Sichere Perspektiven im armenischen Hinterland

21.03.2023 Eine berufliche Perspektive für junge Menschen im ruralen Armenien: Das ist das Ziel des multinationalen Berufsbildungsprojekts MAVETA. Johannes Brunner setzt mit seinem Team Teile des Grossprojekts um. Im Gespräch beschreibt er seine Erfahrungen.

Die BFH-HAFL engagiert sich schon länger für den Aufbau einer dualen Berufsausbildung in Armenien. Wo steht man diesbezüglich heute? 

Das stimmt. Zwischen 2017 und 2020 haben wir zusammen mit HEKS/EPER eine duale Berufsbildungsinitiative mit zwei Berufsschulen und privaten Unternehmern im Süden Armeniens umgesetzt. Die HAFL ist mit dem Institut Hugo P. Cecchini aber schon sehr lange in verschiedenen Projekten in der internationalen Zusammenarbeit engagiert.  

Warum gerade Armenien? 

Armenien ist geprägt von seiner Vergangenheit. Der Völkermord an der armenischen Bevölkerung vor und während des Ersten Weltkriegs hat tiefe Spuren hinterlassen. Im Jahr 1988 zerstörte ein Erdbeben viele Gebäude und Infrastrukturen im Norden des Landes. Kurz danach brachte die Auflösung der Sowjetunion den wirtschaftlichen Zusammenbruch mit sich. 2020 kamen im Konflikt mit Aserbaidschan um Bergkarabach 5000 junge Menschen ums Leben. Das führt dazu, dass die Menschen besonders im ruralen Teil des Landes wegwollen. Sie suchen ihre Lebensgrundlage in der Hauptstadt Jerewan oder im Ausland. 

Was bedeutet die Abwanderung für die verbleibenden Menschen? 

Es gibt zu wenig Fachkräfte, insbesondere fehlt es an jungen Menschen, die als Landwirt*innen, Tierarztassistent*innen oder Milchtechnolog*innen arbeiten wollen. Irgendwann kann die Grundversorgung, also z. B. Impfungen, tiermedizinische Interventionen oder die Verarbeitung der lokal anfallenden Milch nicht mehr sichergestellt werden.  

Wie unterstützen die BFH-Projekte die Menschen vor Ort? 

Es ist sehr wichtig, Menschen in einem fragilen Kontext mögliche Wege zur Stabilisierung der Lage aufzuzeigen. Aktuell gibt es für junge Menschen auf dem Land keine Möglichkeit, sich eine sichere berufliche Zukunft aufzubauen. Die angebotenen beruflichen Ausbildungsgänge sind veraltet, mit den existierenden Abschlüssen finden die jungen Menschen keine Stelle im Arbeitsmarkt. Mit der dualen Berufsbildung bieten wir ihnen eine Alternative an.  

Wie läuft dieser neue Bildungsweg vor Ort ab? 

Lokale private Unternehmen bilden die Jugendlichen am Arbeitsplatz aus. Lehrpersonen der Berufsschulen unterstützen sie dabei. Das ist für Armenien ein völlig neues Konzept, weil die berufliche Ausbildung früher ohne private Unternehmen durchgeführt wurde. Diese praxisbezogene Berufsausbildung motiviert die Jugendlichen. Sie haben viel mehr Interesse, weil sie Gelerntes direkt anwenden können. Sie motiviert auch die Unternehmen, weil diese direkt auf die Entwicklung der Lehrpläne einwirken und damit die gewünschten Kompetenzen fördern können. Die Lehrpersonen unterstützen die Jugendlichen am Arbeitsplatz und verstärken den Lernprozess durch Reflexion.  

Und das funktioniert? 

Ja. Unser Vorprojekt (2017-2020) hat gezeigt: Der Unterricht mit Praxisbezug ist attraktiv für junge Menschen. Die Ausbildung mit den Privaten macht den Ausbildungsweg spannender. Und die Lehrpersonen wurden kompetenter.  

