Religion und Spiritualität in der Sozialberatung

12.09.2022 Wann werden Spiritualität und Religion zu Themen in der Praxis? Was befähigt oder hindert Sozialarbeitende, diese Dimensionen offen anzusprechen? Ein Forschungsteam der BFH hat Sozialarbeitende zum Umgang mit Religion und Spiritualität befragt. Zwei Forscherinnen berichten über die Ergebnisse und zeigen, was es für eine religionssensible Beratung braucht.

Religion und Spiritualität sind in der Sozialen Arbeit immer noch Nischenthemen, Religionssensibilität ist in der Praxis eher die Ausnahme. Mehr noch: «Vielmehr prägen (…) Unbehagen, Unsicherheit, Rat- und Sprachlosigkeit bis hin zur offenen Ablehnung alles Religiösen die professionelle Praxis vieler Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter» (Nauerth et al., 2017, S. 12).

Das ist nicht immer förderlich für die Unterstützung von Klient*innen. Trotz Säkularisierung und Privatisierung des Religiösen sind Religion und Spiritualität für viele Klient*innen Sozialer Arbeit wichtige Dimensionen ihres Lebens – als gelebte Praxis oder normative Orientierung. Insbesondere Krisenerfahrungen können existenzielle Fragen nach sich ziehen: Warum geschieht gerade mir so etwas? Hat mein Leben überhaupt noch einen Sinn? Religion und Spiritualität können bei der Suche nach Antworten unterstützen. Sie können aber auch neue Fragen aufwerfen und ihrerseits zu Problemen führen, da sie auch als einschränkend erlebt werden oder Grund für Diskriminierungserfahrungen sein können. Dies in der Praxis Sozialer Arbeit ernst zu nehmen und in die Beratungspraxis einzubeziehen, zeichnet die professionelle Soziale Arbeit aus.

Wie sieht die Praxis aus?

Wie gehen Sozialarbeitende in der konkreten Beratungspraxis damit um? In der explorativen Studie «Verkürzte Professionalität durch Tabuisierung?! Religion und Spiritualität in der Beratung» sind wir Autorinnen gemeinsam mit Joël Stalder dieser Frage nachgegangen. Dazu haben wir sieben Sozialarbeitende befragt, die in verschiedenen Institutionen Klient*innen beraten und sich als aufgeschlossen gegenüber Religion und Spiritualität verstehen.

Wir gingen davon aus, dass die eigene Offenheit gegenüber diesem Thema auch die Offenheit gegenüber Klient*innen erhöht, wie es Studien aus dem angelsächsischen Raum nahelegen. Unsere Studie ergab, dass diese (proklamierte) Offenheit keine hinreichende Bedingung für den Einbezug von Religion und Spiritualität darstellt. Es haben sich vielmehr grosse Unterschiede gezeigt, die wir in vier exemplarischen Typen vorgestellt haben (Duttweiler, 2021).

Abhängig von Person und Institution

Zunächst fällt auf, dass (fast) alle Interviewpartner*innen das Thema in der Beratung nicht von sich aus ansprechen. Diejenigen Sozialarbeitenden, die sich vor allem als Dienstleistende verstehen, kommen auch im Verlauf der Beratungen nicht darauf zu sprechen. Für sie soll sowohl die eigene Religiosität als auch die der Klient*innen Privatsache bleiben, denn letztere
müssten auf dem Sozialdienst sowieso schon (zu) viel von sich selbst preisgeben.

Andere Sozialarbeitende sind offener und verbergen ihre Religiosität nicht. Sie berichten, dass sie die Auseinandersetzung mit den Klient*innen als bereichernd empfinden und sich über den Dialog selbst verändern. 

Für diese Sozialarbeitenden steht ihre religionspositive Haltung nicht im Gegensatz zu ihrer Professionalität. Im Gegenteil, ihre religiöse Offenheit und ihre Professionalität gehen für sie Hand in Hand. Daraus erwächst ein umfassendes Zutrauen in ihr beraterisches Können. Nicht erstaunlich ist der Einfluss der Institution auf das, was (nicht) besprechbar ist. Während auf dem Sozialdienst der AuŠrag die Sozialarbeitenden (vermeintlich?) beschränkt, können die Sozialarbeitenden bei der Kirche oder im Migrationsbereich die Problemlagen der Klient*innen vertiefter ausloten und dabei auch existenzielle Fragen adressieren.

