Roboter Charlie zu Besuch in der Schule

19.09.2023 Um Kinder beim Erlernen überfachlicher Kompetenzen zu unterstützen, haben Forschende der Berner Fachhochschule einen humanoiden Roboter in zwei Primarschulklassen eingesetzt. Dabei konnten sie wichtige Erkenntnisse zur Mensch-Maschine-Interaktion sammeln. Diese helfen, digitale Ansätze im Gesundheitswesen umzusetzen.

Laut einer UNICEF-Studie von 2021 ist rund ein Drittel der 14- bis 19-Jährigen in der Schweiz von psychischen Problemen betroffen, Tendenz zunehmend. Die mentale Gesundheit von Kindern ist darum ein wachsendes Thema an Schweizer Schulen. Eine Bedarfserhebung im Jahr 2022 zum Thema Wohlbefinden, Gesundheit und Digitalisierung bei Primaschulkindern hat gezeigt, dass ein deutlicher Handlungsbedarf bei der Förderung der Sozialkompetenz, des eigenen Selbstbildes und des Umgangs mit den eigenen Emotionen besteht. Auch das Potenzial der Digitalisierung zur Förderung dieser Kompetenzen und Fertigkeiten wurde erkennbar.

Um Schulkinder beim Erlernen dieser überfachlichen Kompetenzen zu unterstützen, haben Forschende der BFH zusammen mit den niederländischen Projektpartnern Therapieland und Interactive Robotics ein roboterbasiertes Programm entwickelt. Dank der Zusammenarbeit mit der Hochschule für Angewandte Psychologie FHNW konnte der humanoide Roboter Nao ausgeliehen und das Programm implementiert werden.

Roboter Charlie in der Schule

Charlie in der Schule

Im Mai und Juni 2023 konnten die Forschenden dieses Programm erstmalig in zwei Schweizer Primarschulklassen (4. und 5. Stufe) testen. Jedes Kind löste während sechs Wochen ein- bis zweimal pro Woche eine ihm zugewiesene Aufgabe aus den Bereichen Sozialkompetenz, Selbstbild oder Umgang mit Emotionen. Ziel war es, Machbarkeitserfahrungen für den Einsatz eines Roboters, getauft Charlie, im Schulunterricht zu sammeln. Akzeptanz und Benutzerfreundlichkeit des Programms und des Roboters standen dabei im Mittelpunkt. Die Module starteten mit einer kurzen Einführung ins Thema, gefolgt von Verständnisfragen. So wurde beispielsweise im Handlungsfeld Sozialkompetenzen dem Kind erklärt, in welchen Situationen und wie es sich entschuldigen kann. Im Anschluss wurden Verständnisfragen gestellt wie: «Es ist gut, jemanden anzuschauen, wenn man sich entschuldigt. Stimmt das?» Zur Beantwortung konnten die Kinder mit dem Roboter sprechen oder die Antworten über eine Fernbedienung eingeben. Je nach Modul wurden zudem Arbeitsblätter oder Hausaufgaben bearbeitet. Ein Projektteammitglied der BFH supervisierte die Kinder jeweils bei der Bearbeitung der Module mit Charlie. Dies war erforderlich, um bei immer wieder auftauchenden technischen Schwierigkeiten wie z. B. Verbindungsproblemen oder Überhitzung eingreifen zu können.

Erfahrungen in der Praxis

Trotz der technischen Herausforderungen konnten pro Schulhalbtag zwischen 10 und 15 Kinder mit dem Roboter arbeiten. Der Erstkontakt der Kinder mit Charlie löste grosses Interesse aus. Es wurden Fragen zur künstlichen Intelligenz, zur Herstellung von Charlie und zu den Funktionen des Programms gestellt. Bei den individuellen Interaktionen mit Charlie zeigte sich jedoch, dass die Robotersprache nicht immer verstanden wurde und auch die Möglichkeit zur Wiederholung fehlte. Trotzdem beantworteten die Kinder die Verständnisfragen meist richtig, da diese sehr einfach waren.