Inwiefern werden Lehrkräfte kompetenter? 

Der duale Ansatz bedeutet für Lehrpersonen im ersten Moment, dass sie Unterrichtsstunden und damit Lohn verlieren. Wir zeigen ihnen deshalb Wege auf, wie sie diese Einbussen z. B. als Ausbildner*innen in der höheren Berufsbildung oder als Mentor*innen im Betrieb wieder wettmachen können. Mit der Dreifachrolle als Lehrperson, Mentor*in im Betrieb und Ausbildner*in in der höheren Berufsbildung können sie ihr Tätigkeitsfeld erweitern und im Kontakt zur beruflichen Praxis werden sie kompetenter. Und natürlich lernen Lehrpersonen dazu, wenn wir sie in unseren Trainings fachlich und methodisch-didaktisch weiterbilden.  

Was lernt die BFH aus Projekten wie diesen? 

Die Erfahrung der Projektteams und der BFH-Mitarbeitenden fliesst direkt zurück in den Unterricht. Als Unterrichtender kann ich beispielsweise die eigene Praxiserfahrung, die durch Projekte laufend erneuert wird, mit Studierenden in der internationalen Landwirtschaft teilen. Dadurch nimmt der Unterricht Bezug auf aktuelle Herausforderungen, denen sich die Studierenden nach dem Abschluss stellen müssen.  

Welche Challenges muss man bei einem solchen Projekt meistern? 

Duale Berufsbildung, wie wir sie in der Schweiz kennen, kann nicht einfach exportiert werden. Wir gehen schrittweise vor und müssen manchmal aufgrund lokaler Rahmenbedingungen Anpassungen im Ausbildungskonzept vornehmen. Es ist aber wichtig, neue Dinge auszuprobieren und so Vorteile des Ansatzes erfahrbar zu machen. Erschwerend sind auch äussere Umstände wie etwa der Konflikt um Bergkarabach oder in jüngster Zeit die Covid-Pandemie. Aber auch oft unterschätzte Dinge wie Kultur, Kommunikation und Sprache sind in Armenien sehr herausfordernd. So beruht Armenisch nicht nur auf einem eigenen Alphabet, sondern ist aufgrund oft fehlender Fachbegriffe auf komplizierte Umschreibungen angewiesen.

Manchmal müssen wir auch Widerstände mit unseren lokalen Umsetzungspartnern auflösen, wenn wir etwas Neues ausprobieren wollen. In hierarchisch strukturierten Gesellschaften können neue Ansätze wie beispielsweise partizipative Methoden als bedrohlich verstanden werden. In diesen Situationen gilt es, dranzubleiben und den Kurs zu halten. 

Worin besteht die Motivation, diese Herausforderungen anzugehen?  

Die Menschen vor Ort sind freundlich und sehr dankbar für die verschiedenen Interventionen und Weiterbildungen. Gleichzeitig lernen wir viel über andere Sichtweisen, andere Kulturen und schliessen neue Freundschaften. Vieles wird relativiert, was wir in der Schweiz als sicher und selbstverständlich erachten. 

Über uns

Johannes Brunner: Wissenschaftlicher Mitarbeiter mit Fokus auf Berufs- und Erwachsenenbildung, Beratung und Wissensaustausch, Moderation und Mediation 

Prof. Dr. Roland Stähli: Leiter Ressort Lehre an der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften 

Mehr zum Thema

infoHAFL-Artikel von 2017: Artikel über die Entstehung der HAFL-Kooperation in Armenien. 

Vertiefung Internationale Landwirtschaft: Agronomie-Studium mit Berufspraktikum in einem Entwicklungs- oder Schwellenland.  

Medienmitteilung Bund: Zeigt die involvierten Akteure und die Grössenordnung des Projekts «Modernizing Vocational Education and Training in Agriculture in Armenia» oder kurz MAVETA.