Religion und Spiritualität sollten in der Beratung angesprochen werden.
Religion und Spiritualität sollten in der Beratung angesprochen werden.

Religiosität - oft abgewertet 

Zudem fällt auf, dass alle Interviewpartner*innen Erfahrungen mit dem religionsskeptischen gesellschaftlichen Diskurs gemacht haben und Geringschätzung von Fachkolleg*innen erwarten oder erfahren haben. Einige befürchten in eine «fromme Ecke» gestellt zu werden und dass ihnen Missionierungsabsichten und Unprofessionalität unterstellt würden. Das impliziert, dass religiöse Menschen nicht zwischen Beruflichem und Religiösem unterscheiden könnten oder dass das Einbringen der Religiosität den Klient*innen schaden könnte. Beides stellt sowohl eine Abwertung ihrer Religiosität als auch ihrer Professionalität dar. Das Thema anzuschneiden, ist daher für einige Sozialarbeitende angst- und schambesetzt.

Religionssensible Beratung erweist sich somit als komplexes Zusammenspiel, und zwar von Klient*innen, die das Interesse an Religion und Spiritualität signalisieren, von Professionellen, die existenzielle Themen erkennen, da sie sich damit auseinandergesetzt haben und von institutionellen Bedingungen. Dazu kommt ein gesellschaftlicher Diskurs, der durch die tendenzielle Abwertung des Religiösen das unbefangene Ansprechen erschwert.

Was heisst das für die religionssensible Beratung?
Wichtig wäre, dass sich die Institutionen so öffnen, dass Sinnsuche, Spiritualität und Religion keine Tabuthemen mehr sind. Zentral wäre auch, Spiritualität, Religiosität und sozialarbeiterische Fachlichkeit nicht per se als Gegensätze zu begreifen, sondern das Verhältnis in den je konkreten Situationen spezifisch und sorgfältig auszuloten. 

Ist dafür auch eine andere Art von Beratung nötig? Unsere Interviewpartner*innen, die religionssensibel beraten, betonen: Es sei eine «ganz normale Sache», und es brauche die «ganz normale» sozialarbeiterische Haltung wie für andere Themen auch. Das heisst: Offenheit signalisieren, Annahme und Empathie. 

Dennoch ist ihre Beratung von einer anderen Annahme bestimmt: Diese Sozialarbeitenden gehen davon aus, dass grundsätzlich jedes Problem, mit dem Klient*innen in die Beratung kommen, mit Sinnfragen verknüpft sein kann. Existenzielle oder spirituelle Fragen verstehen sie daher nicht als etwas, das sich losgelöst von den Themen des Alltags ereignet. Auch die Frage nach dem Sinn des Lebens wird zum Beispiel nicht pathologisiert, denn sie wird als eine Frage behandelt, die zum Menschsein gehört. So darf auch das Schwere Gegenstand des Gesprächs sein. Ihre Beratung gestaltet sich also nicht lediglich lösungsorientiert, sondern sie ist auch ein gemeinsames Ringen um Antworten.

Damit gehen sie auch über die Vorstellung hinaus, dass Religiosität und Spiritualität in erster Linie einfach anzuzapfende «Kraftquellen» seien, sondern erkennen diese als Deutungen des Selbst- und Weltbezugs. Dazu gehört auch ein eventuelles verunsicherndes Suchen nach Antworten. Diese Suche kann mit Zweifeln und der Anstrengung, sich selbst infrage zu stellen, verknüpft sein. Nimmt man dies ernst, wäre der Einbezug von Religion und Spiritualität auch mehr als «ein Platzhalter für Menschlichkeit» – wie es Heller und Heller (2018, S. 25) für spiritual care kritisieren. Denn sie sind (mögliche) Dimensionen des Menschseins, die auch unabhängig von ihrer Funktionalität für sozialarbeiterische Interventionen zu würdigen sind.

Literatur

  • Fachmagazin «impuls» abonnieren

Drei Fragen an ...

