Die psychische Gesundheit von Mutter und Kind im Fokus

06.11.2023 Die Berner Fachhochschule forscht und lehrt als einzige Hochschule im deutschsprachigen Raum zum Thema perinatale psychische Erkrankungen. Sie setzt damit Akzente in der Qualifizierung von Hebammen und in der besseren Versorgung von Betroffenen.

In der Perinatalzeit – der Zeit von der Schwangerschaft bis zum Abschluss des ersten Jahres nach der Geburt – finden bei der Frau eine Vielzahl von Transformationsprozessen auf körperlicher, psychischer und sozialer Ebene statt. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung geht diese Zeitspanne häufig mit grosser persönlicher Erfüllung für die Frauen und Familienglück einher. Die Fakten zeigen ein anderes Bild. 

Anteil der Gesundheitskosten aufgrund psychischer Erkrankungen der Mutter in der Perinatalzeit

Psychische Erkrankungen der Mütter mit schwerwiegenden Folgen

In den westlichen Industrieländern sind rund 20 Prozent der Frauen während der perinatalen Phase von einer psychischen Erkrankung betroffen. Perinatale psychische Erkrankungen (PPE) können schwerwiegende negative Auswirkungen auf die Gesundheit von Mutter und Kind haben, wenn sie nicht angemessen behandelt werden. In den Industrieländern gehören PPE mittlerweile zu den Hauptursachen der Müttersterblichkeit. Weltweit stellen sie ein grosses Problem für die öffentliche Gesundheit dar. Dies führt neben dem grossen Leid für die Betroffenen auch zu hohen Gesundheitskosten für die Gesellschaft, wobei die Folgekosten für die Gesundheit der Kinder durch Entwicklungs- und Verhaltensstörungen den grössten Anteil ausmachen (WHO, 2022). 

Auswirkungen von perinatalen psychischen Erkrankungen (PPE) auf das Kind

Auswirkungen von perinatalen psychischen Erkrankungen (PPE) auf das Kind

Folgen für die kindliche Gesundheit: 

  • tieferes Geburtsgewicht
  • schlechte kognitive, motorische und sprachliche Entwicklung 
  • niedriger IQ
  • Verhaltensstörungen und schlechte schulische Leistungen
  • erhöhtes Risiko für kindliche Entwicklungsstörungen (ADHS; Autismus)

Folgen für die Kinder im Erwachsenenalter: 

  • höheres Suizidrisiko im Adoleszenzalter
  • höhere Depressionsrate
  • Langzeitkosten: Verdienstausfall, Sozialhilfe, Bildungswesen, Justizvollzug

Eine Studie der Berner Fachhochschule (BFH) zeigt, dass auch in der Schweiz jede sechste Frau in der Perinatalzeit psychiatrische Dienstleitungen in Anspruch nimmt. Im Gegensatz dazu ist die Erkennungsrate in der geburtshilflichen Versorgung mit 1 bis 3 Prozent sehr tief (Berger et al., 2017). Gründe dafür sind ein fehlendes systematisches Screening auf PPE, mangelnde Ausbildung des geburtshilflichen Fachpersonals sowie die Angst der betroffenen Frauen, als psychisch krank stigmatisiert zu werden. Hinzu kommt, dass die psychiatrische Versorgung in der Schweiz kaum auf die Perinatalphase ausgerichtet ist. 

BFH wirkt Versorgungsdefizit entgegen 

Die BFH hat sich dem Ausbildungs- und Versorgungsdefizit im deutschsprachigen Raum durch einen entsprechenden Forschungs- und Lehrschwerpunkt angenommen und baut diesen kontinuierlich aus. Mit der Etablierung des Masterstudiengangs im Jahr 2017 bietet die BFH als einzige Hochschule im deutschsprachigen Raum das Modul «Perinatale psychische Gesundheit» an. Das Modul steht als Fachkurs auch anderen Berufsgruppen offen und wird neben Hebammen auch von Pflegefachpersonen und psychiatrischen Fachkräften besucht.  Neben der Wissensvermittlung zu Prävention, Erkennung und Behandlung von PPE thematisiert das Modul die aktuelle Versorgungslage in der Schweiz. Schliesslich definieren die Absolvierenden Massnahmen für eine nachhaltige und wirkungsvolle Versorgung und entwickeln neue Angebote. 