Im Abschlussgespräch erzählten die Lehrerinnen, dass die Kinder die Arbeit mit Charlie zu Beginn als spannend empfanden. Jedoch seien die direkten Interaktionsmöglichkeiten sehr beschränkt gewesen und die Kinder sowie die Lehrpersonen hätten sich technisch mehr erhofft. Beispielsweise, dass der Roboter individuell auf die Antworten hätte reagieren können und nicht einem hinterlegten Skript gefolgt wäre. Bei den Kindern sei klar zu spüren gewesen, wie die initiale Begeisterung für Charlie von Woche zu Woche nachliess. Dies lag zum einen daran, dass der Roboter immer wieder «abstürzte» und zum anderen daran, dass die Kinder zeitversetzt an denselben Modulen arbeiteten und sich folglich nicht im Anschluss sofort darüber austauschen konnten. Auch seien die Module zu einfach gewesen. Viel besser hätten sie es gefunden, wenn Charlie ihnen beispielsweise die schwierigen Matheaufgaben erklärt hätte, anstatt mit ihnen zu üben, wie man sich entschuldigt. Die Zusammenarbeit der Kinder mit Charlie verlief jedoch grundsätzlich ernsthaft, auch wenn die Aufmerksamkeit und das Interesse durch die technischen Unterbrüche vermindert wurden.

Potential der Robotik in der Schule

Potenzial der Robotik in der Schule

Gemäss den Lehrpersonen hätte ein Roboter im Schulzimmer grundsätzlich Potenzial. Vorgeschlagen wurde auch ein mögliches Belohnungssystem, um die Motivation der Kinder zu erhalten und sie für ihre Mitarbeit zu loben. Dies könnte beispielsweise durch Tanzeinheiten oder Musikwahl umgesetzt werden. Zudem wäre es eine Überlegung wert, in einer zukünftigen Iteration Kinder mit unterschiedlichen Kompetenzlevels zu berücksichtigen, so dass sich die Lehrpersonen besser auf den inhaltlichen Fortschritt fokussieren können.

Ein Roboter kann ein spannendes und motivierendes digitales Werkzeug sein, um Primarschulkindern beim Erwerb überfachlicher Kompetenzen zu unterstützen. Folgende Aspekte sollten jedoch bei der Mensch-Maschine-Interaktion beachtet werden:

  • Zusätzliche Interaktionsmöglichkeit: Die Interaktion mit dem Roboter sollte nicht nur verbal stattfinden, sondern auch über ein peripheres Eingabegerät wie beispielsweise ein Tablet möglich sein.
  • Replay-Funktion: Falls der Roboter nicht verstanden wird, sollte es eine Möglichkeit geben, das Gesagte zu wiederholen.
  • Belohnungssystem: Die Interaktionsversuche mit dem Roboter sollten belohnt werden, so dass die Motivation, mit dem Roboter zu arbeiten, langfristig aufrechterhalten werden kann.
  • Mehrwert: Der Einsatz des Roboters sollte einen erkennbaren Mehrwert leisten und nicht eine gleichwertige Funktion ersetzen.
  • Individualität: Der Roboter sollte individuell auf die Bedürfnisse und Anforderungen des Menschen eingehen können und nicht nur einem vorprogrammierten Skript folgen, da dies keine Flexibilität erlaubt.

Digitale Ansätze im Gesundheitswesen

Dieses Projekt zeigt deutlich, wie wichtig es ist, ein digitales Werkzeug sorgfältig im realen Alltag zu testen. Nur so können unterschiedlichste Nutzungserfahrungen gesammelt werden, die es dringend braucht, um den Mehrwert eines digitalen Werkzeugs zu identifizieren. Es fällt auf, dass bei dieser ersten Pilotierung die Funktionalität im Vordergrund stand. Es benötigt weiteren Kontext, Alltag und Zeit, um den Mehrwert dieser Mensch-Maschine-Interaktion für die Nutzenden weiter zu schärfen. Den Mehrwert klar zu kennen ist eine grundlegende Voraussetzung einer längerfristigen Nutzung. Dies gilt auch für das Gesundheitswesen.

Mental Health im Fokus

Die Pflege unserer psychischen Gesundheit ist ein immer wichtigeres Thema in unserer Gesellschaft. Deshalb veröffentlichen wir an dieser Stelle eine Reihe von Beiträgen zu Mental Health und Wohlbefinden. Das Symposium «Fokus Gesundheit» mit ausgewiesenen Fachexpert*innen schliesst den Themenschwerpunkt ab.

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