Burim Luzha
Burim Luzha (Bild: Pascale Amez)

Burim Luzha, Sozialarbeiter beim Amt für Jugend und Berufsberatung, Kanton Zürich

Ist Religion ein Thema bei Ihrer Arbeit? 

Burim Luzha: Wenn ich Eltern frage «Was gibt Ihnen Mut? Woher holen Sie Ihre Motivation?», dann sagen sie oft «Religion», und sie fragen sich, ob sie mit einem Sozialarbeiter darüber reden können.

Am Anfang sprechen die Leute diese Themen vorsichtig an, und ich signalisiere dann schnell: «Fühlt euch frei! Ich bin nicht da, um Euch zu sagen, was oder wie ihr zu glauben habt. Das ist eure private Angelegenheit und wenn überhaupt, kann es etwas Gutes beitragen.» Das gibt eine gewisse Lockerheit und eine andere Vertrauensbasis.

Daraus ergibt sich dann ein anderer Zugang, denn für mich ist Religion kein Tabu. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass ich Muslim bin, mich mit Religion befasse und interreligiös aktiv bin. Daher habe ich keine Berührungsängste. Ich verstecke das auch nicht. Wenn jemand zum Beispiel sagt «Ich glaube an Gott», dann sage ich «Ich glaube auch an Gott». Das bringt dann gleich eine sichtbare Erleichterung bei Klientinnen und Klienten.

Wie würden Sie Ihre Arbeit beschreiben?

Ich habe mit unterschiedlichen Religionen zu tun. Trotzdem kann ich meistens gut darüber reden. Es geht um Themen der Kindererziehung, Normen, Werte.

Wenn zum Beispiel Kinder platziert werden müssen, dann sind die Eltern oft extrem in Sorge, ob ihr Kind den Glauben verliert. Dann thematisiere ich die Angst der Eltern, dass ihr Kind den Glauben auch in dieser Institution weiterhin praktizieren kann. Das beruhigt die Eltern und nimmt ihnen die Verunsicherung.

Ich habe ja nicht die Lösung für die Eltern. Ich begleite sie bei der Lösungsfindung und versuche, sie zu unterstützen. Wenn Religion ein wichtiges Thema für die Eltern ist, dann gehört das mit dazu. Darum finde ich es schade, dass man nicht etwas mehr in die Tiefe gehen kann, aber Interventionen sind natürlich immer so ein Puzzle. Mit Religion allein ist es nicht getan, aber sie ist eines der Puzzleteile.

Ich verstehe das so: Wenn etwas für die Eltern eine Ressource ist, dann mache ich davon Gebrauch – in dem Sinne, dass die Eltern die Expert*innen für ihr Leben sind und nicht wir. Ich bin da zum Unterstützen, nicht um zurechtzuweisen und Richter zu spielen.

Wie wird das Thema Religion unter den Beratungspersonen in Ihrem Team diskutiert?

Wenn es um religiöse, islamische Fragen geht, dann kommen die Kolleginnen und Kollegen o† zu mir, vor allem wenn es um die muslimische Klientel geht. Aber sie selbst sprechen das nicht wirklich an mit ihrer Klientel – das ist für sie ein zu heisser Stein – zumindest ist es das, was ich mitbekomme. Ich merke eine gewisse Unsicherheit, und sie behandeln dieses Thema wenig vertieft – eher oberflächlich und beschreibend, aber nicht so, dass man der Klientel einen Freiraum lassen würde. Vielleicht weil sie denken «Ich kann nicht wirklich etwas dazu beitragen.» Sie haben vielleicht Ängste, weil sie wenig Ahnung davon haben. Aber ich finde, man muss nicht besonders viel Ahnung haben davon, man muss nur genug Empathie und Offenheit mitbringen und sagen «Reden wir darüber, das ist ok.»

Daher würde ich mir wirklich wünschen, dass es eine Weiterbildung zum Thema Religion gäbe, die Fachkräften die Angst davor nimmt, denn ich glaube, sonst geht eine Ressource verloren. Religion ist eine Ressource, die sehr oft vorhanden ist bei Klient*innen, die wir jedoch extrem selten ansprechen.

Mehr erfahren

Rubrik: Forschung