Wirkung in der Praxis

Das Modul zeigt bereits erste Wirkung in der Praxis. Basierend auf einer Masterarbeit wurde an der Universitätsklinik für Frauenheilkunde Inselspital Bern (FKI) in Kooperation mit den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern (UPD) im Jahr 2020 ein schweizweit einzigartiges Advanced-Practice-Midwife-Angebot (APM) entwickelt (Sutter, 2021).

Ziel ist es, die Erkennung, Behandlung und Betreuung von psychisch erkrankten Frauen zu optimieren und damit die Risiken für Mutter, Kind und Familie zu reduzieren. Seither hat die Klinik unter der Leitung der APM kontinuierlich weitere Massnahmen umgesetzt, darunter die Einführung eines systematischen Screenings zur Früherkennung psychischer Erkrankungen. Dieses wird im Rahmen der Routinekontrolle während der Schwangerschaft und sechs Wochen post partum durch die Hebammen und Gynäkolog*innen durchgeführt. Bei einem auffälligen Erstscreening führt die APM ein erweitertes Screening-Assessment durch, das in Zusammenarbeit mit den UPD entwickelt wurde. Nach einer einjährigen Pilotphase wurde das Screening im Rahmen einer weiteren Masterarbeit der BFH evaluiert (Rewicki et al., 2022). Die Resultate dieser studentischen Evaluation zeigen, dass 13 Prozent der gescreenten Frauen eine psychische Belastung aufweisen. Die meisten Frauen (38 Prozent) bevorzugten einen ersten Besprechungstermin bei der APM, was zeigt, dass das Gespräch mit einer psychiatrischen Fachperson eine psychologische Hürde darstellt. Bemerkenswert ist, dass suizidale Gedanken keine Seltenheit sind. 13 Prozent der befragten Frauen gaben an, in den letzten 7 Tagen daran gedacht zu haben, sich selbst Schaden zuzufügen. Dieses Resultat unterstreicht die Wichtigkeit der Früherkennung und Entstigmatisierung von PPE, um betroffenen Müttern und Familien rechtzeitig Hilfe zukommen zu lassen.  

Für eine sichere Mutter-Kind-Beziehung sorgen 

Eine weitere Frage, die sich bei der Betreuung von Frauen mit einer PPE stellt, betrifft das Kindeswohl beziehungsweise die Gefährdung des Kindeswohls. Es ist bekannt, dass psychische Erkrankungen die Mutter-Kind-Beziehung negativ beeinflussen und Folgen für die kindliche Entwicklung haben können. Auch hier wird eine Früherkennung und die Einleitung von Interventionen empfohlen. Unklar ist jedoch, mit welchen Instrumenten eine Gefährdung für das Kind erkannt werden kann. Diese Thematik wird aktuell in einer weiteren Masterarbeit an der BFH untersucht. 

Mental Health im Fokus

Die Pflege unserer psychischen Gesundheit ist ein immer wichtigeres Thema in unserer Gesellschaft. Deshalb veröffentlichen wir an dieser Stelle eine Reihe von Beiträgen zu Mental Health und Wohlbefinden. Auch das Symposium «Fokus Gesundheit» behandelte diesen Themenschwerpunkt mit ausgewiesenen Fachexpert*innen im Rahmen einer Podiumsdiskussion.

Stimmen aus der Praxis

Wie beurteilen Gesundheitsfachpersonen in der Praxis die Relevanz der perinatalen psychischen Gesundheit? Welcher Nutzen hat das BFH-Angebot zur Thematik im Master-Studiengang und im Fachkurs aus Ihrer Sicht?

