Digitalisierung in der Pflege: Pro und Kontra

20.12.2023 Es wird digitalisiert. Auch im Gesundheitswesen kommen immer mehr Daten, Sensoren, Applikationen und Interfaces zum Einsatz. Friederike J.S. Thilo forscht zum Thema und erklärt, warum die digitale Transformation in Pflege und Medizin zugleich erstrebenswert und problematisch ist.

«Wenn es um Digitalisierung geht, passiert es schnell, dass man ob all der digitalen Möglichkeiten das eigentliche Ziel aus den Augen verliert. Dieser Eindruck drängt sich mir auf, wenn ich mich mit Digitalisierungsbestrebungen im Gesundheitssektor beschäftige.

Ich leite das Innovationsfeld Digitale Gesundheit an der BFH. In meiner Arbeit stosse ich immer wieder auf Projekte, bei denen Aspekte der Pflege oder medizinischen Betreuung digitalisiert werden. Dabei wiederholen sich die gleichen Chancen und Risiken.

Eine Technologie, die etwas vereinfacht, effizienter, informativer, intuitiver macht, schafft positive Emotionen und baut dadurch ein sinnhaftes Momentum bei den Anwender*innen auf.

Friederike J.S. Thilo
Friederike J.S. Thilo

Pro: Mittel gegen den Fachkräftemangel

Digitalisierung im Gesundheitssektor hat das Potenzial, Pflegefachleute zu entlasten, Ressourcen gezielter zu nutzen und dadurch dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken:

  • Zeit sinnvoller nutzen: Automatisierung gibt Pflegenden mehr Luft für ihre Kernaufgaben. Wird zum Beispiel das Zusammentragen von relevanten Informationen automatisiert, können Fachleute ihre Zeit vermehrt für die Pflege und die Betreuung nutzen.
  • Schneller entscheiden: Digital aufbereitete Daten können Gesundheitsfachpersonen dabei unterstützen, schneller und besser zu entscheiden. So geben Daten beispielsweise Aufschlüsse über Risiken von Patient*innen und erlauben, frühzeitig zu intervenieren und gezielter zu behandeln.
  • Daten verfügbarer machen: Heute ist es für Pflegefachpersonen oft schwer, sofort und direkt auf die Daten zuzugreifen, die sie benötigen. Das führt dazu, dass Informationen mehrfach erhoben werden und unnötige Aufwände entstehen. Ausserdem vermindern einfache, schnell verfügbare und aktuelle Informationen das Fehlerrisiko, weil Assessments, Anamnesen oder Befunde gegengecheckt werden können.            
  • Pflegesituation einschätzen: Intelligente Algorithmen sind oft besser als Menschen, wenn es darum geht, in grossen Datenmengen schnell Muster zu erkennen. Die Kontextualisierung muss aber immer vom Menschen erfolgen. Die Auswertung von Sensor- und Vitaldaten oder z. B. von automatisch verarbeiteten Wundbildern erlaubt es Pflegefachpersonen, die Versorgung der Patient*innen, aber auch den Einsatz des verfügbaren Personals besser zu planen und umzusetzen.
  • Information vermitteln: Digitale Plattformen ermöglichen es Pflegefachpersonen, auch über grosse räumliche oder zeitliche Distanzen mit Patient*innen in Kontakt zu treten, sei es um Beratung und Handlungsanweisungen weiterzugeben oder um – auch auf spielerische Weise – Informationen zu Erkrankungen zu vermitteln.

Gute Lösungen entstehen nur, wenn wir das tatsächliche und nicht das augenscheinliche Problem verstehen.

Friederike J.S. Thilo
Friederike J.S. Thilo

Kontra: Digital am Ziel vorbei

Was aber – gerade im Zusammenhang mit Digitalisierungsbestrebungen – gerne übersehen wird: Grosse Potenziale sind oft mit Risiken verknüpft:

  • Vorschnelle Einführung: Digitalisierung trifft auch im Gesundheitssektor fast nie sofort ins Schwarze. Das liegt oft daran, dass neue Technologien eingeführt werden, als ob sie reif für die medizinische und pflegerische Praxis wären. Es braucht aber Mut, Kritik und Zeit, damit eine Technologie auf ‘Herz und Nieren’ im Alltag getestet werden kann. Erst dann kann der Nutzen definiert werden. Bei fehlendem Nutzen sollte eine Technologie umgehend zurückgewiesen werden. 
  • Ausgangslage missverstanden: Andererseits helfen digitale Tools oft nicht dabei, den in der Praxis auftretenden Herausforderungen zu begegnen. Die Realität der Pflege- und Gesundheitsfachpersonen sowie der Patient*innen fliesst oft zu wenig oder zu spät in die Entwicklung ein.
  • Analoge Führung: Wenn Applikationen an der Realität vorbei programmiert werden, hängt das nicht (nur) an den Entwickler*innen: Teils entstehen Diskrepanzen auch, weil das Verständnis zur digitalen Transformation beim Pflegemanagement noch dünn ist.
  • Schwierige Interfaces: Aktuell sind Gesundheitsapplikationen oft noch etwas kompliziert zu nutzen. Wichtig wäre es, die Nutzbarkeit zu verbessern, indem von Anfang an mit der Fachexpertise der Pflegenden entwickelt wird. Usability ist mehr als ein Nice-to-have: Weniger Zeit mit der Pflege-App bedeutet mehr Zeit für Patient*innen.
  • Ungenutztes Potenzial: Routinedaten sind nicht ebenso omnipräsent wie wichtig. Sind sie nicht oder nur teilweise digitalisiert oder können sie zwischen verschiedenen Systemen nicht ausgetauscht und dann nicht ausgewertet werden, entstehen enorme Aufwände sowie ein Wissensverlust bei den Fachpersonen, bis hin zur Beeinträchtigung der Patientensicherheit.

Oft sind die Probleme komplex und die Zusammenhänge lassen sich nicht ohne Weiteres entwirren, wenn im Gesundheitswesen eine digitale Lösung eingeführt werden soll. Es hilft, sich bei der Analyse des Problems und bei der Schärfung der zu erreichenden Ziele Zeit zu lassen.

Interprofessionelle Ansätze, wie wir sie an der BFH praktizieren, sind ein hervorragender Weg, mit den relevanten Perspektiven auf das Problem zu schauen. Diese ganzheitliche Sicht erlaubt neue, ressourceneffiziente Lösungen. Aber: Wir müssen die richtigen Fragen stellen und die Expertise der Gesundheitsfachpersonen ernsthaft einbeziehen, bevor Programmierer in die Tasten greifen.»

BFH-Projekte an der Schnittstelle von Digitalisierung und Gesundheit

An der Schnittstelle von Digitalisierung und Gesundheit entstehen laufend neue Projekte. Hierbei sind verschiedene Personen, Institute und Departemente beteiligt. Zusammengenommen entsteht an der BHF eine ungemein vielseitige Perspektivenvielfalt auf das Themensegment:

  • Reinhard Riedl entwickelt Methoden und Werkzeuge zur praktischen Umsetzung von Digitalisierung. Ein Beispiel ist sein Beitrag zur Kita-Software Leoba.
  • Beatrice Kaufmann untersucht im Projekt CuraComm, wie digitale Kommunikation bei der Pflege von chronisch kranken Menschen helfen kann.
  • Friederike J.S. Thilo testet in den Projekt RAMOS und SafetyFirst, wie moderne Sensortechnologie Pflegefachpersonen bei der Arbeit entlasten kann.
  • Dirk Richter nimmt sich der Frage an, welche digitalen Hilfsmittel psychisch kranke Menschen nutzen.
  • Sarah Dégallier Rochat befasst sich im Projekt CODIMAN damit, wie man Roboter herstellen kann, die mit Menschen zusammenarbeiten und sie so flexibel unterstützen können.
  • Olha Faryma entwickelt mit dem Projekt Eat Breathe Move die BeeHealthy-Applikation , die aus der Ukraine geflüchteten Kindern ein gesundes Leben erleichtern soll.
  • Mascha Kurpicz-Bricki untersucht, wie sich in Texten Hinweise auf ein Burnout finden lassen und stellt mit Kolleg*innen aus der HKB die Ergebnisse visuell und leicht verständlich dar.
  • Karin Haas, Sang-Il Kim und Team finden im Projekt «Prävention von Mangelernährung» heraus, wie ältere Menschen für Mangelernährung sensibilisiert und welche Tools zur Früherkennung eingesetzt werden können.
  • Serge Bignens, Eva Soom Ammann und Team prägen die App «approches» mit, welche pflegenden Angehörigen im Kanton Neuenburg insbesondere den Zugang zu Hilfs- und Unterstützungsangeboten erleichtern soll.
  • Renato Mattli entwickelt und testet eine App, die Senior*innen zu einem ausgewogenen Lebensstil animieren soll.