Verkürzte Professionalität?! Religion und Spiritualität in der Beratung

Führt die Tabuisierung von Religion & Spiritualität zu einer verkürzten Professionalität, da sie für den Menschen Wesentliches ignoriert? Die explor. Studie befragt religiös offene Sozialarbeitende nach ihrer Praxis in der Sozialberatung

Steckbrief

Ausgangslage

Trotz Säkularisierung bezieht sich auch in der Schweiz ein Teil der Wohnbevölkerung in einer Weise auf Religion und Spiritualität, die von hochreligiös über diffus zu distanziert und ablehnend reicht. Für einige stellen Religion und Spiritualität dabei wichtige Ressourcen zum Verstehen und Bewältigen von Sinnfragen und Krisenerfahrungen dar. Das kann, so die forschungsleitende Annahme, gerade auch für Menschen, die zu Klient*innen der Sozialberatung werden, wichtig sein. (Unterstellte) Religiosität respektive Religionszugehörigkeit kann jedoch auch Grund für Diskriminierungs- und Abwertungserfahrungen sein oder dogmatische Religiosität zum Problem werden. Im Gegensatz zu Medizin und Pflege, wo im Namen von „spiritual care" Religiosität und Spiritualität Eingang in die Behandlung und Betreuung der Patient*innen gefunden haben, werden in der Sozialen Arbeit Spiritualität und Religion kaum aktiv mitgedacht oder in die Praxis einbezogen. Mehr noch: Das Verhältnis von Religion und Sozialarbeit ist geprägt von Tabuisierungen, Abwehr, Schweigen oder Desinteresse. Daher steht zu vermuten, dass das Einbeziehen von Religion und Spiritualität in der Sozialberatung vermieden und es so verunmöglicht wird, die Lebenswelt der Klient*innen „im Lebensganzen" zu erfassen. Das führt, so gilt es zu diskutieren, zu einer verkürzten Professionalität.

Vorgehen

​Die Studie hat vor allem explorativen Charakter, um Hypothesen über die Bedingungen zu entwickeln, in denen Religion und Spiritualität Thema in der Beratung werden. Es wurde ein kleines Sample von sieben Sozialarbeitenden in verschiedenen Sozialdiensten zur Frage untersucht: Wie gehen Sozialarbeitende, die sich als aufgeschlossen gegenüber Religion und Spiritualität verstehen, in der konkreten Beratungspraxis mit Religion und Spiritualität um? Die Interviewpartner*innen hatten alle den gleichen Auftrag – sozialarbeiterische Unterstützung von Menschen in (finanziellen) Krisensituationen durch Beratung und teilten alle ein Interesse am Thema Religion und Spiritualität. Sie unterschieden sich jedoch in ihrer institutionellen Verortung: kantonaler Sozialdienst, Sozialberatung im Fluchtkontext sowie Sozialdienst der reformierten Kirche. Die Interviewpartner*innen sollten das Thema ihrer Relevanzen und subjektiven Sinnstrukturen erörtern, im Nachfrageteil wurde die Thematik mit folgenden Fragen vertieft: Wie gestalten die Fachpersonen ihre Praxis, wenn religiöse oder existenzielle Themen auftreten? Wie finden sie eine Sprache für existenzielle Grenz-Erfahrungen? Was wird durch die (proklamierte) Offenheit der Fachpersonen ermöglicht? Was möglicherweise verhindert? Wo ziehen Fachpersonen Grenzen der Thematisierbarkeit und delegieren an andere Professionen? Wie erleben die Fachpersonen ihren institutionellen Kontext? Wie bilden sie sich aus und fort?

Ergebnisse

Die Analyse ergab zum einen verschiedene Umgangsweisen mit Religion und Spiritualität, die wir zu (vorläufigen) Typen verdichteten. Darüber hinaus kristallisierten sich die Bedingung für religionssensible, öffnende Beratung heraus. Sie erweist sich als Resultat des Zusammenspiels von Klient*innen, die das Thema andeuten, damit die Sozialarbeitenden es aufgreifen können, der Beratungsbeziehung und -gestaltung, in der die Themen, Erfahrungen, Zweifel und Fragen der Klient*innen im Hinblick auf Religion oder Spiritualität ernst genommen und Sinndeutungen u.U. auch kritisch diskutiert werden können, sowie der Haltung der Professionellen (ihrem Professionalitätsverständnis und ihren Emotionen gegenüber dem Thema Religion). Auffallend ist, dass einige Fachpersonen ihre religionspositive Haltung nicht als Gegensatz zu ihrer Professionalität als Sozialarbeiter*in begreifen, sondern als wesentlichen Teil davon, den sie beruflich und privat weiterentwickeln. Eine wesentliche Rolle spielen aber auch die institutionellen Bedingungen (Teamkultur, Ausrichtung und Auftrag der Institution), der öffentliche Diskurs zum Thema Religion sowie der Fachdiskurs Sozialer Arbeit (der – ausser in der Theorie – dem Thema Religion bislang eher skeptisch gegenübersteht). So befürchten alle Befragten, dass sie in eine „fromme Ecke" gedrängt werden, einige hindert das berufliche Umfeld nachhaltig an der Thematisierung von Religion und Spiritualität in die Beratung.

Ausblick

​Die formulierten Konturen einer religionssensiblen, öffnenden Beratung (siehe Schlussbericht) sollen dazu anregen, das Thema Religion und Spiritualität zu enttabuisieren und diese als relevante Dimension im Unterstützungsprozess der Sozialberatung zu begreifen.