Coaching zu finanzieren oder dies extern bei einer spezialisierten Fachorganisation einzukaufen. Das neue System ist das erste Modell der Subjektfinanzierung – also der finanziellen Unterstützung für Einzelpersonen – im Bereich Arbeit, das in Europa umgesetzt wird. Ein Projekt, dass wir an der BFH sicher weiterverfolgen werden, da auch unsere Studien zeigen, dass Subjektfinanzierung in anderen Bereichen ein erfolgreiches Modell ist.

Interessant ist insbesondere, dass das neue Modell mit der Bekämpfung des Arbeitskräftemangels begründet wird: damit sollen Personen, die heute nicht erwerbstätig sind, dank einer begleitenden Unterstützung ebenfalls am Arbeitsmarkt teilnehmen können. 

Mit einem Rucksack voller Eindrücke weiter nach Graz, Helsinki und Berlin

Vom ersten Teil meiner Reise bin ich nun mit meinem Rucksack voller Eindrücke und neuer Erfahrungen zurückgekehrt. Nun geht es weiter nach Graz, Helsinki und Berlin, wo mich weitere interessante Projekte und Institutionen erwarten. Mein Ziel: Inspirationen mitnehmen, damit wir Sozialunternehmen weiterhin am Puls der Zeit unterstützen können.

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