Anja Schlenker Hebamme am Universitätsklinikum Leipzig und MSc-Studentin Advanced Practice Midwife BFH

«Im BFH-Studium waren für mich die epidemiologische Relevanz des Themas sowie die evidenzbasierten Betreuungsansätze durch internationale Fachexpert*innen von besonderem Mehrwert. Mein Auslandsaufenthalt im Rahmen eines Transfermoduls in einem interdisziplinären Team für Perinatal Mental Health am Rotunda Hospital in Dublin, Irland, hat das Studium abgerundet. In meiner Klinik in Deutschland beschäftige ich mich nun mit der Evaluierung der Versorgungssituation für perinatale psychische Gesundheit.»

Anja Schlenker

Prof. Dr. med. Daniel Surbek, Geschäftsführender Co-Klinikdirektor und Chefarzt Geburtshilfe und feto-maternale Medizin, Frauenklinik Inselspital Bern

«Mit der Einführung des AMP-Angebotes an der Frauenklinik Bern haben wir einen grossen Schritt zur Verbesserung der perinatalen psychischen Gesundheit gemacht. Durch das mit dem AMP-Projekt eingeführte Screening während der Schwangerschaft können wir Frauen, die eine besondere psychische Betreuung benötigen, schon früh eine fokussierte und in das interdisziplinäre Gesamtkonzept integrierte Unterstützung anbieten. Damit erreichen wir einen besseren Outcome für Mutter und Kind. Dieses Modell hat grosses Potenzial für die konkrete Förderung der psychischen Gesundheit von Frauen im Kontext von Schwangerschaft, Geburt und postpartaler Zeit.»

Daniel Sturbek

Irene Gunz, Dipl. Pflegefachfrau Psychiatrie Psychiatrische Dienste, Spital STS AG Thun

«Ich bin als Pflegefachfrau in einem multiprofessionellen Team tätig, das psychiatrische Akutbehandlung im häuslichen Umfeld anbietet. Wir begleiten immer häufiger Frauen und auch Männer mit psychischen Schwierigkeiten in der perinatalen Phase. Die Betroffenen benötigen eine intensive Behandlung, finden jedoch keinen stationären Platz oder können sich nicht vorstellen, ihre gewohnte Umgebung zu verlassen. Ich habe den Fachkurs «Perinatale psychische Gesundheit» der BFH besucht, um meine Kenntnisse zu vertiefen, mehr über die Arbeitsweise von Hebammen im Bereich der psychischen Gesundheit zu erfahren und Kontakte zu einer mir bisher ferneren Berufsgruppe zu knüpfen.»

Irene Gunz

Referenzen

  • Bauer, A., Parsonage, M., Knapp, M., Iemmi, V. & Adelaja, B. (2014). The costs of perinatal mental health problems. Centre for Mental Health and London School of Economics. 
  • Berger, A., Bachmann, N., Signorell, A., Erdin, R., Oelhafen, S., Reich, O., & Cignacco, E. (2017). Perinatal mental disorders in Switzerland: prevalence estimates and use of mental-health services. Swiss Medical Weekly.
  • Rewicki, F., Heine, D., Sutter, L. & Cignacco, E. (2022). Bericht Screening der perinatalen psychischen Gesundheit an der UFKB, Evaluation des Pilotprojekts 2021 - 2022 (Unveröffentlichte Arbeit). Berner Fachhochschule – Departement Gesundheit: Bern. 
  • Sutter, L. (2020). Entwicklung der Rolle einer Advanced Practice Midwife im Bereich perinatale psychische Gesundheit. (Unveröffentlichte Master-Thesis). Berner Fachhochschule – Departement Gesundheit: Bern.
  • WHO 2022: World Health Organization. (2022). Guide for integration of perinatal mental health in maternal and child health services. 

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